Süddeutsche Zeitung, 28.10.2006, Ausgabe Deutschland, S. 15
Wer braucht schon so viele Evangelien?
Trotz Protest: Die Schweizer Fondation Bodmer möchte 1700 Jahre alte Papyri verkaufen, um ihr Museum zu finanzieren
Auszüge:
Museen schaffen seltsame Nachbarschaften, und einige der seltsamsten schafft die
Fondation Martin Bodmer, eine exquisite Handschriftensammlung im malerischen
Cologny bei Genf. [...]
Die Krönung der Sammlung aber sind jene 900 taschenbuchgroßen Seiten, die in den
fünfziger Jahren aus Ägypten auf nicht näher beleuchteten Wegen in die Schweiz
gelangten. Martin Bodmer, Sohn einer Zürcher Seidenhandelsfamilie und besessener
Handschriftensammler, hatte einige der die ältesten Quellen des Neuen Testaments
erworben, Papyrus-Codices mit dem Evangelium des Lucas und des Johannes, die aus
dem späten zweiten bis frühen dritten Jahrhundert stammen.
Und aus eben diesem Schatz möchte die Sammlung Bodmer nun ein paar Seiten
verkaufen, um, wie der Genfer Gräzist Paul Schubert aus einem Brief der Stiftung
zitiert, "die Stiftung wieder zu ,kapitalisieren". Ein
Handschriften-Verkauf als Ausweg aus einer klammen Haushaltslage - das kommt einem bekannt vor.
Bereits im März hatte Paul Schubert eine Petition verfasst, unterzeichnet von 20
Kollegen, um den Verkauf zu verhindern. Ob sie größere Wirkung entfaltet, steht
dahin. Denn Sammlungsdirektor Charles Méla betrachtet die Verkaufspläne geradezu
als Befreiungsschlag für sein Haus: "Ich habe an jede Tür in Genf geklopft:
Umsonst. Wenn den Schweizern so viel an den Papyri liegt, hätten sie uns ja
vorher mal helfen können." 600 000 Euro bekomme die Stiftung derzeit vom Staat,
die Ausgaben für das neue, 2003 eröffnete Museum, lägen aber bei 800 000 Euro.
Überhaupt stehe ja nicht jene weltweit älteste Handschrift des
Johannes-Evangeliums aus dem 2. Jahrhundert zum Verkauf, sondern etwa 30 Blätter
aus einem Lukas- und einem Johannes- Evangelium aus dem frühen 3. Jahrhundert,
die allesamt erforscht und publiziert seien.
Dass es sich dennoch nicht um nachrangige Stücke handeln kann, klingt in der
Antwort des Stiftungsrates auf Schuberts Petition an. Darin schreibt die
Stiftung, man habe vor dem Dilemma gestanden, "entweder ein Stück von großem
Wert oder viele Stücke von geringerem Wert" zu verkaufen und sich auf die erste
Variante verständigt, "um das Problem ein für alle Mal zu lösen". Sechs bis acht
Millionen Euro, hofft Direktor Méla, werde der Verkauf einbringen.
Es wäre nicht der erste Verkauf aus der Sammlung Bodmer. Martin Bodmer, Schweizer Millionär und Bibliomane, hatte seine Sammlung aus 16 000
Handschriften, Inkunablen, Zeichnungen, Noten und Skulpturen in zwei
unterirdisch verbundenen Pavillons untergebracht, das Eigentum an ihnen aber
später in eine private Stiftung umgewandelt, heute eine der größten privaten
Stiftungen der Welt. Der Stiftungsrat wiederum hatte sich für das Museum von
Mario Botta einen unterirdischen Ergänzungsbau schaffen lassen, der vor drei
Jahren eröffnet wurde - und dessen Baukosten von zehn Millionen Euro durch den
Verkauf einer Zeichnung Michelangelos finanziert wurde. Für Paul Schubert war
dies der Beginn einer fatalen Strategie, für Sammlungsdirektor Méla hingegen
eine Tat in öffentlichem Interesse. Erst mit dem Bau des neuen Museums habe man
die Sammlung einem breiteren Publikum zugänglich machen können, was sich nicht
zuletzt dadurch ausgezahlt habe, dass der Kanton Genf die zuvor gekürzten Mittel
wieder auf 310 000 Euro pro Jahr aufgestockt habe. Aber nun müsse das neue Haus
mit Leben erfüllt werden, nun wolle man Sonderausstellungen machen, neue Stücke
kaufen - und alles das koste eben Geld.
