Gestern ging die Jahrestagung 2014 des VdW zu Ende. Sie fand statt in den Räumen des DB-Museums (einigen noch als "Verkehrsmuseum" bekannt) in Nürnberg. Den Abschluß bildeten die wie immer sehr interessanten Fachexkursionen die der Tagungsort so bietet. Ich schloß mich einer Führung durch die Bibliothek, das Archiv und die Depots des DB-Museums an. Eine gute Wahl, denn die sehr engagierte Führung von Dr. Rainer Mertens und seiner Fachkollegen war wirklich so aufschlußreich wie kurzweilig.
Im DB-Museum befindet sich neuerdings auch das Kibala - das Kinderbahnland, ein Ort, an dem die kleinen Rabauken spielerisch mit Eisenbahngeschichte in Kontakt kommen können. Dort erfuhren wir, daß es dem Kibala zu verdanken sei, daß sich die Besucherzahl um >40% auf über 200.000 Besucher/Jahr erhöht habe ... und dann fiel ein Satz, der mich sehr zum grübeln brachte ... und daß es mit dem Kibala erfreulicherweise auch gelungen sei, nun deutlich mehr Migranten für das Museum zu interessieren.
Dieser Satz blieb nicht zuletzt deshalb in mir haften, weil mir erst kürzlich beim Besuch der "Kinderuni" (an der Aalener Fachhochschule) mit meinen beiden "Großen" so sehr aufgefallen war, daß dort (von Asiaten abgesehen) der Migrantenanteil unter den Nachwuchsforschern nicht dem der Kinder im gesellschaftlichen Durchschnitt entsprach – gelinde gesagt.
Wenn ich nun den Gegenstand unser Gespräche und Tagungen in den letzten Jahren betrachte, dann stelle ich fest, daß wir leidenschaftlich darüber debattieren, welche digitalen Erhaltungsstrategien existieren, welche Schnittstellen und Portale entwickelt wurden, welches Digitalisierungsprojekt die DFG gerade fördert, ja sogar ob Archive in Facebook präsent sein sollen oder nicht. Wir geben alten Dingen neue Namen. Wir reden über Ingest, Steakholder und Überlieferungskultur. Wir verwenden den DFG-Viewer, Gobi, Typo3 und interessieren uns für PDF/A, dpi, tiff, Farbmanagement, Optimierung hier, Perfektionierung dort ...
Ganz ehrlich, in der letzten Nacht hat mich ein Damoklesschwert an der Stirn gekratzt. Ich glaube, nein ich fürchte, in vielleicht 15 oder spätestens 25 Jahren wird der Gegenstand unserer Reden wieder viel existenzieller sein. Das "wie" könnte an Bedeutung verlieren und zunehmend das "ob" Gegenstand unserer Klagen werden.
Denn was passiert eigentlich mit den von uns so aufwendig präparierten, konservierten, digitalisierten, verzeichneten und präsentierten Sammlungen, wenn schlichtweg keiner mehr da ist, der sich dafür interessiert?
Ich denke, ich brauche hier keine Zahlen und Prognosen zum demographischen Wandel zitieren, die müßten allen hinlänglich bekannt, wenn auch nur widerwillig bewußt sein.
Ich könnte mir vorstellen, daß wir schon eine Generation später auf Tagungen davon zu hören bekommen, wenn schon wieder ein Vereinsarchiv oder ein kleines Stadtarchiv seinen Betrieb erst reduziert und dann eingestellt hat. Und zwar nicht nur aus Geldmangel, so wie heute, sondern schlicht aus Mangel an Interesse.
Wie entsteht denn ein lebendiges Interesse für die eigene Tradition und Kultur? Spontan würde ich in meinem Fall sagen, es waren die Ausführungen unseres Sachkundelehrers in der Grundschule, der uns beim Wandertag durch den Wald erklärte, was in jener Schlucht zur Zeit des 30jährigen Krieges geschehen war. Oder es waren die zugewachsenen Spuren einer alten stillgelegten Bahnlinie, die ich als Bub mit Entdeckerfieber abgeradelt bin. Und dann waren es Asterix und die allgegenwärtigen Römerspuren in meiner Schwäbischen Heimat, die mich als Jungen dazu verleitet hatten, in jedem Hügel entweder ein Keltengrab oder einen Mauerrest zu vermuten. Und es gab so viele Erlebnisse mehr, die Identität stifteten und mir das Gefühl für meine Kultur und Tradition vermittelten.
