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Die UB Giessen sollte sich wirklich schämen, dass sie ihre Digitalisate nur mit erbärmlichen Metadaten ins Netz stellt. Es geht um Hs. 176, deren Hauptinhalt die beiden Geschichtswerke Ottos von Freising sind:

http://digisam.ub.uni-giessen.de/diglit/hs-176

Schon Otto 1842 hatte bemerkt, dass die von zweiter Hand eingetragenen "Auszüge aus anonymer Chronik" aus dem Speculum historiale des Vincenz von Beauvais stammen. Möglicherweise die gleichen Auszüge sind auch im Pariser lat. 18128 saec. XV abgeschrieben.

https://www.google.de/search?tbm=bks&q=%22progenie+soldanorum%22

Wie u.a. in meinem Artikel über Matthäus von Pappenheim

http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/8759/

bemerkt, ist Regensburg, Turn und Taxis Hofbibliothek, Cod. 182 eine Abschrift des Giessensis 176. Dieser aus Neresheim stammende Sammelband des Augsburger Kanonikers enträt bislang einer detaillierten Beschreibung. Ich habe in Regensburg nur einen flüchtigen Blick hinein geworfen, aber Roman Deutinger: Rahewin von Freising (1999), S. 33-35 gibt wertvolle Hinweise.

Weder die ausführlichste gedruckte Mitteilung (von Mone 1838)

http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/periodical/pageview/280396

noch die Notiz von Jutta Krimm-Beumann im DA 1977

http://www.digizeitschriften.de/link/00121223/0/33/59

nennen den Augsburger Sammler. Wie ich schon in meiner Rezension des Schauerte-Buchs bemerkte, hätte die Regensburger Handschrift 182 ihm nicht entgehen dürfen.

http://archiv.twoday.net/stories/235545054/

Bekannt ist, dass Cod. 166 und 184 der Thurn und Taxis Hofbibliothek von Pappenheim stammen. Reber edierte 1872 aus Cod. 182 ein Celtis-Gedicht. In seinen Vorbemerkungen spricht Graf Walderdorff von mehreren Bänden, die via Neresheim aus der Bibliothek Pappenheims nach Regensburg gelangt seien, nennt aber konkret später nur einen weiteren Band.

http://www.nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:355-ubr02392-0226-9

Ich habe im handschriftlichen Regensburger Handschriftenkatalog keine weiteren Hinweise auf Pappenheim-Manuskripte gefunden, aber man man müsste natürlich die vielen Regensburger Handschriften der Bibliothek (und womöglich auch die Druckwerke) genau durchgehen.

Hier genügt die Angabe Deutingers, dass sowohl die Constitutio de expeditione Romana (eine Reichenauer Fälschung des 12. Jahrhunderts, wozu jetzt Pokorny: Augiensia 2010 zu vergleichen, zur Überlieferung Mordek

http://www.leges.uni-koeln.de/wp-content/uploads/pdf/auszuege_mordek/mordek_muenchen-bsb-lat-5260.pdf ) als auch die gleich zu nennenden Genealogica für den Regensburger Cod. 182 aus der Giessener Handschrift 176 kopiert wurden (letztere Cod. 182 Bl. 226r-227v laut Deutinger S. 33 Anm. 18).

Der kostbare Inhalt der Hs. 176 auf den Blättern 234r

http://digisam.ub.uni-giessen.de/diglit/hs-176/0469

bis 235r wird durch die (aus Adrian übernommenen) Metadaten des Digitalisats kaum angedeutet.

Bl. 235r steht der Schreibervermerk des Erasmus Sayn von Freising [14]70, der nach Sigrid Krämer (Scriptores-Datenbank) und Deutinger S. 32 1456 in Wien studierte und noch zwei weitere Codices schrieb: 1461 den Münchner Clm 19543 ursprünglich aus Weihenstephan und 1466 den Clm 17276 für Schäftlarn. (Ich meine in neuerer Sekundärliteratur gelesen zu haben, dass er ein Freisinger Kanoniker war, finde das Zitat aber nicht wieder.)

