Clausdieter Schott: „Bürger und Bauer scheidet nichts als ein Zaun und eine Mauer“ – Studie zu einem Rechtssprichwort, in: Signa Iuris 13, Halle/Saale 2014, S. 273-292
[Autorenversion:
http://dx.doi.org/10.5167/uzh-105458 ]
Zur mir nicht bekannten Reihe:
http://www.signa-iuris.de/210si_buecher.html
Der emeritierte Zürcher Rechtshistoriker hat eine sorgsame Darstellung zu einem bekannten Rechtssprichwort vorgelegt, die sicher für lange Zeit gültig bleiben wird. Er hat mir freundlicherweise ein Separatum übersandt, nachdem er im Januar 2014 per Mail sich nach dem Druckort meines Aufsatzes "Der adel dem purger tregt haß". Feindbilder und Konflikte zwischen städtischem Bürgertum und landsässigem Adel im späten Mittelalter (in: Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, 2000) erkundigt hatte, den er S. 262 Anm. 33 zitiert. Mein Aufsatz ist online unter
http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:hebis:30-1145495
ebenso wie die in der ZGO 1993 veröffentlichte Publikation "Feindbild und Vorbild", in der ich das Sprichwort S. 131 mit weiteren Hinweisen erwähnt hatte.
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5366/
Ausgehend von den Belegen bei Agricola (Erstdruck 1529) und Luther habe ich es damals dem städtefeindlichen Diskurs zugeordnet.
Wesentliches habe ich zu Schotts schöner und lehrreicher Studie nicht zu ergänzen, aber einige Kommentare möchte ich mir doch herausnehmen.
1. Von der wahren Bedeutung eines Sprichworts
Seit Jahren beschäftigen mich als Zeugnisse für Geschichtskultur im Spiegel der von mir geschätzten "kleinen Formen" Sprichwörter, die sich auf "Historisches" beziehen. Zwei Miniaturen dazu enthält dieses Weblog unter dem Rubrum Sprichwörtliches:
http://archiv.twoday.net/search?q=sprichw%C3%B6rtliches
Von dem heute noch bekanntesten Sprichwort, das sich auf ein wahres oder fiktives historisches Ereignis bezieht, dem vom "Hornberger Schießen" (1780 bei Schiller belegt), hat man trotz aller Bemühungen nicht herausgefunden, was der wahre Hintergrund ist. Trotzdem funktioniert es, was bedeutet, dass jeder nach kurzer Einweisung etwa in der Wikipedia
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Hornberger_Schie%C3%9Fen&oldid=136497215
in der Lage ist, es korrekt zu verwenden. Der Ursprung mag unklar sein, seiner Popularität tut das keinen Abbruch.
Zur kleinen Minderheit der solchermaßen "unklaren" Sprichwörter, deren Sinn zumindest prima facie rätselhaft ist, zählt das von Schott behandelte Rechtssprichwort, das gleichwohl (teste Google) sich in Büchern über das Mittelalter einer besonderen Beliebtheit erfreut. Auch in der Wikipedia darf es nicht fehlen:
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Post-Suburbanisierung&oldid=112237975
Hier in irreführender Fassung, die das entscheidende "nur" unterschlägt: " Stadt-Land-Dichotomie des Mittelalters und der frühen Neuzeit („Bürger und Bauer scheidet die Mauer“)".
Nach allem, was wir über das mittelalterliche Städtewesen zu wissen glauben, ist das Sprichwort "falsch", da es den zivilisatorischen Rang des Städtewesens negiert und Stadt und Land gleichsetzt. Obwohl, wie Schott betont (S. 290) der "ständerechtliche Inhalt" im Vordergrund steht, betont man gern die Erwähnung der Mauer und das Verhältnis von "Stadt und Umland" (Maschke/Sydow), obwohl das ursprüngliche Paar "Zaun und Mauer" einer solchen Engführung im Wege steht. Dieses Missverständnis ist nur das jüngste einer in der frühen Neuzeit einsetzenden Deutungsgeschichte, die Schott (wohl auch aufgrund von Internetfundstellen) gut dokumentiert und die kaum überzeugende Ergebnisse erbracht hat.
Gern wüsste ich, aus welcher Quelle Ernst Schuberts Formel "Hag und Mauer" stammt, die es sogar in einen Aufsatztitel von Dietrich Lutz geschafft hat (mir nicht zugänglich).
https://www.google.de/search?q=schubert+%22hag+und+mauer%22&espv=2&filter=0&biw=1024&bih=719
Schubert gibt zumindest in den im Netz verfügbaren Aufsätzen keinen Nachweis, und fragen kann man den verstorbenen verdienstvollen Göttinger Historiker leider nicht mehr. Wilhelm Arnold scheint nicht die Quelle zu sein.
Auch wenn das Sprichwort dank des Reims noch so eingängig ist: Vor dem Hintergrund von Schotts Ergebnissen sollte man darauf verzichten, es in allgemeinen stadtgeschichtlichen Einführungen herbeizuzitieren, da es ohne länglichen Kommentar nicht das über das Mittelalter aussagt, was man gern herausholen möchte. Was nicht ausschließt, dass man es - bei hinreichend differenzierter und problembewusster Darstellung - nutzbringend etwa im akademischen Unterricht oder in didaktischen Darstellungen verwenden könnte. Freilich wäre es dann hilfreich, wenn Schott die Sichtbarkeit seines in einem doch recht entlegenen Publikationsorgan erschienen Beitrags qua Open Access erhöhen würde (laut ZDB ist die Zeitschrift außerhalb juristischer Seminare in NRW nur in den wissenschaftlichen Bibliotheken der Universitäten Bielefeld, Münster und Trier einsehbar, also z.B. nicht in Aachen oder Düsseldorf).
