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Mein Beitrag soeben in INETBIB:

Hofbibliothek Donaueschingen, Nordelbische
Kirchenbibliothek, Kapuzinerbibliothek Eichstaett - seit
vielen Jahren kaempfe ich fuer den Schutz historischer
Buchsammlungen. Der jetzt bekannt gewordene Verkauf der
traditionsreichen Bibliothek des Stralsunder Gymnasiums im
Stadtarchiv Stralsund steht fuer mich auf einer Stufe mit
den genannten Katastrophen.

Wie man sich im Handbuch der historischen Buchbestaende
unschwer ueberzeugen kann, ist die 1937 begruendete
Archivbibliothek in Stralsund als Nachfolgerin der
Ratsbibliothek eine der bedeutenden Altbestandsbibliotheken
in Mecklenburg-Vorpommern. 1995 betrug der Buchbestand ca.
100.000 Baende, davon etwa 75 Prozent Altbestand. Die
gesondert aufgestellte Gymnasialbibliothek kam 1945 in die
Archivbibliothek:

http://fabian.sub.uni-goettingen.de/?Archivbibliothek_Stralsund

Hervorheben moechte ich nur die schon im 16. Jahrhundert
angekaufte Bibliothek (mit zahlreichen Randbemerkungen und
Eintragungen) des neulateinischen Dichters Zacharias Orth,
die der Gymnasialbibliothek ueberwiesen worden war, die
schon fuer sich genommen als ein schuetzenswertes
Kulturdenkmal gelten kann. Die Gymnasialbibliothek erhielt
im Lauf der Zeit sehr viele Schenkungen, die ihren
wertvollen Bestand vermehrten.

Bis jetzt kann ich es kaum glauben, was auf meine Anfrage
hin die Stadt Stralsund mir heute mitteilte:

"Sehr geehrter Herr Dr. Graf,
wir bedanken uns für Ihr Interesse an unserem Archivgut und
sehen es wohlwollend, dass Sie auch über unser Stadtarchiv
etwas auf Ihrem Portal veröffentlichen wollen. Das
unterstreicht einmal mehr, dass Sie dem Stadtarchiv
Stralsund Bedeutung beimessen.
Bestätigen können wir Ihnen deshalb, dass ein Antiquar die
bisher im Stadtarchiv Stralsund befindliche
Gymnasialbibliothek angekauft hat. Darüber hinaus können
wir jedoch keine weiteren Informationen geben, da es sich
hierbei um schutzwürdige Interessen handelt. Deshalb wurde
dem Verkauf durch ein Gremium der Bürgerschaft im
nichtöffentlichen Teil der entsprechenden Sitzung
zugestimmt.

Mit freundlichen Grüßen

Koslik
Pressesprecher"

Wie ich unter http://archiv.twoday.net/stories/197331450/
ausgefehrt habe, ist der Verkauf rechtswidrig, denn er
verstoesst gegen die Satzung des Stadtarchivs Stralsund von
2002, die das Archiv- und Bibliotheksgut des Stadtarchivs
zum unveraeusserlichen Kulturgut erklaert hat.

Ich hatte schon letzte Woche bei der Landesbibliothek in
Schwerin angefragt und von deren Leiter Dr. Frank Pille die
Auskunft erhalten, dass weder sein Rara-Referent Dr. Roloff
noch er etwas von dem Verkauf gewusst haben. Heute konnte
ich kurz mit den Leitern der Universitaetsbibliotheken
Greifswald und Rostock telefonieren, die beide Gleiches
versicherten.

Dr. Wolff von der UB Greifswald erklaerte, seine Bibliothek
sehe sich in der Verantwortung fuer Pomeranica und
versuche, das regionale historische Bibliotheksgut zu
sichern. Haette sich die Stadt Stralsund an die
Universitaet gewandt, haette man gemeinsam nach einer
anderen Loesung suchen koennen.

Als ich in der Mailingliste Provenienz eine Meldung ueber
Diebstaehle aus Arolsen und anderen Bibliotheken als
Aufhaenger nutzte, um auf den Stralsunder Casus
hinzuweisen, schrieb mir der Bielefelder Germanist Prof.
Dr. Ulrich Seelbach (zitiert mit Genehmigung): "der
Diebstahl einzelner Bücher kann ja doch letztlich
rückgängig gemacht werden - eine Zerschlagung der
historisch gewachsenenen städtischen Bibliothek aber wohl
kaum, denn hier handelt der Rechte-Inhaber. Ich habe
einen Brief an den Oberbürgermeister geschrieben und hoffe,
dass andere mit persönlichen Briefen und öffentlichen
Aufrufen dasselbe tun werden: dieses Auseinanderreißen
historisch gewachsener Bibliotheken an den Pranger zu
stellen."