Bl. 234r enthält zwei kurze lateinische Genealogien, Bl. 234v eine Zollern-Genealogie, gemeinsam ediert unter dem wenig präzisen Titel "Genealogiae comitum et marchionum saec. XII et XIII" MGH SS 24, S. 77f.

http://www.dmgh.de/de/fs1/object/goToPage/bsb00000866.html?pageNo=77 (MGH-Permalinks sind gerade offline)

Wenig befriedigend ist auch die Ansetzung der "Geschichtsquellen": Genealogiae comitum Zolrensium et marchionum Anhaltinorum

http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_02406.html

Weiland datierte die keineswegs fehlerlose Quelle noch in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts

http://www.digizeitschriften.de/link/0179-9940/0/4/63

Viel Beachtung fand die Zollern-Genealogie, die in der Genealogie des Gesamthauses Hohenzollern (1905), S. 137 und von Rudolf Seigel in der Zs. für Hohenzollerische Geschichte 92 (1969), S. 33 (Abbildungsunterschrift) um 1200 angesetzt wird. Seigel S. 34 gibt eine Liste der Abdrucke und wichtigen Sekundärliteratur der erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten Aufzeichnung und hätte daher von den "Geschichtsquellen" nicht übersehen werden dürfen.

Bl. 234v-235r enthalten bayerische Annalen bis 1322 und zwar die in MGH SS 24, S. 61f. recht forsch als "Annales Burghausenses" edierten, bei denen es sich gemäß Michael Müller: Die Annalen ... (1983), S. 159 um die wohl in Raitenhaslach entstandenen Zisterzienserannalen handelt, die hier mit einer Fortsetzung 1312-1322 versehen sind. Bei Müller und den Geschichtsquellen wäre (mit Moeglin: Ancêtres S. 261) Erbe: Schlacht bei Mühldorf nachzutragen.

http://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uc1.a0002165793;view=1up;seq=344 (US)

Die dort genannte Überlieferung der Zisterzienserannalen im Wiener Cod. 1042 aus dem Zisterzienserkloster Rein und der Abdruck bei Denis 1793

http://manuscripta.at/_scripts/php/cat_onb2pdf.php?cat=denis&vol_page=1-1%20167-175

ist Müller entgangen.

Zurück zu den Genealogien! War Erasmus Sayn ein Vorläufer des Matthäus Marschalk von Pappenheim, den ich ja mit Sunthaim und Mennel als einen der Väter der modernen Genealogie in Deutschland ansehe, oder ein Kopist, der einfach ein bestehendes Korpus kopierte (seine Otto-Abschriften gelten als schlecht)? Eine schlüssige Antwort darauf gibt es nicht, da wir die unmittelbare Vorlage Sayns nicht kennen und auch der Entstehungszusammenhang der genealogischen Texte völlig unklar ist.

Dass ein Autor des 15. Jahrhunderts die Genealogien aus alten Quellen zusammengestellt hat, möchte ich (mit der bisherigen Forschung) ausschließen. Wir haben es also mit hochmittelalterlichen Texten zu tun, die aber bisher allenfalls als genealogische Faktenquellen verwendet wurden.

Schon ein Blick auf die Literaturlisten der zum Schlagwort Genealogie vorhandenen Artikel der Geschichtsquellen

http://www.geschichtsquellen.de/schlagwsuche.html?schlagw=Genealogie

zeigt, dass man - mit Ausnahme der "Genealogia Welforum" - sich kaum mit den spröden genealogischen Aufzeichnungen befasst hat.

Eine genaue Lektüre der drei Genealogien wäre dringend wünschenswert. Einige vorläufige Beobachtungen: Genealogie 1 beschreibt die Deszendenz des "Albertus de Hanbalde" (Anhalt) in Form von fünf Söhnen und zwei Töchtern. Das ist Albrecht der Bär:

https://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht_I._(Brandenburg)

Aber die Angaben sind fehlerhaft, merkte schon der Editor Waitz an. Das betrifft den angeblichen Sohn Friedrich samt dessen Sohn Albert und eine Landsberg-Ehe. Dass eine Tochter Äbtissin von Quedlinburg geworden sein soll, könnte zu dem Umstand passen, dass die Schwester Beatrix der Mutter (Sophie, meines Erachtens NICHT eine Winzenburg!) ebenfalls dieses Amt bekleidete.