Der erste Teil von Schotts Ausführungen bespricht - in sehr überzeugender Weise - die ältesten beiden Bezeugungen, die beide von dem schlesischen Juristen Nikolaus Wurm stammen.
Leider ist Hdschr. 392 der SB Berlin von 1386/87 mit der Glosse zum Sachsenspiegel-Lehnrecht nicht online:
http://www.mr1314.de/8776
S. 291 bildet Schott Bl. 387v farbig ab. In Wurms Glosse geht es darum, dass dörfliche und städtische Landsassen als Angehörige der unteren Freienschicht die gleiche ständerechtliche Stellung haben (S. 275): "dorum spricht man: einen burger vnd einen gebuer scheit nicht me wan ein czuhin vnd ein muer" (S. 274). Wurm bezieht sich also bereits auf eine landläufige Formulierung. In seinem Liegnitzer Stadtrechtsbuch (um 1400) greift Wurm das Sprichwort in anderem Kontext nochmals auf (S. 292 bildet mgf 789, Bl. 23r farbig ab; zur Handschrift:
http://www.mr1314.de/8180 ). Nun geht es um eine ausführliche Darstellung des Magdeburger Bauerdings. Als Herkunftsort der Rechtsgewohnheit wird das ländliche Schartau angegeben und dann folgt das Sprichwort. Schartau hatte eine wichtige Position bei der Schelte gegen Magdeburger Urteile. Magdeburger Recht wurde auf Schartauer Recht zurückgeführt: "Stadtrecht ist danach also ursprünglich Dorfrecht, der Bürger ist der Herkunft nach Bauer" (S. 277).
Als erfahrener Jurist hatte Wurm erheblich mehr Möglichkeiten, die für die Deutung maßgeblichen Kontexte zu kennen als wir heute. Trotzdem ist angesichts der unterschiedlichen Zusammenhänge, auf die er das Sprichwort bezieht, die Annahme nicht zu verwegen, dass womöglich auch er den wahren Ursprung und die "wahre" Bedeutung nicht so richtig kannte. Die Geschichte der "Missverständnisse" würde also schon bei den ersten Bezeugungen einsetzen.
Hermeneutische Toleranz gebeut, von einer wahren und objektiven Bedeutung, die - philosophisch gesprochen - als feste Referenz am ursprünglichen Entstehungskontext gleichsam festgetackert ist, Abschied zu nehmen. Es gilt auch bei Sprichwörtern die Pluralität der Auslegungen ernstzunehmen. Gegenüber einer starren Bezugnahme auf den richtigen Ursprung, die andere Deutungen als Missverständnisse und Fehldeutungen erscheinen lässt, ist die prinzipielle Offenheit der Deutungen und das damit einhergehende prozesshafte und dynamische Moment zu betonen.
"Das Sprichwort war auf eine bestimmte Konstellation gemünzt, die sich mit seiner Verallgemeinerung verlieren musste. Auch eine landschaftliche Zuordnung war nicht mehr möglich", schreibt Schott (S. 290). Genau genommen waren es aber zwei Konstellationen, von denen Wurm ausging.
Auch mir erscheint es plausibel, dass die Parömie ihre Entstehung dem Bereich des sächsisch-magdeburgischen Rechts verdankt, also ursprünglich tatsächlich ein Rechtssprichwort ist, das auf Rechtsverhältnisse sich bezieht. Ich versuche als Nicht-Rechtshistoriker die von Schott angedeuteten Linien eine Spur stärker auszuziehen, damit für die historisch interessierten Leser die Gemeinsamkeit von Wurms zwei Konstellationen vielleicht etwas besser hervortritt.
Auszugehen ist - natürlich - vom Schöpfer des Sachsenspiegels, Eike von Repgow. Laut Lehnrecht Art. 2 § 1 haben Priester, Frauen, Bauern und Kaufleute nichts mit der Sphäre des ritterlichen Lehnrechtes zu tun. Natürlich weiß man inzwischen, dass man die "koplüde" nicht umstandslos mit Stadtbürger übersetzen darf, man denke etwa an die ritterlich lebende Magdeburger Oberschicht mit ihrem Gralsfest im 13. Jahrhundert. Aber wenn man Eike nicht als einsames Genie sieht, sondern eingebettet in ein "Milieu" anderer ostfälischer Rechtskundiger, wird man vermuten dürfen, dass ein zeitgenössisches Verständnis, das die beiden weltlichen der vier Gruppen, Bauern und Kaufleute (womit doch im Kern auf die Einwohnerschaft der Städte abgezielt wird) in einen Topf wirft und dies mit der hier erörterten Sprichwort-Formel absichert, durchaus angenommen werden darf. Mit Blick auf den Heerschild wäre der spätere abwertende Akzent aus adeliger Perspektive hier ansatzweise bereits gegeben: Bürger und Bauern sind bloß einfache Freie, ständerechtlich genauso auf einer Ebene wie die freien Landsassen Wurms in- und außerhalb der Stadt.