Aber liegt nicht ein gewisser Widerspruch darin, die Kronjuwelen zu verkaufen,
nur um sich eine Handvoll Perlen leisten zu können? "Aber es sind ja gar nicht
die Kronjuwelen. Die Stiftung besitzt 900 Blatt Papyri, das sind 1800 Seiten,
und wir können nur ein, zwei Seiten zeigen: Nein, ich bedaure es nicht, diese
Papyri zu verkaufen."
Der Heidelberger Altphilologin Andrea Jördens hingegen tut es nicht nur leid,
sie nennt es "eine Katastrophe". Selbst wenn die Schriften publiziert und
digitalisiert seien, helfe Forschern dies kaum weiter. Viele Informationen
ließen sich nur am Original ablesen: "Welche Tinte verwendet wurde, welche Hände
geschrieben haben, wer welche Einfügungen gemacht hat, alle diese Fragen
beantwortet ein Computerbild nicht", erklärt Jördens. Schlimmstenfalls, so ihre
Sorge, verschwinden die Blätter in einer Privatsammlung, unerreichbar für die
Öffentlichkeit und für die Wissenschaft, eine Befürchtung, die Méla zu zerstreuen sucht: "Wir hatten mal an eine private Sammlung gedacht, aber wir
werden auf jeden Fall darauf achten, dass die Papyri für die Forschung
zugänglich bleiben." Paul Schuster überzeugt das nicht: "Was heißt das
überhaupt: Es ist schon publiziert? Kann man etwa jede Sammlung
auseinanderreißen, jedes Bilder verkaufen, nur weil es mal in einem Buch
abgedruckt wurde?"
Aber Méla sieht die Pläne des Stiftungsrates ganz im Sinne des Museumsgründers.
Und damit liegt er möglicherweise nicht mal falsch. Martin Bodmer nämlich, so
Méla, habe den Verkauf einzelner Stücke ausdrücklich vorgesehen, falls sich auf
diese Weise das Überleben der Sammlung sichern ließe. Überhaupt schien die
Unantastbarkeit der Sammlung für Bodmer im Einzelfall verhandelbar: Als Papst
Paul VI. in Genf weilte, überreichte ihm der Industriellen-Sohn zwei Seiten mit
den Petrusbriefen. Er hatte sie einfach aus dem Konvolut herausgelöst. [...]
http://www.fondationbodmer.org/
Es handelt sich um P 75 (Bodmer XIV/XV):
http://www.efg-hohenstaufenstr.de/downloads/texte/bodmer_papyri.html
Bodmer XIV/XV hat ein eigenes Lemma in der polnischen Wikipedia:
http://pl.wikipedia.org/wiki/Papirus_Bodmer_XIV-XV
Ein weiterer Bericht zur Verkaufsaffäre:
http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/tips/99528/index.html
Video
http://www.sf.tv/sf1/kulturplatz/index.php
Zur Stiftungsaufsicht in der Schweiz siehe
http://archiv.twoday.net/stories/2866508/
English entry
http://archiv.twoday.net/stories/2866554/
Wer braucht schon so viele Evangelien?
Trotz Protest: Die Schweizer Fondation Bodmer möchte 1700 Jahre alte Papyri verkaufen, um ihr Museum zu finanzieren
Auszüge:
Museen schaffen seltsame Nachbarschaften, und einige der seltsamsten schafft die
Fondation Martin Bodmer, eine exquisite Handschriftensammlung im malerischen
Cologny bei Genf. [...]