Felicitas Noeke, die Betreuerin einer der kostbarsten
deutschen Gymnasialbibliotheken, des Christianeums in
Hamburg, ist empoert: "Historische Gymnasialbibliotheken
sind weitestgehend ungeschützt insofern, als sie "vor Ort"
nur selten als identitätsstiftende Sammlungen von
unschätzbarem bildungsgeschichtlichen und damit auch
landeshistorischem Wert erkannt werden. In Archiven und
Bibliotheken einer Region verwahrt, sind sie, so lese ich
die oben zitierte offizielle Mail eines Pressereferenten,
als Kulturgut der öffentlichen Hand sogar nunmehr dem
Verscherbeln durch örtliche "Gremien" nach
"nichtöffentlichen" Beschlüssen einwandfrei freigegeben?

In diesem Fall möchte ich hier öffentlich aufs Schärfste
protestieren gegen derlei unverantwortlichen Umgang mit
Bibliotheksgut einer im 16. Jahrhundert gegründeten
Lehranstalt!"
http://archiv.twoday.net/stories/197331274/ (Kommentar)

Der Heidelberger Professor Dr. Wilhelm Kühlmann, einer der
renommiertesten Frühneuzeit-Forscher, der selbst über
Zacharias Orth gearbeitet hat, ist ebenfalls befremdet über
die Nachrichten aus der traditionsreichen Hansestadt: "Ohne
eine vorherige gründliche wissenschaftliche Prüfung und
Dokumentation des wertvollen historischen Bestands sollte
nichts verkauft werden".

Vor allem als Archivar schaeme ich mich fuer das Vorgehen
der Greifswalder [Stralsunder] Kollegen, die trotz aller finanziellen
Zwaenge alles haetten tun muessen, um das
Provenienzprinzip, den Respekt vor den historischen
Herkunftsgemeinschaften, auch dann hochzuhalten, wenn es
um historische Buchbestaende geht, die als Ganzes und auch
in Teilen ebenso Unikat-Charakter haben wie
handschriftliches Archivgut. Sie haetten einen so krassen
Verstoss gegen die eigene Archivsatzung nie zulassen
duerfen. Eine archivfachliche Diskussion im Landesverband
MV des Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare e.V.
(VdA) hat es jedenfalls nicht gegeben, denn der Vorsitzende
Dr. Kasten vom Stadtarchiv Schwerin wusste letzte Woche
nichts von den Verkaeufen und dachte an die ueblichen
Dublettenverkaeufe bei vergleichsweise jungen
Standardwerken. Der Vorsitzende des VdA, Dr. Diefenbacher
vom Stadtarchiv Nuernberg, war heute nicht fuer eine
Stellungnahme zu erreichen.

Natuerlich ist es ein Unding, dass man die
wissenschaftliche Rekonstruktion der Gymnasialbibliothek
dadurch behindert, dass man nichts Naeheres ueber den
Verkauf und vor allem den Kaeufer bekanntgibt.

Die Ostsee-Zeitung ist informiert, ich werde am Ball
bleiben und bin natuerlich fuer oeffentlich zitierbare
Aeusserungen von wichtigeren Wissenschaftlern als ich es
bin dankbar. Ich werde in dem Weblog Archivalia

http://archiv.twoday.net

laufend berichten. Es kann und darf nicht sein, dass
Kommunen nun ungestraft ihr historisches Kulturgut
verscherbeln!


Nachtrag: Das Antiquariat Peter Hassold in Dinkelscherben bietet Bücher aus der Gymnasialbibliothek Stralsund an, z.B.

https://www.abebooks.de/servlet/BookDetailsPL?bi=8603394176&searchurl=bsi%3D330%26sortby%3D1%26vci%3D4323596
Kassationswütige (Gast) meinte am 2012/10/30 20:23:
Greifswalder?
Lieber Herr Graf,

da ist Ihnen wohl beim Jonglieren mit den vielen Städten ein Fehler unterlaufen: "Vor allem als Archivar schaeme ich mich fuer das Vorgehen der Greifswalder Kollegen..."
Sie meinen doch sicherlich die Stralsunder KollegInnen?!? 
KlausGraf antwortete am 2012/10/30 20:42:
Sorry, ja
FeliNo meinte am 2012/10/31 02:28:
Eine Bibliothek wird geplündert
Die Sortierung "neu gelistete Bücher" des o.g. Anbieters bei abebooks liefert Aberhunderte von Stücken mit Stempel "Bibliothek des Gymnasiums zu Stralsund" nebst dem Ausgangsstempel "Als Eigentum des Stadtarchivs Stralsund gelöscht", manchmal fehlt der Ausgangsstempel auch. Hier wurde der gesamte Bestand der Bibliothek dem Handel überlassen. Ob der o.g. "Antiquar", dessen Adresse Google maps als ein Eigenheim am Waldrand in einem Flecken zwischen Augsburg und Günzburg identifiziert, allerdings alles bekommen hat, ist fraglich; vermutlich wurde vorher noch mal vom Edelhandel durchgeflöht. Ich habe einen solchen Verkauf noch nie gesehen. Das ist ein GAU: Stralsunds Girolamini, das Neapel am Sund...?

https://www.abebooks.de/servlet/SearchResults?bsi=0&sortby=0&vci=4323596&prevpage=2 
 

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