Um zum zweiten Kontext Wurms zu gelangen müssen wir an Schotts Aussagen über Eikes Stellung zu den Städten anknüpfen, die sich in zwei anderen Arbeiten finden:
"Das Eigentümliche des Sachsenspiegels ist nun, dass zwar der Erzbischof von Magdeburg erwähnt, die Stadt selbst aber wie überhaupt jede andere Stadt völlig ignoriert wird. Im Sachsenspiegel gibt es nur Adelige und Bauern. In Eikes feudaler Vorstellungswelt scheint das Bürgertum als eigene Lebens- und Sozialform gar nicht zu existieren. Städte waren für ihn nichts anderes als Burgen, und die „Bürger“ bloßes logistisches Zubehör zur Burg, in Magdeburg zur Bischofsburg. Eike ist hier realitätsblind."
http://www.forhistiur.de/es/2007-07-schott/
Ähnlich im neuen Band zum Burger Landrecht
https://books.google.de/books?id=f_yZAwAAQBAJ&pg=PA151
Halten wir fest: Die städtische Welt als deutlich abgegrenzter (und innovativer) eigener Rechtsbereich existiert weder für Eike noch für das Rechtssprichwort!
Schott hat sich im Band zum Burger Stadtrecht Gedanken zum Verhältnis des Magdeburger Stadtrechts zum sächsischen Landrecht gemacht. Beides hat eine gemeinsame Wurzel und war in spätmittelalterlichen Augen eine Stiftung des gleichen Herrschers: Karls des Großen. Die heutige Forschung spricht gern vom sächsisch-magdeburgischen Recht, um die Gemeinsamkeit zu unterstreichen. Die reiche Forschung der letzten Jahre ist so gut wie nicht online zugänglich, aber statt der hier eher unbrauchbaren Wikipedia mag ein Hinweis auf Hiram Kümpers Artikel
http://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/magdeburger-recht/
hilfreich sein.
Immer wieder hat mich beschäftigt, was ich "vorterritoriale Raumordnung" nenne. Aus dieser Perspektive sind die Städte eben keine bürgerlichen Fremdkörper in einer aristokratischen Welt. Ich bin ein großer Fan von Helmut Maurers Begriff der Landes-Vororte (Der Herzog von Schwaben, 1978, S. 33). Maurer bezieht sich auf das Konzept der Stammesvororte von Eugen Rosenstock-Huessy, der bei Schott nicht zufällig als ostfälischer Rechtsbuch-Editor auftritt. Da ist vieles bedenklich (ich muss aus dem Gedächtnis zitieren), aber dass die von den Landesherrschaften später beseitigten Oberhof-Beziehungen bedeutungslos sind, glaube ich nicht. Natürlich baue ich sie (gemeinsam mit Getreide-Maßbezirken) gern umstandslos in mein von Mitterauer inspiriertes Modell der Grafschafts- und "Landes"-Verfassung - angedeutet in:
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5565/ - ein, aber verschiedentliche Lektüre rechtshistorischer Studien zu Rechtszug-Verhältnissen (wobei der räumliche Aspekt regelmäßig unter den Tisch fällt) hat mich vorsichtiger werden lassen. Es ist ja auch kein Zufall, dass ich zum Thema nichts Richtiges publiziert habe, was ich jetzt auch nicht nachholen kann. Nur soviel: Schartau galt als Vorort eines Herzogtums und steht pars pro toto für weitere Orte des Landes Sachsen, die rechtlich in besonderer Weise ausgewiesen sind.
Magdeburg war der Rechts-Vorort des Landes Sachsen und als solcher in Deutschland einzigartig. Das Sachsenrecht besaß in Spätmittelalter und früher Neuzeit erheblich mehr Bedeutung als die anderen ehemaligen "Stammes"-Rechte. Zum schwäbischen Recht darf ich nur auf
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5307/
verweisen.
Ziemlich unvorsichtig möchte ich also eine besondere Bedeutung landrechtlicher Vororte in Ostfalen postulieren, die in anderen Regionen fehlt. In dieser Sicht ist Stadt und Land, wie das Sprichwort will, nicht getrennt, und Magdeburg ist nicht die Kaufmanns-Metropole, sondern landrechtliche Rechts- und Gerichtsstätte ("Magdeburger Schöppenstuhl").
Landrechtliche Prinzipien hat - vor allem anhand des Sachsenspiegels - Georg Droege herausgearbeitet, ohne viel Begeisterung zu finden (Helmut Maurer hat ihn kritisiert), aber für meine Studien zu literarischen Landes-Modellen war sein Buch doch recht hilfreich:
https://books.google.de/books?id=pcvWAAAAMAAJ&pg=PA103
Hier finden wir das Stichwort vom "genossenschaftlichen Verband", das uns hilft, die Brücke zum kurzen Absatz bei Schott über das Bauerding S. 278 zu schlagen.
Natürlich lag es für Wurm nahe, bei der Beschreibung einer öffentlichen Versammlung in Magdeburg, die andernorts Bursprake heißt, auf die Rolle von Bauern abzuheben, aber das Wort, das im Burding/Bauerdings steckt, meint im Kern etwas anderes als den Ackerbauer/Dorfbewohner. Zum folgenden vergleiche man auch das Deutsche Rechtswörterbuch s.v. Bauer:
http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw/e/ba/bauer.htm
Schott zitiert ("Vgl. auch.") den großartigen Aufsatz von Kroeschell über burscap, der eigentlich alles enthält, was wir hier benötigen. Gekürzt bei Google Books:
https://books.google.de/books?id=8V4loMV0un4C&pg=PA171
Nur im niederdeutschen Raum sind die begrifflichen Verbindungen zwischen der Burschaft und der Bürgerschaft so eng. Die Lemgoer Stadtviertel hießen Bauerschaften; Burspraken gab es in Stadt und Land. "Bur" ist genossenschaftlich akzentuierter Oberbegriff für Bürger und Bauern, er meint den Nachbarn als "Nachgebauer" (Heidegger), und es war ausgesprochen klug von Kroeschell, Weitzels großen Wurf, also die Dinggenossenschaft, als gemeinsamen Grund für Bürgerschaft und Bauerschaft zu benennen.
