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Im Rahmen der vielen Beiträge zu Geschichtsfälschungen in Archivalia - siehe http://archiv.twoday.net/stories/96987511/ - hatte ich mir unlängst vorgenommen, endlich einmal auch jene Fiktion vorzustellen, die mich schon seit den frühen 1990er Jahren beschäftigt hat: die 1918 erschienene "Goldschmiede-Chronik". Meine Fernleih-Bestellung der Rezension in der Deutschen Rundschau 1919 trägt den Datumsstempel 16. April 1993. Ich hatte mir - mit tatkräftiger Unterstützung von Frau Effinger in Heidelberg - den entlegen publizierten Aufsatz von Johann Michael Fritz (2008) und auch die unkritische Würdigung von Irmscher in der "Weltkunst" 1995 (S. 140f.) besorgt, ein einigermaßen günstiges Exemplar des Buchs erworben (es soll von der UB Heidelberg mit Genehmigung des Rechteinhabers digitalisiert werden) und Kontakt mit dem Enkel des "Herausgebers" Curt Rudolf Vincentz, Dr. Lothar Vincentz aufgenommen. Er bestätigte mir im April 2012 am Telefon, was ich schon bei der ersten Lektüre des Buchs wusste: Dass es sich nicht um eine authentische Quelle des 16. Jahrhunderts handelte. Merkwürdigerweise hätte das Interesse an dem Werk, erzählte er mir, in letzer Zeit zugenommen, während in den Jahrzehnten zuvor keine Anfragen dazu gekommen seien. Der Leiter von "Vincentz Network", Nachfolger der von seinem Großvater begründeten Fachverlage, übersandte mir liebenswürdigerweise sogar ein Exemplar des von mir bibliographisch ermittelten Buchs von Eberhard Meckel "Curt Rudolf Vincentz" (1954) als Leihgabe. Aus den bislang nicht beachteten Passagen dieser seltenen Schrift ergab sich eindeutig der fiktionale Charakter der sich als Werk des 16. Jahrhunderts ausgebenden "Chronik".

So standen die Dinge, als mir Karen Lambrecht, mit der ich vor allem in Sachen Hexenforschung früher freundschaftlichen Kontakt pflog, am 5. Juli ihren Aufsatz zur Goldschmiedechronik zusandte. Ich hatte am Rand von Hohenheimer Tagungen und auch im Gespräch mit ihr vor längerer Zeit die Authentizität der oft benutzten Quelle bestritten und auch von der Absicht der Veröffentlichung meiner Einsichten gesprochen. Ich war "not amused", dass mir Lambrechts Publikation in die Quere kam und dass die Autorin auch vor Abgabe ihres Beitrags keinen Kontakt mehr mit mir aufgenommen hatte. Lambrecht erweckt den Eindruck, als hätte sie allein die Fiktion aufgedeckt, obwohl ich sie doch im damaligen Gespräch (nach meiner Erinnerung ) auf den Casus und die Fiktion deutlich aufmerksam gemacht hatte. Ich kenne sie seit mindestens 1993 und bin mir ziemlich sicher, dass unsere Gespräche schon in den 1990er Jahren stattgefunden haben, während Lambrecht noch in ihrem Beitrag "Communicating Europe" in: German History 20 (2002), S. 18 Anm. 78 die Goldschmiede-Chronik ohne jegliche kritische Distanz als authentische Quelle zitiert!

Ich habe es satt, die kleinen Unredlichkeiten des Wissenschaftsbetriebs zu schlucken, auch wenn Lambrecht nun vorgibt, sich nicht an eine Publikationsabsicht meinerseits erinnern zu können. Ich weiß nur, dass ich an ihrer Stelle im Zweifel nicht den Eindruck erweckt hätte, allein die Quelle entlarvt zu haben, wenn Jahre zuvor in Gesprächen dieses Ergebnis bereits auch von anderer Seite kommuniziert worden war. Sie hätte mit mir nochmals Kontakt aufnehmen müssen, um die Sachlage abzuklären und ggf. Einsichten auszutauschen. Alles andere erscheint mir höchst unfair.

