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Mir wurde freundlicherweise erlaubt, den Text des folgenden Schreibens hier zu veröffentlichen.

ARBEITSGRUPPE HANDSCHRIFTEN DES BBS
(BBS, Verband der Bibliotheken und der
Bibliothekarinnen/Bibliothekare der Schweiz)

p. adr.: Dr. Martin Germann, Burgerbibliothek Bern, Münstergasse 63, Postfach, CH-3000 Bern 8 (derzeit Präsident)

27. September 2006

Herrn Ministerpräsident
des Landes Baden-Württemberg
Herrn Günther H. Oettinger
Villa Reitzenstein
Richard-Wagner-Straße
D-70184 Stuttgart

Betrifft Abgabe von Kulturgut an Zahlungsstatt durch das Land Baden-Württemberg an die Fürstenfamilie Baden

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
in der Welt der Gelehrsamkeit, die Ihnen fern liegen dürfte, ist ein Sturm der Entrüstung ausgebrochen, als gestern Abend bekannt wurde, dass das Land Baden-Württemberg beabsichtigt, einen großen Teil des Handschriftenbestandes der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe an Zahlungsstatt an die Fürstenfamilie Baden abzutreten, welche diese Bücherschätze an einer Auktion dem Meistbietenden versteigern wolle.
Ein Blick in das Nachschlagewerk „Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters“ zeigt, dass in der badischen Landesbibliothek Karlsruhe nicht nur ein großer Teil der berühmten Handschriften des Klosters Reichenau liegen, sondern Handschriften aus dem ganzen mittelalterlichen Deutschland:
• aus karolingischen und hochmittelalterlichen Klöstern wie Alpirsbach, Alsbach, Blaubeuren, Ettenheimmünster, Fulda, Günterstal, Herrenalb, Hirsau, Lorsch, Sankt Blasien, Schuttern, Schwarzach, Tennenbach, Villingen, Wiblingen, Zwiefalten und anderen;
• aus den Reichsstädten Augsburg, Nürnberg, Ulm und ihren Klöstern;
• aus Bischofsstädten Bamberg, Erfurt, Konstanz, Speyer, Würzburg;
• aus weiteren Städten wie Baden-Baden, Braunschweig, Freiburg, Hannover, Heidelberg, Offenburg, Pforzheim.
Einen besonderen Erklärungsnotstand haben Sie zu Orten, die heute im Ausland liegen: Colmar, Straßburg und Weißenburg im Elsass: Wie Sie wissen, ist im Deutsch-französischen Krieg 1870 das Archiv und die Bibliothek von Straßburg durch deutschen Beschuss verbrannt. Damals sind tausende mittelalterliche Handschriften und Dokumente, darunter bestimmt auch Vorstufen der Buchdruckerkunst aus den dortigen Versuchen des Johannes Gutenberg, restlos untergegangen: Muss das Elsaß seine restlichen Handschriften, die bis jetzt in Karlsruhe öffentlich zugänglich waren, in Zukunft in Malibu Kalifornien, in der vatikanischen Bibliothek und in Stockholm besichtigen? Oder verschwinden die Handschriften gar in einem Tresor einer Bank, da in Privatbesitz?
Ein weiterer, unheilbarer Aderlass süddeutschen Kulturgutes hat vor einigen Jahren stattgefunden, als die fürstlich fürstenbergische Familienbibliothek Donaueschingen verkauft worden ist: Handschriften, Inkunabeln und andere wertvolle alte Drucke sind in alle Winde, auch in die Schweiz (wo sie hoffentlich nie ein ähnliches Schicksal erreichen wird), zerstreut worden.
Bisher standen in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe die Handschriften als Kulturgut der Forschung zur Verfügung, in einer gut organisierten und mit Katalogen gut dokumentierten öffentlichen Institution, während Jahrzehnten betreut von öffentlich besoldeten Fachleuten; die Kataloge, die nun zu Makulatur würden, wurden in jahrelanger Arbeit mit öffentlichen und privaten Geldern wie der VW-Stiftung hergestellt. In Ausstellungen und Publikationen wurden die Werke des Mittelalters einer immer wieder begeisterten Öffentlichkeit vorgestellt. Jedermann weiß, dass eine Auktion diese Bücherschätze in die ganze Welt zerstreuen wird und dass die Bücher mit keinem Geld und nie mehr zurückgeholt werden können.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident: denken Sie an all die Kriege, an die Bücherverluste im Dreißigjährigen Krieg und seither in den beiden Weltkriegen und fragen Sie sich, ob Mitteleuropa weitere Verluste verkraften kann, mutwillig verursacht durch eine Regierung, welche lieber das Geld behält als die historischen Kulturgüter?
Können Sie persönlich einen solch barbarischen Akt der Zerstreuung wertvollsten Kulturgutes auf sich und auf Ihren Namen nehmen? In der kultur- und geschichtsbewussten Öffentlichkeit, die es nach wie vor noch gibt, wie wir Fachleute aus täglicher Erfahrung wissen, wird nach der Realisierung Ihrer skandalösen Pläne die Schande Ihrer Regierung und Ihrem Namen für immer anhaften.

Mit freundlichen Grüßen,

Im Namen der
ARBEITSGRUPPE HANDSCHRIFTEN DES BBS
(BBS, Verband der Bibliotheken und der Bibliothekarinnen / Bibliothekare der Schweiz)

sig. Dr. Martin Germann, Burgerbibliothek Bern, Präsident
sig. Prof. Dr. Christoph Eggenberger, Zentralbibliothek Zürich
sig. Prof. Dr. Ernst Tremp, Stiftsbibliothekar, Stiftsbibliothek St. Gallen

Kopien an die Badische Landesbibliothek Karlsruhe sowie an das Institut de recherche et d’histoire des textes (IRHT), Paris
 

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