Der wortgeschichtliche Befund zu "Bur" stützt die Verankerung des Rechtssprichworts im niederdeutsch bzw. durch das sächsisch-magdeburgische Recht geprägte Gebiet. Diese Sichtweise von der Gerichtsverfassung her sieht auf beiden Seiten von Zaun und Mauer "Buren": Dinggenossen. Sie ist zugleich die Erklärung (so Schott S. 278) der Unterschiede zwischen Bürgern und "Bauern" (Teil von Bauerding usw.) im Magdeburgischen.
Übrigens stammen alle Belege für burdinc im WMU I, S. 321 aus der Magdeburger Weisung an Breslau. Zum Magdeburger Amt des Buhrmeisters/Bauermeisters:
https://books.google.de/books?id=g7QIaoptLjEC&pg=PA298
Das Deutsche Rechtswörterbuch enthält Belege, die auch Stadteinwohner als "Buren" bezeichnen und zwar nicht als Synonym zu Bürger ("he en si denne bur edder borgher to Horneborch"), was ich hier auf sich beruhen lassen muss.
Das von Eike entworfene Modell sieht sowohl Landsassen als auch Stadtbewohner als Freie, denen landrechtlich Teilhabe zusteht am für Eike so wichtigen Konzept der Freiheit, Das ist Wurms Kontext 1. Zugleich haben beide nichts mit dem ritterlichen Heerschild zu tun. Im Bereich des sächsisch-magdeburgischen Rechts sind ländliche und städtische Rechts-Orte Teil einer landrechtlich-dinggenossenschaft geprägten Raum-Ordnung. Dinggenossen (Buren) gibt es sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern und Zäune. Das ist Wurms Kontext 2.
Das Rechtssprichwort zielt also auf die landrechtlich-dinggenossenschaftliche Einheit von Stadt und Land im sächsisch-magdeburgischen Recht und der vor allem bei Eike greifbaren Rechts-Diskurse der ostfälischen Rechtskundigen.
2. Internationale Ausstrahlung
Schott hat diesen Aspekt nicht thematisiert.
Bei Wander findet sich eine holländische und eine ungarische Version:
http://www.zeno.org/nid/20011555807
Harrebommée 1870 bezieht sich auf die Campener Sammlung von 1550, die außerordentlich abhängig ist von Agricolas Sammlung:
https://books.google.de/books?id=NQA_AAAAcAAJ&pg=PA134
Nach Wurm fehlt für 130 Jahre jede Spur von dem Rechtssprichwort, bis es in Agricolas Sprichwörtersammlung von 1529 wieder auftaucht.
In Ungarn finde ich das Sprichwort bei Gaal 1830:
https://books.google.de/books?id=ledGIas0ZSQC&pg=PA46
Dänische und isländische Fassungen führt auf eine Sammlung "Sprichwörter der germanischen und romanischen Sprachen":
https://books.google.de/books?id=dJdYAAAAcAAJ&pg=PA167
In Island scheint das Sprichwort auf das 17. Jahrhundert zurückzugehen:
http://lexis.hi.is/cgi-bin/ritmal/leitord.cgi?adg=daemi&n=67860&s=77520&l=b%FAri
Sind diese Belege Zeugnisse für einen eigenständigen Zweig der Tradierung (und womöglich für einen juristischen Realitätsgehalt in jenen Ländern) oder einfach nur Rezeptionszeugnisse von Agricolas und der weiteren Sprichwörtersammlungen, in denen das Sprichwort in der frühen Neuzeit erscheint, Beweis ihres großen Erfolgs? Ich denke, letzteres. Hinsichtlich Hollands gibt es ja deutliche Anhaltspunkte, dass die Campener Sammlung es wie viele andere aus Agricola hat. Das Sprichwort kam also als literarische Lesefrucht gemeinsam mit vielen anderen in andere Länder und hat also dort keine spezifische rechtshistorische Bedeutung. Dass es außerhalb der Sammlungen von Juristen beachtet wurde, darf bezweifelt werden.
Johann Glandorp übersetzte Agricolas Sprichwörtersammlung ins Latein und damit auch unser Sprichwort:
Ausgabe 1576:
https://books.google.de/books?id=4KFTAAAAQAAJ&pg=PT368
=
http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10178431_00374.html
Vgl. die Ausgabe Suringars 1874, S. 86
http://solo.bodleian.ox.ac.uk/primo_library/libweb/action/dlDisplay.do?vid=OXVU1&docId=oxfaleph014430214
bzw.
http://dbooks.bodleian.ox.ac.uk/books/PDFs/590954437.pdf
die Stelle (Nr. 174) bequemer bei
https://books.google.de/books?id=CTtCAAAAIAAJ&pg=PA86
Dies leitet über zu einem hübschen Epigramm des Schweizer Dichters Johann Grob aus dem 17. Jahrhundert, das sich Schott entgehen ließ und mit dem ich schließen möchte:
Auf ein Baurenstättlein
Ihr Herren Burger ihr, baut fleissig eure mauren,
Sie scheiden nur allein euch von den schlechten Bauren:
Ich schweer' euch, fallen sie euch durch ein unglük ein,
Daß ihr von stundt an werdt die gröbsten flegel sein.