Eine Tochter heiratete einen Markgrafen (Otto) von Meißen, und das Haus Wettin ist Thema der zweiten Genealogie. Es geht um die Deszendenz von Konrad I., dessen Sohn Otto bereits ohne Vornamen in Genealogie 1 erwähnt wurde. Die Kinder Albrecht, Dietrich und Adela erscheinen in beiden Genealogien, was dafür spricht, dass Genealogie 2 eine separate Aufzeichnung war.

Die Genealogie 3 betrifft die Nachkommen des Burkhard von Zollern. Auch sie ist nicht ohne Fehler. Der mit einer Zollerin verheiratete Graf Werner ohne Geschlechtsbezeichnung ist Graf Werner von Homberg:

http://retro.seals.ch/digbib/view?pid=arg-001:1977:89::41

"Gotfrido de Mar" ist Gottfried von Marstetten (gestorben 1208):

https://de.wikipedia.org/wiki/Ronsberg_(Adelsgeschlecht)

Schreiber und Annalenherkunft weisen auf den altbayerischen Raum. Wieso trug ein hochmittelalterlicher Schreiber am Anfang des 13. Jahrhunderts die Genealogien der die Markgrafschaften Brandenburg (Askanier) und Meißen (Wettiner) zusammen und kombinierte sie mit der Genealogie der schwäbischen Zollern? Genealogien wurden gern in Hausklöstern gepflegt, aber trotz gewisser nach Süden reichender Namen (Andechs-Meranier, Vohburg, Görz in Genealogie 2) findet sich kein Kloster, das zu den drei Familien passt.

Verlockend ist es natürlich, von den glanzvollen Andechs-Meranier-Ausstellungen in den 1990er Jahren auszugehen und bei Agnes von Rochlitz, der Mutter der hl. Hedwig und Gemahlin Bertholds IV. anzusetzen. Dann wären wir in Altbayern bei der Memoria der Dießener Chorherren. Undenkbar wäre es nicht, dass man im Hoch- oder Spätmittelalter in Dießen sich für die sächsischen Vorfahren der hl. Hedwig bzw. der Agnes interessiert hat. Zu den Askaniern führt aber keine direkte Verbindung. Albrecht der Bär war auch nach Angabe der Genealogie 1 kein Vorfahr der Agnes/Hedwig. Und wieso hätte man sich in Dießen für die Zollern interessieren sollen?

Die Causa Scribendi bleibt ein Rätsel, sowohl was die drei Einzeltexte (Askanier, Wettiner, Zollern, um moderne Bezeichnungen zu gebrauchen) als auch die Zusammenstellung angeht. Mittelalterliche Genealogen hatten sich vor allem auf ein Adelsgeschlecht konzentriert, dem sie sich verbunden fühlten. Sunthaim, Mennel und Pappenheim (übrigens auch Rüxner) erforschten aber in der Zeit Maximilians I. die Genealogien vieler Familien. Darum war der Zugriff auf den Codex des Erasmus von Sayn für Pappenheim besonders wertvoll. (Es bleibt natürlich zu überprüfen, ob Pappenheim die drei Genealogien tatsächlich verwertet hat. [Rudolf Seigel hatte mir dazu schon etwas mitgeteilt: Nicht nur Pappenheim benutzte Sayn für die Zollern-Genealogie, sondern auch Rüxner http://archiv.twoday.net/stories/6476722/ ]

Quellennahe Medävistik darf gern eine Pause einlegen, wenn es um die Erforschung des welfischen Selbstverständnisses geht, und sich endlich den Genealogien der Giessener Handschrift zuwenden.

#forschung

 

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