Schaue ich heute auf die Kinder – auch die eigenen – dann muß ich sagen, mache ich mir richtig Sorgen um unsere Lebensaufgaben, die doch zuvorderst von Interesse und Enthusiasmus leben. Zum einen haben wir viel zu wenige Kinder (in meinem Fall nur 3, und das ist heute sogar viel – und momentan sind diese ohnehin eher am Kaputtmachen als am Bewahren interessiert). Und zum anderen stelle ich fest, daß die Kinder auch gar nicht mehr die Interessen entwickeln, die sie haben müssten um ähnlich große Lust an der eigenen Tradition auszubilden. Wie auch? Entweder haben selbst die Kinder einen Terminkalender wie ein Außenminister – oder in "bildungsfernen" (böses Wort, ich habs nicht erfunden) Familien lungern (auch böses Wort, Entschuldigung, aber danach sieht das halt einfach aus) die Kinder irgendwo herum, bestenfalls auf dem Spielplatz. Sie erkunden jedenfalls nicht ihre Heimat; weder mit dem Fahrrad, noch in Büchern. Und die Schule? Von dort kommt gar nichts. Wandertage verdienen diesen Namen eigentlich nicht. Gelaufen wird bestenfalls zum Bahnhof oder zur Bushaltestelle. Oder es wird ein elterlicher Fahrdienst organisiert. Und das Ziel des Wandertages? Wieder bestenfalls ein Spielplatz, ein Landesgartenschaugelände. Heimatkunde???? Was war das noch gleich? Ach das ist doch das, was die Ewiggestrigen betreiben. Nicht hilfreich. Oder?
Tatsache ist doch, daß dort wo nicht die Eltern ganz bewußt kulturelles Interesse säen, die Kinder keine Chance mehr haben, überhaupt damit in Berührung zu kommen. Und daß Zuwanderer ihren Kindern ganz selbstverständlich ihre eigene Tradition vermitteln, also jene die sie kennen, ist ihnen doch kaum zu verübeln und sehr naheliegend.
Und in dem Maße, in dem unsere eigene Tradition in Vergessenheit gerät oder manchmal sogar bewußt verdrängt wird, wird es in der mittelfristigen Zukunft immer schwerer werden, für den Erhalt von Sammlungen Interessenten zu finden, geschweige denn Geldgeber.
Vielleicht wird ein kunsthistorisches Interesse für einzelne Objekte wenigstens Teile von Sammlungen am Leben erhalten.
Vielleicht wird es Strategien geben, Sammlungen wenigstens als virtuelle Sammlungen digital zu erhalten, sofern es finanziert wird.
Aber ich prophezeie: Wir werden in Zukunft öfter davon hören, daß ein Archiv einfach aufgegeben, schlicht verlassen wurde. Und wir werden es machtlos zur Kenntnis nehmen.
Darüber diskutiert worden ist meines Wissens bisher noch nie. Vielleicht sollten wir darüber nachzudenken beginnen, was wir tun müssten um dieser drohenden Entwicklung etwas entgegenzuwirken! Wie motivieren wir eine Jugend, deren Großeltern beispielsweise in Anatolien geboren wurden, sich für mittelalterliche Urkunden christlicher Klöster zu interessieren? Wie motivieren wir Kinder, die zwar schon mit 2,5 Jahren einen Tablet-PC bedienen konnten, die Deutsche Schrift zu lernen? (Jetzt komme mir bitte keiner damit, daß der Archivar von morgen soetwas ohnehin nicht wissen müsse, weil sein Archiv ja digitalisiert sei, durch OCR erschlossen wurde und in der Cloud liegen würde!)
Und noch etwas: Ich selber werde sehr froh sein, wenn ich mit dieser düsteren Prognose nicht recht behalten sollte! In keiner Sache möchte ich mich so gerne irren wie hier! Bitte tragt dazu bei, mich zu widerlegen!!!