https://books.google.de/books?id=Yh0yp6kIrroC&pg=PA199
#forschung
Eike
[Autorenversion:
http://dx.doi.org/10.5167/uzh-105458 ]
Zur mir nicht bekannten Reihe:
http://www.signa-iuris.de/210si_buecher.html
Der emeritierte Zürcher Rechtshistoriker hat eine sorgsame Darstellung zu einem bekannten Rechtssprichwort vorgelegt, die sicher für lange Zeit gültig bleiben wird. Er hat mir freundlicherweise ein Separatum übersandt, nachdem er im Januar 2014 per Mail sich nach dem Druckort meines Aufsatzes "Der adel dem purger tregt haß". Feindbilder und Konflikte zwischen städtischem Bürgertum und landsässigem Adel im späten Mittelalter (in: Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, 2000) erkundigt hatte, den er S. 262 Anm. 33 zitiert. Mein Aufsatz ist online unter
http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:hebis:30-1145495
ebenso wie die in der ZGO 1993 veröffentlichte Publikation "Feindbild und Vorbild", in der ich das Sprichwort S. 131 mit weiteren Hinweisen erwähnt hatte.
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5366/
Ausgehend von den Belegen bei Agricola (Erstdruck 1529) und Luther habe ich es damals dem städtefeindlichen Diskurs zugeordnet.
Wesentliches habe ich zu Schotts schöner und lehrreicher Studie nicht zu ergänzen, aber einige Kommentare möchte ich mir doch herausnehmen.
1. Von der wahren Bedeutung eines Sprichworts
Seit Jahren beschäftigen mich als Zeugnisse für Geschichtskultur im Spiegel der von mir geschätzten "kleinen Formen" Sprichwörter, die sich auf "Historisches" beziehen. Zwei Miniaturen dazu enthält dieses Weblog unter dem Rubrum Sprichwörtliches:
http://archiv.twoday.net/search?q=sprichw%C3%B6rtliches
Von dem heute noch bekanntesten Sprichwort, das sich auf ein wahres oder fiktives historisches Ereignis bezieht, dem vom "Hornberger Schießen" (1780 bei Schiller belegt), hat man trotz aller Bemühungen nicht herausgefunden, was der wahre Hintergrund ist. Trotzdem funktioniert es, was bedeutet, dass jeder nach kurzer Einweisung etwa in der Wikipedia
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Hornberger_Schie%C3%9Fen&oldid=136497215
in der Lage ist, es korrekt zu verwenden. Der Ursprung mag unklar sein, seiner Popularität tut das keinen Abbruch.
Zur kleinen Minderheit der solchermaßen "unklaren" Sprichwörter, deren Sinn zumindest prima facie rätselhaft ist, zählt das von Schott behandelte Rechtssprichwort, das gleichwohl (teste Google) sich in Büchern über das Mittelalter einer besonderen Beliebtheit erfreut. Auch in der Wikipedia darf es nicht fehlen:
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Post-Suburbanisierung&oldid=112237975
Hier in irreführender Fassung, die das entscheidende "nur" unterschlägt: " Stadt-Land-Dichotomie des Mittelalters und der frühen Neuzeit („Bürger und Bauer scheidet die Mauer“)".
Nach allem, was wir über das mittelalterliche Städtewesen zu wissen glauben, ist das Sprichwort "falsch", da es den zivilisatorischen Rang des Städtewesens negiert und Stadt und Land gleichsetzt. Obwohl, wie Schott betont (S. 290) der "ständerechtliche Inhalt" im Vordergrund steht, betont man gern die Erwähnung der Mauer und das Verhältnis von "Stadt und Umland" (Maschke/Sydow), obwohl das ursprüngliche Paar "Zaun und Mauer" einer solchen Engführung im Wege steht. Dieses Missverständnis ist nur das jüngste einer in der frühen Neuzeit einsetzenden Deutungsgeschichte, die Schott (wohl auch aufgrund von Internetfundstellen) gut dokumentiert und die kaum überzeugende Ergebnisse erbracht hat.
Gern wüsste ich, aus welcher Quelle Ernst Schuberts Formel "Hag und Mauer" stammt, die es sogar in einen Aufsatztitel von Dietrich Lutz geschafft hat (mir nicht zugänglich).
https://www.google.de/search?q=schubert+%22hag+und+mauer%22&espv=2&filter=0&biw=1024&bih=719
Schubert gibt zumindest in den im Netz verfügbaren Aufsätzen keinen Nachweis, und fragen kann man den verstorbenen verdienstvollen Göttinger Historiker leider nicht mehr. Wilhelm Arnold scheint nicht die Quelle zu sein.
Auch wenn das Sprichwort dank des Reims noch so eingängig ist: Vor dem Hintergrund von Schotts Ergebnissen sollte man darauf verzichten, es in allgemeinen stadtgeschichtlichen Einführungen herbeizuzitieren, da es ohne länglichen Kommentar nicht das über das Mittelalter aussagt, was man gern herausholen möchte. Was nicht ausschließt, dass man es - bei hinreichend differenzierter und problembewusster Darstellung - nutzbringend etwa im akademischen Unterricht oder in didaktischen Darstellungen verwenden könnte. Freilich wäre es dann hilfreich, wenn Schott die Sichtbarkeit seines in einem doch recht entlegenen Publikationsorgan erschienen Beitrags qua Open Access erhöhen würde (laut ZDB ist die Zeitschrift außerhalb juristischer Seminare in NRW nur in den wissenschaftlichen Bibliotheken der Universitäten Bielefeld, Münster und Trier einsehbar, also z.B. nicht in Aachen oder Düsseldorf).