Karen Lambrecht: Dichtung und Wahrheit. Zum Verfasser der Goldschmiede-Chronik Curt Rudolf Vincentz (1867-1945). In: Schlesische Gelehrtenrepublik (2012), S. 269-280 ist ein klarer Fortschritt in der Beschäftigung mit der Goldschmiedechronik, wenngleich ihr die mir auch erst seit kurzem bekannte etwas frühere Stellungnahme des ehemals Heidelberger Kunsthistorikers Fritz entgangen ist. Sie schildert den skandalösen unkritischen Gebrauch der Quelle durch die moderne Selbstzeugnis-Forschung und kann erstmals das Meckel-Buch als Schlüsseltext für die Entstehung des Buchs heranziehen. Sie zollt am Schluss dem Autor Vincentz als Geschichtenerzähler Respekt, schreibt aber (und dem ist ohne Wenn und Aber beizupflichten), dass sein Werk nicht länger als geschichtswissenschaftliche Quelle der Selbstzeugnisforschung genutzt werden kann.

Der kurze Aufsatz von Johann Michael Fritzl: Eine historische Quelle zu den Breslauer Goldschmieden des 16. Jahrhunderts? In: Biuletyn historii sztuki 70 (2008), S. 303-305 bringt von seinem Publikationsort alle Voraussetzungen mit, hierzulande übersehen zu werden. Fritz kennt das Buch von Meckel nicht und erzählt aus Anlass der Verwendung der Goldschmiede-Chronik durch eine polnische Kunsthistorikerin von seiner eigenen Begegnung mit dem Text, die ihn zu dem Schluss führte, auf diese - wenn sie echt wäre - "sensationelle" Quelle in eigenen Publikationen zu verzichten. Er stellt fest, dass die maßgebliche Studie zu den Breslauer Goldschmieden von Hintze 1906 in der Chronik verwertet ist und diese daher "eine lokalpatriotische historisierende Erfindung" ist, die sich durch die altertümelnde Sprache als Original ausgibt (S. 304f.).

Fritz sagt, dass in dem Buch eine Verlagsangabe fehle und auch kein Herausgeber genannt sei. Das kann durchaus sein, auch wenn die mir zugänglichen Exemplare beides nennen. Es hat offensichtlich mehrere Druckvarianten gegeben. Ich habe mir nicht notiert, in welcher Bibliothek bzw. aus welchem Fernleihexemplar ich mir seinerzeit einige Kopien aus dem Buch gemacht habe, aber das Titelblatt des kopierten Buchs weist eine andere Gestaltung (nämlich ein Holzschnitt-Ornament unterhalb des Titels) auf als das in meinem Eigentum befindliche Exemplar mit Verlagsangabe und Datum auf dem Titelblatt:

Die Goldschmiede-Chronik.

Die Erlebnisse
der ehrbaren Goldschmiede-Ältesten
Martin und Wolfgang, auch Mag.
Peters Vincentz.

Verlag der Deutschen Bauhütte
Hannover
1918


Lambrecht stellt zurecht heraus, dass die Aufnahme von Textauszügen in Wolfram Fischers einflussreiche Quellensammlung zur Geschichte des deutschen Handwerks (1957, S. 30-55) die Rezeption der Chronik als historische Quelle erheblich befördert hat. Sie sei in der Entstehung undurchsichtig, schrieb Fischer (S. 11) und konzedierte, dass sie ohne Zweifel von ihrem Herausgeber Curt Rudolf Vincentz bearbeitet worden sei. Doch spräche "eine starke innere Wahrscheinlichkeit für die grundsätzliche Echtheit der Quelle" (S. 23). In der Fußnote dankt Fischer nicht weniger als 13 namentlich genannten Gewährsleuten (überwiegend mit Doktortitel), die ihm geholfen hätten, der Herkunft der Quelle auf die Spur zu kommen. Nun gab es damals noch nicht das Internet und die Wikipedia, mit der man blitzschnell zur heutigen Firma Vincentz gelangt, aber auch in den 1950er Jahren wäre es doch ohne weiteres möglich gewesen, den weiterbestehenden Verlag zu ermitteln und dort nachzufragen.

Dass es Vincentz, auf dessen universale Bildung und vielseitige Interessen ich nicht eingehen kann (und der auch bei Lambrecht etwas zu kurz kommt), von Anfang an gelungen ist, seine Autorschaft zu verschleiern, zeigt bereits die kurze Anzeige in der Deutschen Rundschau vom Dezember 1919, S. 473, die ich komplett wiedergebe: "In unruhige Zeit, wenn auch eine entlegene, führt die 'Goldschmiede-Chronik', die von den Erlebnissen der ehrbaren Goldschmiedeältesten Martin und Wolfgang, auch Mag. Peters Vinzent kündet (Deutsche Bauhütte, Hannover). Sie umfaßt die Jahre 1480 bis 1586 und handelt von den Freuden und Leiden, dem Stolz und der Not deutschen Handwerks im Kampf gegen Polen und Pest. Hier ist ein Dokument, das kulturhistorisch und auch national von besonderem Wert ist".