Im DB-Museum befindet sich neuerdings auch das Kibala - das Kinderbahnland, ein Ort, an dem die kleinen Rabauken spielerisch mit Eisenbahngeschichte in Kontakt kommen können. Dort erfuhren wir, daß es dem Kibala zu verdanken sei, daß sich die Besucherzahl um >40% auf über 200.000 Besucher/Jahr erhöht habe ... und dann fiel ein Satz, der mich sehr zum grübeln brachte ... und daß es mit dem Kibala erfreulicherweise auch gelungen sei, nun deutlich mehr Migranten für das Museum zu interessieren.
Dieser Satz blieb nicht zuletzt deshalb in mir haften, weil mir erst kürzlich beim Besuch der "Kinderuni" (an der Aalener Fachhochschule) mit meinen beiden "Großen" so sehr aufgefallen war, daß dort (von Asiaten abgesehen) der Migrantenanteil unter den Nachwuchsforschern nicht dem der Kinder im gesellschaftlichen Durchschnitt entsprach – gelinde gesagt.
Wenn ich nun den Gegenstand unser Gespräche und Tagungen in den letzten Jahren betrachte, dann stelle ich fest, daß wir leidenschaftlich darüber debattieren, welche digitalen Erhaltungsstrategien existieren, welche Schnittstellen und Portale entwickelt wurden, welches Digitalisierungsprojekt die DFG gerade fördert, ja sogar ob Archive in Facebook präsent sein sollen oder nicht. Wir geben alten Dingen neue Namen. Wir reden über Ingest, Steakholder und Überlieferungskultur. Wir verwenden den DFG-Viewer, Gobi, Typo3 und interessieren uns für PDF/A, dpi, tiff, Farbmanagement, Optimierung hier, Perfektionierung dort ...
Ganz ehrlich, in der letzten Nacht hat mich ein Damoklesschwert an der Stirn gekratzt. Ich glaube, nein ich fürchte, in vielleicht 15 oder spätestens 25 Jahren wird der Gegenstand unserer Reden wieder viel existenzieller sein. Das "wie" könnte an Bedeutung verlieren und zunehmend das "ob" Gegenstand unserer Klagen werden.
Denn was passiert eigentlich mit den von uns so aufwendig präparierten, konservierten, digitalisierten, verzeichneten und präsentierten Sammlungen, wenn schlichtweg keiner mehr da ist, der sich dafür interessiert?
Ich denke, ich brauche hier keine Zahlen und Prognosen zum demographischen Wandel zitieren, die müßten allen hinlänglich bekannt, wenn auch nur widerwillig bewußt sein.
Ich könnte mir vorstellen, daß wir schon eine Generation später auf Tagungen davon zu hören bekommen, wenn schon wieder ein Vereinsarchiv oder ein kleines Stadtarchiv seinen Betrieb erst reduziert und dann eingestellt hat. Und zwar nicht nur aus Geldmangel, so wie heute, sondern schlicht aus Mangel an Interesse.
Wie entsteht denn ein lebendiges Interesse für die eigene Tradition und Kultur? Spontan würde ich in meinem Fall sagen, es waren die Ausführungen unseres Sachkundelehrers in der Grundschule, der uns beim Wandertag durch den Wald erklärte, was in jener Schlucht zur Zeit des 30jährigen Krieges geschehen war. Oder es waren die zugewachsenen Spuren einer alten stillgelegten Bahnlinie, die ich als Bub mit Entdeckerfieber abgeradelt bin. Und dann waren es Asterix und die allgegenwärtigen Römerspuren in meiner Schwäbischen Heimat, die mich als Jungen dazu verleitet hatten, in jedem Hügel entweder ein Keltengrab oder einen Mauerrest zu vermuten. Und es gab so viele Erlebnisse mehr, die Identität stifteten und mir das Gefühl für meine Kultur und Tradition vermittelten.