Der erste Teil von Schotts Ausführungen bespricht - in sehr überzeugender Weise - die ältesten beiden Bezeugungen, die beide von dem schlesischen Juristen Nikolaus Wurm stammen.
Leider ist Hdschr. 392 der SB Berlin von 1386/87 mit der Glosse zum Sachsenspiegel-Lehnrecht nicht online:
http://www.mr1314.de/8776
S. 291 bildet Schott Bl. 387v farbig ab. In Wurms Glosse geht es darum, dass dörfliche und städtische Landsassen als Angehörige der unteren Freienschicht die gleiche ständerechtliche Stellung haben (S. 275): "dorum spricht man: einen burger vnd einen gebuer scheit nicht me wan ein czuhin vnd ein muer" (S. 274). Wurm bezieht sich also bereits auf eine landläufige Formulierung. In seinem Liegnitzer Stadtrechtsbuch (um 1400) greift Wurm das Sprichwort in anderem Kontext nochmals auf (S. 292 bildet mgf 789, Bl. 23r farbig ab; zur Handschrift:
http://www.mr1314.de/8180 ). Nun geht es um eine ausführliche Darstellung des Magdeburger Bauerdings. Als Herkunftsort der Rechtsgewohnheit wird das ländliche Schartau angegeben und dann folgt das Sprichwort. Schartau hatte eine wichtige Position bei der Schelte gegen Magdeburger Urteile. Magdeburger Recht wurde auf Schartauer Recht zurückgeführt: "Stadtrecht ist danach also ursprünglich Dorfrecht, der Bürger ist der Herkunft nach Bauer" (S. 277).
Als erfahrener Jurist hatte Wurm erheblich mehr Möglichkeiten, die für die Deutung maßgeblichen Kontexte zu kennen als wir heute. Trotzdem ist angesichts der unterschiedlichen Zusammenhänge, auf die er das Sprichwort bezieht, die Annahme nicht zu verwegen, dass womöglich auch er den wahren Ursprung und die "wahre" Bedeutung nicht so richtig kannte. Die Geschichte der "Missverständnisse" würde also schon bei den ersten Bezeugungen einsetzen.
Hermeneutische Toleranz gebeut, von einer wahren und objektiven Bedeutung, die - philosophisch gesprochen - als feste Referenz am ursprünglichen Entstehungskontext gleichsam festgetackert ist, Abschied zu nehmen. Es gilt auch bei Sprichwörtern die Pluralität der Auslegungen ernstzunehmen. Gegenüber einer starren Bezugnahme auf den richtigen Ursprung, die andere Deutungen als Missverständnisse und Fehldeutungen erscheinen lässt, ist die prinzipielle Offenheit der Deutungen und das damit einhergehende prozesshafte und dynamische Moment zu betonen.
"Das Sprichwort war auf eine bestimmte Konstellation gemünzt, die sich mit seiner Verallgemeinerung verlieren musste. Auch eine landschaftliche Zuordnung war nicht mehr möglich", schreibt Schott (S. 290). Genau genommen waren es aber zwei Konstellationen, von denen Wurm ausging.
Auch mir erscheint es plausibel, dass die Parömie ihre Entstehung dem Bereich des sächsisch-magdeburgischen Rechts verdankt, also ursprünglich tatsächlich ein Rechtssprichwort ist, das auf Rechtsverhältnisse sich bezieht. Ich versuche als Nicht-Rechtshistoriker die von Schott angedeuteten Linien eine Spur stärker auszuziehen, damit für die historisch interessierten Leser die Gemeinsamkeit von Wurms zwei Konstellationen vielleicht etwas besser hervortritt.
Auszugehen ist - natürlich - vom Schöpfer des Sachsenspiegels, Eike von Repgow. Laut Lehnrecht Art. 2 § 1 haben Priester, Frauen, Bauern und Kaufleute nichts mit der Sphäre des ritterlichen Lehnrechtes zu tun. Natürlich weiß man inzwischen, dass man die "koplüde" nicht umstandslos mit Stadtbürger übersetzen darf, man denke etwa an die ritterlich lebende Magdeburger Oberschicht mit ihrem Gralsfest im 13. Jahrhundert. Aber wenn man Eike nicht als einsames Genie sieht, sondern eingebettet in ein "Milieu" anderer ostfälischer Rechtskundiger, wird man vermuten dürfen, dass ein zeitgenössisches Verständnis, das die beiden weltlichen der vier Gruppen, Bauern und Kaufleute (womit doch im Kern auf die Einwohnerschaft der Städte abgezielt wird) in einen Topf wirft und dies mit der hier erörterten Sprichwort-Formel absichert, durchaus angenommen werden darf. Mit Blick auf den Heerschild wäre der spätere abwertende Akzent aus adeliger Perspektive hier ansatzweise bereits gegeben: Bürger und Bauern sind bloß einfache Freie, ständerechtlich genauso auf einer Ebene wie die freien Landsassen Wurms in- und außerhalb der Stadt.
