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[...] Die Geschichte des Archivs ist die Geschichte der menschlichen Gedächtnissysteme und ihrer fragilen Materialien, von den Tontafeln der Sumerer bis heute. Als solche ist sie eine Geschichte des Bewahrens - und ein Verzeichnis von Katastrophen. Hinter jedem Bibliotheksbrand erhebt sich der Schatten von Alexandria. Am Beginn des modernen französischen Archivwesens steht der Verlust der Reisekanzlei Philipp Augusts in der Schlacht von Frétéval im Jahr 1194. Aber das Archiv hütet auch die Glut des Krieges und lässt sie Jahrzehnte später unerwartet wieder aufflackern. Neue, unerhörte Enthüllungen schienen bevorzustehen, als kürzlich der amerikanische Geheimdienst die "Rosenholz-Dateien" mit den Namen der Westagenten des Ministeriums für Staatssicherheit freigab. Daraus ist nichts geworden. Aber ein gelehrtes Werk wie das "Germanistenlexikon" war dazu angetan, bedeutende Nachkriegskarrieren nachträglich in Zwielicht zu tauchen. Bald sechzig Jahre nach dem Krieg wurde die Mitgliederkartei der NSDAP zu einem fatalen Orakel.

Dass diese Zentralkartei, das Hauptstück des Berliner Document Center, erhalten blieb und den Alliierten in die Hände fiel, verdankt sich nur einer Serie von Zufällen. Offenbar hat der Besitzer der Papiermühle Wirth in MünchenFreimann den Vernichtungsbefehl der NSDAP-Reichsleitung vom April 1945 ignoriert und es vorgezogen, die Existenz der gut acht Millionen Mitgliedskarten dem amerikanischen Stadtkommandanten von München anzuzeigen. Aber der Hinweis blieb beim Counter Intelligence Corps der 7. Armee hängen. Wochen und Monate gingen ins Land, es wurde September, bevor den Stäben zu dämmern begann, dass sie da ein Zentraldokument des Dritten Reiches vor sich hinschimmeln ließen. Im Januar 1946 wurden die fünfzig Tonnen Karten ins Document Center nach Berlin gebracht.

Die am Deutschen Historischen Institut in Washington forschende Historikerin Astrid Eckert hat diese Anekdote aus der unmittelbaren Nachkriegszeit überliefert. Es ist eine Welt wie aus Zettels Albtraum. Eckerts Studie über die Jagd der Alliierten auf die Akten des Dritten Reichs und ihre späte Rückkehr ("Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg", soeben im Verlag Franz Steiner erschienen) straft alle romantischen Vorstellungen vom stillen Leben der Archive Lügen. Bei diesem Rennen machten sich auch die Alliierten untereinander Konkurrenz. Ganze Jagdpartien von Nachrichtendienstlern und Archivaren kreuzten durchs eroberte Deutschland: "Um manche Zielobjekte setzte ein wahrer Wettlauf ein, und die Trophäe selbst wurde um den Preis ernster diplomatischer Verwicklungen eifersüchtig gehütet."

Nachdem Präsident Roosevelt, um die Stimmung der Truppe zu heben, Ende August 1944 zugelassen hatte, dass Angehörige der Armee Trophäen sammeln durften, gab es kein Halten mehr: Das Sammelfieber erfasste die Armee, vom ersten bis zum letzten Mann. Ein Exemplar der Nürnberger Gesetze mit den Originalunterschriften, unter anderem von Hitler und Frick, gelangte über mehrere Stationen endlich in die Tasche von General Patton. Der verschenkte es bei einem Besuch in Kalifornien an die Huntington Library in San Marino, weil er mit der Familie des Mäzens Henry Huntington befreundet war.

Die Historie der Archive ist erfüllt von solchen Anekdoten, die einen sind kurios, die anderen grausam, und manche sind einfach nur banal. Und dann gibt es noch die Geschichten von den deutschen Archivalien, Künstlernachlässen und Gelehrtenpapieren, die weiterhin in die Vereinigten Staaten abwandern, weil hierzulande die Wertschätzung (und konsequenterweise auch das Geld) fehlt für solche unersetzlichen Grundlagen wissenschaftlicher Arbeit. Das sind die traurigen Geschichten.

Ulrich Raulff in der SZ vom 25.9.2004
 

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