Schaue ich heute auf die Kinder – auch die eigenen – dann muß ich sagen, mache ich mir richtig Sorgen um unsere Lebensaufgaben, die doch zuvorderst von Interesse und Enthusiasmus leben. Zum einen haben wir viel zu wenige Kinder (in meinem Fall nur 3, und das ist heute sogar viel – und momentan sind diese ohnehin eher am Kaputtmachen als am Bewahren interessiert). Und zum anderen stelle ich fest, daß die Kinder auch gar nicht mehr die Interessen entwickeln, die sie haben müssten um ähnlich große Lust an der eigenen Tradition auszubilden. Wie auch? Entweder haben selbst die Kinder einen Terminkalender wie ein Außenminister – oder in "bildungsfernen" (böses Wort, ich habs nicht erfunden) Familien lungern (auch böses Wort, Entschuldigung, aber danach sieht das halt einfach aus) die Kinder irgendwo herum, bestenfalls auf dem Spielplatz. Sie erkunden jedenfalls nicht ihre Heimat; weder mit dem Fahrrad, noch in Büchern. Und die Schule? Von dort kommt gar nichts. Wandertage verdienen diesen Namen eigentlich nicht. Gelaufen wird bestenfalls zum Bahnhof oder zur Bushaltestelle. Oder es wird ein elterlicher Fahrdienst organisiert. Und das Ziel des Wandertages? Wieder bestenfalls ein Spielplatz, ein Landesgartenschaugelände. Heimatkunde???? Was war das noch gleich? Ach das ist doch das, was die Ewiggestrigen betreiben. Nicht hilfreich. Oder?
Tatsache ist doch, daß dort wo nicht die Eltern ganz bewußt kulturelles Interesse säen, die Kinder keine Chance mehr haben, überhaupt damit in Berührung zu kommen. Und daß Zuwanderer ihren Kindern ganz selbstverständlich ihre eigene Tradition vermitteln, also jene die sie kennen, ist ihnen doch kaum zu verübeln und sehr naheliegend.
Und in dem Maße, in dem unsere eigene Tradition in Vergessenheit gerät oder manchmal sogar bewußt verdrängt wird, wird es in der mittelfristigen Zukunft immer schwerer werden, für den Erhalt von Sammlungen Interessenten zu finden, geschweige denn Geldgeber.
Vielleicht wird ein kunsthistorisches Interesse für einzelne Objekte wenigstens Teile von Sammlungen am Leben erhalten.
Vielleicht wird es Strategien geben, Sammlungen wenigstens als virtuelle Sammlungen digital zu erhalten, sofern es finanziert wird.
Aber ich prophezeie: Wir werden in Zukunft öfter davon hören, daß ein Archiv einfach aufgegeben, schlicht verlassen wurde. Und wir werden es machtlos zur Kenntnis nehmen.
Darüber diskutiert worden ist meines Wissens bisher noch nie. Vielleicht sollten wir darüber nachzudenken beginnen, was wir tun müssten um dieser drohenden Entwicklung etwas entgegenzuwirken! Wie motivieren wir eine Jugend, deren Großeltern beispielsweise in Anatolien geboren wurden, sich für mittelalterliche Urkunden christlicher Klöster zu interessieren? Wie motivieren wir Kinder, die zwar schon mit 2,5 Jahren einen Tablet-PC bedienen konnten, die Deutsche Schrift zu lernen? (Jetzt komme mir bitte keiner damit, daß der Archivar von morgen soetwas ohnehin nicht wissen müsse, weil sein Archiv ja digitalisiert sei, durch OCR erschlossen wurde und in der Cloud liegen würde!)
Und noch etwas: Ich selber werde sehr froh sein, wenn ich mit dieser düsteren Prognose nicht recht behalten sollte! In keiner Sache möchte ich mich so gerne irren wie hier! Bitte tragt dazu bei, mich zu widerlegen!!!
Klaus Wendel - am Mittwoch, 30. April 2014, 11:24 - Rubrik: Archive in der Zukunft
ladislaus (Gast) meinte am 2014/04/30 12:35:
Die vergreisten deutschen Heimatkundevereine mit ihrer kostenpflichtigen Print-Kultur und die verschnarchten deutschen Museen und Archive bieten jedenfalls keine positive Zukunftsaussicht. Aber jeder Wikipedia-Stammtisch überzeugt schnell vom Gegenteil: dort sitzen sie, die Leute von 16 bis 40+ und unterhalten sich ganz begeistert überHheimatkundliches, über Fotoexkursionen, über zu schreibende Artikel und zu beschaffende seriöse heimatkundliche Literatur.