Um zum zweiten Kontext Wurms zu gelangen müssen wir an Schotts Aussagen über Eikes Stellung zu den Städten anknüpfen, die sich in zwei anderen Arbeiten finden:
"Das Eigentümliche des Sachsenspiegels ist nun, dass zwar der Erzbischof von Magdeburg erwähnt, die Stadt selbst aber wie überhaupt jede andere Stadt völlig ignoriert wird. Im Sachsenspiegel gibt es nur Adelige und Bauern. In Eikes feudaler Vorstellungswelt scheint das Bürgertum als eigene Lebens- und Sozialform gar nicht zu existieren. Städte waren für ihn nichts anderes als Burgen, und die „Bürger“ bloßes logistisches Zubehör zur Burg, in Magdeburg zur Bischofsburg. Eike ist hier realitätsblind."
http://www.forhistiur.de/es/2007-07-schott/
Ähnlich im neuen Band zum Burger Landrecht
https://books.google.de/books?id=f_yZAwAAQBAJ&pg=PA151
Halten wir fest: Die städtische Welt als deutlich abgegrenzter (und innovativer) eigener Rechtsbereich existiert weder für Eike noch für das Rechtssprichwort!
Schott hat sich im Band zum Burger Stadtrecht Gedanken zum Verhältnis des Magdeburger Stadtrechts zum sächsischen Landrecht gemacht. Beides hat eine gemeinsame Wurzel und war in spätmittelalterlichen Augen eine Stiftung des gleichen Herrschers: Karls des Großen. Die heutige Forschung spricht gern vom sächsisch-magdeburgischen Recht, um die Gemeinsamkeit zu unterstreichen. Die reiche Forschung der letzten Jahre ist so gut wie nicht online zugänglich, aber statt der hier eher unbrauchbaren Wikipedia mag ein Hinweis auf Hiram Kümpers Artikel
http://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/magdeburger-recht/
hilfreich sein.
Immer wieder hat mich beschäftigt, was ich "vorterritoriale Raumordnung" nenne. Aus dieser Perspektive sind die Städte eben keine bürgerlichen Fremdkörper in einer aristokratischen Welt. Ich bin ein großer Fan von Helmut Maurers Begriff der Landes-Vororte (Der Herzog von Schwaben, 1978, S. 33). Maurer bezieht sich auf das Konzept der Stammesvororte von Eugen Rosenstock-Huessy, der bei Schott nicht zufällig als ostfälischer Rechtsbuch-Editor auftritt. Da ist vieles bedenklich (ich muss aus dem Gedächtnis zitieren), aber dass die von den Landesherrschaften später beseitigten Oberhof-Beziehungen bedeutungslos sind, glaube ich nicht. Natürlich baue ich sie (gemeinsam mit Getreide-Maßbezirken) gern umstandslos in mein von Mitterauer inspiriertes Modell der Grafschafts- und "Landes"-Verfassung - angedeutet in:
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5565/ - ein, aber verschiedentliche Lektüre rechtshistorischer Studien zu Rechtszug-Verhältnissen (wobei der räumliche Aspekt regelmäßig unter den Tisch fällt) hat mich vorsichtiger werden lassen. Es ist ja auch kein Zufall, dass ich zum Thema nichts Richtiges publiziert habe, was ich jetzt auch nicht nachholen kann. Nur soviel: Schartau galt als Vorort eines Herzogtums und steht pars pro toto für weitere Orte des Landes Sachsen, die rechtlich in besonderer Weise ausgewiesen sind.
Magdeburg war der Rechts-Vorort des Landes Sachsen und als solcher in Deutschland einzigartig. Das Sachsenrecht besaß in Spätmittelalter und früher Neuzeit erheblich mehr Bedeutung als die anderen ehemaligen "Stammes"-Rechte. Zum schwäbischen Recht darf ich nur auf
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5307/
verweisen.
Ziemlich unvorsichtig möchte ich also eine besondere Bedeutung landrechtlicher Vororte in Ostfalen postulieren, die in anderen Regionen fehlt. In dieser Sicht ist Stadt und Land, wie das Sprichwort will, nicht getrennt, und Magdeburg ist nicht die Kaufmanns-Metropole, sondern landrechtliche Rechts- und Gerichtsstätte ("Magdeburger Schöppenstuhl").
Landrechtliche Prinzipien hat - vor allem anhand des Sachsenspiegels - Georg Droege herausgearbeitet, ohne viel Begeisterung zu finden (Helmut Maurer hat ihn kritisiert), aber für meine Studien zu literarischen Landes-Modellen war sein Buch doch recht hilfreich:
https://books.google.de/books?id=pcvWAAAAMAAJ&pg=PA103
Hier finden wir das Stichwort vom "genossenschaftlichen Verband", das uns hilft, die Brücke zum kurzen Absatz bei Schott über das Bauerding S. 278 zu schlagen.
Natürlich lag es für Wurm nahe, bei der Beschreibung einer öffentlichen Versammlung in Magdeburg, die andernorts Bursprake heißt, auf die Rolle von Bauern abzuheben, aber das Wort, das im Burding/Bauerdings steckt, meint im Kern etwas anderes als den Ackerbauer/Dorfbewohner. Zum folgenden vergleiche man auch das Deutsche Rechtswörterbuch s.v. Bauer:
http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw/e/ba/bauer.htm
Schott zitiert ("Vgl. auch.") den großartigen Aufsatz von Kroeschell über burscap, der eigentlich alles enthält, was wir hier benötigen. Gekürzt bei Google Books:
https://books.google.de/books?id=8V4loMV0un4C&pg=PA171
Nur im niederdeutschen Raum sind die begrifflichen Verbindungen zwischen der Burschaft und der Bürgerschaft so eng. Die Lemgoer Stadtviertel hießen Bauerschaften; Burspraken gab es in Stadt und Land. "Bur" ist genossenschaftlich akzentuierter Oberbegriff für Bürger und Bauern, er meint den Nachbarn als "Nachgebauer" (Heidegger), und es war ausgesprochen klug von Kroeschell, Weitzels großen Wurf, also die Dinggenossenschaft, als gemeinsamen Grund für Bürgerschaft und Bauerschaft zu benennen.