Die Krönung der Sammlung aber sind jene 900 taschenbuchgroßen Seiten, die in den
fünfziger Jahren aus Ägypten auf nicht näher beleuchteten Wegen in die Schweiz
gelangten. Martin Bodmer, Sohn einer Zürcher Seidenhandelsfamilie und besessener
Handschriftensammler, hatte einige der die ältesten Quellen des Neuen Testaments
erworben, Papyrus-Codices mit dem Evangelium des Lucas und des Johannes, die aus
dem späten zweiten bis frühen dritten Jahrhundert stammen.
Und aus eben diesem Schatz möchte die Sammlung Bodmer nun ein paar Seiten
verkaufen, um, wie der Genfer Gräzist Paul Schubert aus einem Brief der Stiftung
zitiert, "die Stiftung wieder zu ,kapitalisieren". Ein
Handschriften-Verkauf als Ausweg aus einer klammen Haushaltslage - das kommt einem bekannt vor.
Bereits im März hatte Paul Schubert eine Petition verfasst, unterzeichnet von 20
Kollegen, um den Verkauf zu verhindern. Ob sie größere Wirkung entfaltet, steht
dahin. Denn Sammlungsdirektor Charles Méla betrachtet die Verkaufspläne geradezu
als Befreiungsschlag für sein Haus: "Ich habe an jede Tür in Genf geklopft:
Umsonst. Wenn den Schweizern so viel an den Papyri liegt, hätten sie uns ja
vorher mal helfen können." 600 000 Euro bekomme die Stiftung derzeit vom Staat,
die Ausgaben für das neue, 2003 eröffnete Museum, lägen aber bei 800 000 Euro.
Überhaupt stehe ja nicht jene weltweit älteste Handschrift des
Johannes-Evangeliums aus dem 2. Jahrhundert zum Verkauf, sondern etwa 30 Blätter
aus einem Lukas- und einem Johannes- Evangelium aus dem frühen 3. Jahrhundert,
die allesamt erforscht und publiziert seien.
Dass es sich dennoch nicht um nachrangige Stücke handeln kann, klingt in der
Antwort des Stiftungsrates auf Schuberts Petition an. Darin schreibt die
Stiftung, man habe vor dem Dilemma gestanden, "entweder ein Stück von großem
Wert oder viele Stücke von geringerem Wert" zu verkaufen und sich auf die erste
Variante verständigt, "um das Problem ein für alle Mal zu lösen". Sechs bis acht
Millionen Euro, hofft Direktor Méla, werde der Verkauf einbringen.
Es wäre nicht der erste Verkauf aus der Sammlung Bodmer. Martin Bodmer, Schweizer Millionär und Bibliomane, hatte seine Sammlung aus 16 000
Handschriften, Inkunablen, Zeichnungen, Noten und Skulpturen in zwei
unterirdisch verbundenen Pavillons untergebracht, das Eigentum an ihnen aber
später in eine private Stiftung umgewandelt, heute eine der größten privaten
Stiftungen der Welt. Der Stiftungsrat wiederum hatte sich für das Museum von
Mario Botta einen unterirdischen Ergänzungsbau schaffen lassen, der vor drei
Jahren eröffnet wurde - und dessen Baukosten von zehn Millionen Euro durch den
Verkauf einer Zeichnung Michelangelos finanziert wurde. Für Paul Schubert war
dies der Beginn einer fatalen Strategie, für Sammlungsdirektor Méla hingegen
eine Tat in öffentlichem Interesse. Erst mit dem Bau des neuen Museums habe man
die Sammlung einem breiteren Publikum zugänglich machen können, was sich nicht
zuletzt dadurch ausgezahlt habe, dass der Kanton Genf die zuvor gekürzten Mittel
wieder auf 310 000 Euro pro Jahr aufgestockt habe. Aber nun müsse das neue Haus
mit Leben erfüllt werden, nun wolle man Sonderausstellungen machen, neue Stücke
kaufen - und alles das koste eben Geld.