Auf ideologische Aspekte des Buchs geht Lambrecht nicht ein. Mir fielen Passagen über die Juden (vor allem S. 301-305) auf, die auf antisemitische Diskurse der Entstehungszeit zurückgehen könnten. Immerhin ist die berüchtigte "Laichinger Hungerchronik" (publiziert 1913/17) etwa zur gleichen Zeit aus antisemitischem Affekt gefälscht worden:

http://de.wikipedia.org/wiki/Laichinger_Hungerchronik (mit weiteren Nachweisen)

Zu den literarischen Vorlagen von Vincentz könnte die durch ihre farbigen Schilderungen und die eingemischten Schwänke heute noch faszinierende Zimmerische Chronik gehört haben. Auch die Goldschmiede-Chronik mischt gern schwankhafte Erzählungen ein. Auf jeden Fall hat sich das heute noch durchaus lesbare Buch von Vincentz - schon allein wegen seiner Rezeption, siehe unten - weitere interpretatorische Bemühungen verdient.

Lambrecht meint, das Buch vermittle durchaus den Eindruck einer authentischen Quelle und es erfordere schon genaues Hinsehen, um die Fiktion zu erkennen (S. 279). Der Ansicht bin ich nicht. Wer auch nur ein wenig quellenkritisches Gespür und kritischen Geist hat, sollte eigentlich schon sehr rasch merken (wie ich das bei der ersten Lektüre getan habe), dass einfach alles zu gut passt, dass die Protagonisten bei zu vielen wichtigen Ereignissen dabei waren. Aber Lambrecht ist ja früher selbst auf die Quelle hereingefallen und mit ihr ganz viele andere, auch renommierte Historiker.

Lambrechts Nachweise der Benutzung in der modernen Geschichtswissenschaft als authentische Quelle (Kaspar von Greyerz, Axel Gotthard u.a.m.) lassen sich mit Google Book Search ohne Mühe vermehren:

Katharina Simon-Murscheid: Die Dinge im Schnittpunkt sozialer Beziehungsnetze (2004), im Literaturverzeichnis

Knut Schulz, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1996, S. 74 Anm. 24: ein im Kern echter Wanderbericht

Jürgen Kuczynski (1980) usw. usf.

https://www.google.de/search?q=goldschmiedechronik&tbm=bks
https://www.google.de/search?q="goldschmiede-chronik"&tbm=bks

Sehr selten sind distanzierende Hinweise:

Rudolf Holbach, in: Kredit im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa (1991), S. 136 Anm. 15: "in der freilich reichlich dubiosen Goldschmiede-Chronik"

Walther Karl Zülch: Frankfurter Künstler (1935), S. 342: "vermutlich unechte, aber viele historische Tatsachen enthaltende"

Sehr viele Historikerinnen und Historiker (auch solche aus der ersten Reihe) sind Vincentz auf den Leim gegangen und haben eine fiktive Schrift unkritisch als authentische Quelle verwertet, da sie einfach zu schönen und einzigartigen Stoff bot. Zweifel, die sich schon aufgrund der Präsentationsform des Ganzen aufdrängen mussten, wurden kaum artikuliert. Niemand hat offenbar beim Verlag recherchiert, wo man ihm wohl freimütig das mitgeteilt hätte, was ich am Telefon erfuhr und was in Meckels Buch von 1954 (das auch in einigen wissenschaftlichen Bibliotheken steht) gedruckt zu lesen war, dass es sich bei der Goldschmiedechronik um ein Resultat der überbordenden historischen Phantasie des Curt Rudolf Vincentz handelt. Das alles wirft kein gutes Licht auf die Praxis der Geschichtswissenschaft.

Nachtrag August 2012: Das Buch von Vincentz ist online
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/vincentz1918

#forschung

vincentz_oelbild Ölgemälde von Curt R. Vincentz (aus dem Buch von Meckel)

Titelblatt (von mir vor längerem kopiert)
 

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