A. Ghast (Gast) antwortete am 2014/04/30 14:34:
Die Problematik zeigt sich doch auch schon dabei, wenn man sieht, das bei Secondos, Terzios usw. Studienfächer wie Jura, Ingenieurwissenschaften oder Medizin ganz vorn liegen (Wie auch sonst?).Mit der indigenen Kultur mag sich niemand auseinandersetzen - was an allen Beteiligten liegt, aber an Strukturproblemen. Es ist eben schwierig, Zugewanderte von einem Land zu begeistern, das sie nur ungern aufnehmen wollte, dauernd über böse Ausländer klagt, einem kapitalistisch durchsetzten Hedonismus frönt, dabei eine verkorkste Vergangenheit aufzuweisen hat ohne konsequent ethisch-zukünftige Folgerungen zu ziehen, und wenig Bereitschaft zeigt, auf andere offen zuzugehen und auch andere Sichtweisen anzunehmen.
Zugleich ist eine Auswanderung eben keine "Wanderung" mehr ist, sondern die frühere Heimat mitunter nur ein paar Flugstunden entfernt, wo die Verwandten leben. Materialismus fördert zwar Bereitschaft zu arbeiten, aber keineswegs sich mit der geistigen Kultur auseinanderzusetzen. Und Satelliten-TV wie Internet nehmen bestimmte Integrationszwänge fort.
Darüber diskutieren will auch niemand mehr, weil man einfach nicht mehr diskutiert, argumentiert, sondern nur noch "die Menschen da draußen" über seine eigene Meinung informieren möchte. Das nur leise Kulturkritik am Rande.
Was allerdings konkrete Öffentlichkeitsarbeit angeht:
1. Es gibt genügend Beispiele für immer schon existierende Migration, ein Hinweis auf Hugenotten, Waldenser, Ruhrpolen, Holländerwanderungen genügen schon. Mönche kamen auch oft aus anderen Weltgegenden, wenn man das Mittelalter nehmen möchte. Das Christentum kam durch Migranten nach Deutschland. Auch damals hat's Stunk gegeben, das nennt man heute Sachsenkriege oder Christianisierung der Elbslawen.
2. Man muss auch etwas von Belang mitteilen wollen und nicht einfach deskriptiv sagen, so und so ist's gewesen: Geschichte muss immer aktualisiert werden, sie ist kein Selbstzweck, jedenfalls nicht, sofern man Gehör und Geld finden möchte.
Gasthausen (Gast) antwortete am 2014/05/02 15:49:
Nutzen Sie den Lehrernachwuchs!
Wir bieten im Archiv regelmäßig Kurse im Rahmen der Lehrerausbildung an. Sie werden sich wundern, wie sehr das Thema "Migration" im Archiv bei Migrantenkindern in der Lehrerausbildung zog! Wir hatten Schwierigkeiten, den Ansturm zu bewältigen. Es muss halt zielgruppengerecht ansetzen, dann kommen die Migranten schon ... Gleichwohl wünsche ich mir mehr "affirmative action", vor allem bei der eigenen Personalauswahl im gehobenen und höheren Dienst.
Klaus Wendel antwortete am 2014/05/02 18:30:
Warum affirmative action (= "positive" Diskriminierung) nicht funktionieren kann
Wenn Sie jemanden bevorzugen, ganz egal aus welchem Grund, dann heißt das, daß Sie im Gegenzug jemand anderen benachteiligen.Im Falle der "positiven" Diskriminierung wird also jemand bevorzugt, der über das normale Auswahlverfahren ansonsten keine oder geringere Chancen gehabt hätte; in der Regel aufgrund niedrigerer Qualifikation.
Wenn dann aber die niedrigere Qualifikation durch irgendeine Eigenschaft kompensiert wird, die bei der eigentlichen Tätigkeit an diesem Arbeitsplatz keinen Vorteil bietet und dafür jemand, der an diesem Arbeitsplatz auf Dauer bessere Leistung gebracht hätte, benachteiligt wird, dann sinkt de facto das Niveau dieses Arbeitsplatzes.