Der wortgeschichtliche Befund zu "Bur" stützt die Verankerung des Rechtssprichworts im niederdeutsch bzw. durch das sächsisch-magdeburgische Recht geprägte Gebiet. Diese Sichtweise von der Gerichtsverfassung her sieht auf beiden Seiten von Zaun und Mauer "Buren": Dinggenossen. Sie ist zugleich die Erklärung (so Schott S. 278) der Unterschiede zwischen Bürgern und "Bauern" (Teil von Bauerding usw.) im Magdeburgischen.
Übrigens stammen alle Belege für burdinc im WMU I, S. 321 aus der Magdeburger Weisung an Breslau. Zum Magdeburger Amt des Buhrmeisters/Bauermeisters:
https://books.google.de/books?id=g7QIaoptLjEC&pg=PA298
Das Deutsche Rechtswörterbuch enthält Belege, die auch Stadteinwohner als "Buren" bezeichnen und zwar nicht als Synonym zu Bürger ("he en si denne bur edder borgher to Horneborch"), was ich hier auf sich beruhen lassen muss.
Das von Eike entworfene Modell sieht sowohl Landsassen als auch Stadtbewohner als Freie, denen landrechtlich Teilhabe zusteht am für Eike so wichtigen Konzept der Freiheit, Das ist Wurms Kontext 1. Zugleich haben beide nichts mit dem ritterlichen Heerschild zu tun. Im Bereich des sächsisch-magdeburgischen Rechts sind ländliche und städtische Rechts-Orte Teil einer landrechtlich-dinggenossenschaft geprägten Raum-Ordnung. Dinggenossen (Buren) gibt es sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern und Zäune. Das ist Wurms Kontext 2.
Das Rechtssprichwort zielt also auf die landrechtlich-dinggenossenschaftliche Einheit von Stadt und Land im sächsisch-magdeburgischen Recht und der vor allem bei Eike greifbaren Rechts-Diskurse der ostfälischen Rechtskundigen.
2. Internationale Ausstrahlung
Schott hat diesen Aspekt nicht thematisiert.
Bei Wander findet sich eine holländische und eine ungarische Version:
http://www.zeno.org/nid/20011555807
Harrebommée 1870 bezieht sich auf die Campener Sammlung von 1550, die außerordentlich abhängig ist von Agricolas Sammlung:
https://books.google.de/books?id=NQA_AAAAcAAJ&pg=PA134
Nach Wurm fehlt für 130 Jahre jede Spur von dem Rechtssprichwort, bis es in Agricolas Sprichwörtersammlung von 1529 wieder auftaucht.
In Ungarn finde ich das Sprichwort bei Gaal 1830:
https://books.google.de/books?id=ledGIas0ZSQC&pg=PA46
Dänische und isländische Fassungen führt auf eine Sammlung "Sprichwörter der germanischen und romanischen Sprachen":
https://books.google.de/books?id=dJdYAAAAcAAJ&pg=PA167
In Island scheint das Sprichwort auf das 17. Jahrhundert zurückzugehen:
http://lexis.hi.is/cgi-bin/ritmal/leitord.cgi?adg=daemi&n=67860&s=77520&l=b%FAri
Sind diese Belege Zeugnisse für einen eigenständigen Zweig der Tradierung (und womöglich für einen juristischen Realitätsgehalt in jenen Ländern) oder einfach nur Rezeptionszeugnisse von Agricolas und der weiteren Sprichwörtersammlungen, in denen das Sprichwort in der frühen Neuzeit erscheint, Beweis ihres großen Erfolgs? Ich denke, letzteres. Hinsichtlich Hollands gibt es ja deutliche Anhaltspunkte, dass die Campener Sammlung es wie viele andere aus Agricola hat. Das Sprichwort kam also als literarische Lesefrucht gemeinsam mit vielen anderen in andere Länder und hat also dort keine spezifische rechtshistorische Bedeutung. Dass es außerhalb der Sammlungen von Juristen beachtet wurde, darf bezweifelt werden.
Johann Glandorp übersetzte Agricolas Sprichwörtersammlung ins Latein und damit auch unser Sprichwort:
Ausgabe 1576:
https://books.google.de/books?id=4KFTAAAAQAAJ&pg=PT368
=
http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10178431_00374.html
Vgl. die Ausgabe Suringars 1874, S. 86
http://solo.bodleian.ox.ac.uk/primo_library/libweb/action/dlDisplay.do?vid=OXVU1&docId=oxfaleph014430214
bzw.
http://dbooks.bodleian.ox.ac.uk/books/PDFs/590954437.pdf
die Stelle (Nr. 174) bequemer bei
https://books.google.de/books?id=CTtCAAAAIAAJ&pg=PA86
Dies leitet über zu einem hübschen Epigramm des Schweizer Dichters Johann Grob aus dem 17. Jahrhundert, das sich Schott entgehen ließ und mit dem ich schließen möchte:
Auf ein Baurenstättlein
Ihr Herren Burger ihr, baut fleissig eure mauren,
Sie scheiden nur allein euch von den schlechten Bauren:
Ich schweer' euch, fallen sie euch durch ein unglük ein,
Daß ihr von stundt an werdt die gröbsten flegel sein.
https://books.google.de/books?id=Yh0yp6kIrroC&pg=PA199
#forschung
Eike
KlausGraf - am Mittwoch, 10. Dezember 2014, 22:24 - Rubrik: Geschichtswissenschaft