Aber liegt nicht ein gewisser Widerspruch darin, die Kronjuwelen zu verkaufen,
nur um sich eine Handvoll Perlen leisten zu können? "Aber es sind ja gar nicht
die Kronjuwelen. Die Stiftung besitzt 900 Blatt Papyri, das sind 1800 Seiten,
und wir können nur ein, zwei Seiten zeigen: Nein, ich bedaure es nicht, diese
Papyri zu verkaufen."
Der Heidelberger Altphilologin Andrea Jördens hingegen tut es nicht nur leid,
sie nennt es "eine Katastrophe". Selbst wenn die Schriften publiziert und
digitalisiert seien, helfe Forschern dies kaum weiter. Viele Informationen
ließen sich nur am Original ablesen: "Welche Tinte verwendet wurde, welche Hände
geschrieben haben, wer welche Einfügungen gemacht hat, alle diese Fragen
beantwortet ein Computerbild nicht", erklärt Jördens. Schlimmstenfalls, so ihre
Sorge, verschwinden die Blätter in einer Privatsammlung, unerreichbar für die
Öffentlichkeit und für die Wissenschaft, eine Befürchtung, die Méla zu zerstreuen sucht: "Wir hatten mal an eine private Sammlung gedacht, aber wir
werden auf jeden Fall darauf achten, dass die Papyri für die Forschung
zugänglich bleiben." Paul Schuster überzeugt das nicht: "Was heißt das
überhaupt: Es ist schon publiziert? Kann man etwa jede Sammlung
auseinanderreißen, jedes Bilder verkaufen, nur weil es mal in einem Buch
abgedruckt wurde?"
Aber Méla sieht die Pläne des Stiftungsrates ganz im Sinne des Museumsgründers.
Und damit liegt er möglicherweise nicht mal falsch. Martin Bodmer nämlich, so
Méla, habe den Verkauf einzelner Stücke ausdrücklich vorgesehen, falls sich auf
diese Weise das Überleben der Sammlung sichern ließe. Überhaupt schien die
Unantastbarkeit der Sammlung für Bodmer im Einzelfall verhandelbar: Als Papst
Paul VI. in Genf weilte, überreichte ihm der Industriellen-Sohn zwei Seiten mit
den Petrusbriefen. Er hatte sie einfach aus dem Konvolut herausgelöst. [...]
http://www.fondationbodmer.org/
Es handelt sich um P 75 (Bodmer XIV/XV):
http://www.efg-hohenstaufenstr.de/downloads/texte/bodmer_papyri.html
Bodmer XIV/XV hat ein eigenes Lemma in der polnischen Wikipedia:
http://pl.wikipedia.org/wiki/Papirus_Bodmer_XIV-XV
Ein weiterer Bericht zur Verkaufsaffäre:
http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/tips/99528/index.html
Video
http://www.sf.tv/sf1/kulturplatz/index.php
Zur Stiftungsaufsicht in der Schweiz siehe
http://archiv.twoday.net/stories/2866508/
English entry
http://archiv.twoday.net/stories/2866554/
KlausGraf meinte am 2007/02/07 01:55:
Bodmer 14/15 (P 75) an Vatikan geschenkt
"Den spektakulären Neuzugang – auf einer Höhe etwa mit dem Codex Vaticanus oder der ältesten erhaltenen Abschrift der beiden Petrusbriefe – verdankt die Bibliothek einem amerikanischen Privatmann, der das millionenschwere Skript wenige Wochen nach dem Erwerb von der Schweizer Stiftung Martin Bodmer an Papst Benedikt XVI. schenkte."http://www.kipa-apic.ch/meldungen/sep_show_de.php?id=3453
KlausGraf meinte am 2007/02/11 21:00:
Hintergrundinformationen zu P75
http://www.zenit.org/english/visualizza.phtml?sid=102306 (englisch)