Es ist wie bei der Bahn: Wenn ein Anschlußzug länger im Bahnhof stehen bleibt, um auf einen anderen verspäteten Zug zu warten, dann ist das zwar gut für die betroffenen Reisenden des Zubringers, aber problematisch für die Reisenden des Anschlußzuges. Solange die Bedingungen günstig sind, also alle Signale auf "Grün" stehen, die Strecke höhere Geschwindikeiten zuläßt und die Lok diese erbringt, mag es einem solchen dann gelingen, die Verspätung wieder hereinzufahren. Doch wenn noch andere Züge Verspätung haben und diese ihrerseits Vorrang erhalten, dann stehen die Signale eben nicht mehr auf Grün. Dann kommt dadurch der Fahrplan des gesamten Netzes durcheinander und es akkumulieren sich die Verspätungen.
Wenn ein Einzelner nur das Defizit hat, daß er erst die Sprache lernen muß, ansonsten aber gleichermaßen qualifiziert ist, dann kann man davon ausgehen, daß er diesen Nachteil nach wenigen Jahren durch zeitweise größere Anstrengung aufgeholt haben wird. Wird diese "affirmative action" zur Norm, gelangt ein System schnell an seine Belastungsgrenzen. Denn wenn jetzt gleich mehrere das Sprachdefizit gemeinsam haben, dann zieht irgendwann nicht mehr der Arbeitgeber einen Aufholer, sondern dann bremsen mehrere Zurückbleiber den Arbeitgeber; was noch folgenreicher sein wird, wenn die Defizite auch noch fachlicher Natur sind.
Außerdem schürt es jede Menge Unzufriedenheit bei den "positiv" Diskriminierten, was auch nicht folgenlos bleibt!
Michael Schonhardt (Gast) antwortete am 2014/05/05 15:59:
Bitte mehr Fakten als Vermutungen
"Im Falle der "positiven" Diskriminierung wird also jemand bevorzugt, der über das normale Auswahlverfahren ansonsten keine oder geringere Chancen gehabt hätte; in der Regel aufgrund niedrigerer Qualifikation."Der letzt Satz sollte dann aber schon in irgendeiner Form belegt werden können. Befürworter der affirmative action würden ja gerade argumentieren, dass das Auswahlverfahren selbst zu einer *Benachteiligung* führt. Tatsächlich belegen diverse Studien eher diese Sicht der Dinge, so etwa eine Studie des IZA von 2010 (http://ftp.iza.org/dp4741.pdf). Natürlich kann man über den Sinn oder Unsinn von aa streiten, dann aber bitte mit mehr Fakten und weniger Bauchgefühl.
Mit Blick auf das eigentliche Thema stimme ich ansonsten Gasthausen zu: genug Material zum Thema Migration ist in den deutschen Archiven ganz sicher vorhanden. Gleichzeitig frage ich mich, ob man denn tatsächlich davon ausgehen darf, dass sich Personen mit Migrationshintergrund per se nicht für "Heimatgeschichte" interessieren (lassen würden)? In meinem persönlichen Umfeld kann ich das so nicht bestätigen, aber das ist natürlich nicht repräsentativ.
Ich denke auch, dass man sich mindestens ebenso über die Konzeption von Heimatgeschichte Gedanken machen müsste und diesen Begriff interkulturell öffnen sollte. Heimat ist ja ein sehr subjektiver, vielschichtiger Begriff, der in Deutschland immer schon mit Migration verbunden ist. Ob das die Auswanderungsbewegungen im 19. Jahrhundert ist, oder die Einwanderungswellen der 60er Jahre. Ein Beispiel: Die Geschichte italienischer oder türkischer Migranten in Deutschland bzw. bestimmtem Städten und Regionen sollte dann eben nicht nur als Migrationsgeschichte im klassischen Sinne verstanden werden, sondern auch als Bestandteil unser aller Heimatgeschichte.
Einer solche Diskussion erschiene mir doch sehr anregend und ist, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, durch den Südwestdeutschen Archivtag 2013 schon markiert worden (http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/55077/Archivtag_2013_Stadtarchiv.pdf).