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Mir flatterte ex dono auctoris ein Sonderdruck ins Haus von: Mark Mersiowsky: Medien der Erinnerung in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt. In: Stadt zwischen Erinnerungsbewahrung und Gedächtnisverlust (2015), S. 193-254

Der seit Ende letzten Jahres in Stuttgart lehrende Historiker nimmt sich ein Thema vor, mit dem ich mich selbst verschiedentlich beschäftigt habe. Mit meinen Arbeiten zu Erinnerungsfesten in der Stadt und dem Schlachtengedenken hätte ich "wichtige Überlegungen angestellt, die die Grundlage unserer Darlegungen bilden müssen" (S. 206). Zwergenhaftes Gedankenwerk wird entscheidend veredelt, wenn ein Geistesriese wie ein deutscher Professor es sich aneignet.

Um gerecht zu sein: M. hat eine Reihe von interessanten Zeugnissen ausgegraben, die mir unbekannt waren. Er hat fleißig neue stadtgeschichtliche und allgemeine methodische Literatur zum modischen Thema Erinnerung bibliographiert und auch meine eigenen Studien umfangreich zur Kenntnis genommen. Als Synthese der (auch bei mir) doch recht verstreuten Forschung stiftet sein Beitrag Gewinn.

Einige ergänzende Notizen seien mir erlaubt.

Zu den Anm. 22 genannten Arbeiten ab 1994 über Prozessionen und Rituale sei angemerkt, dass schon meine erst in Anm. 48 zitierte Studie zum Schlachtengedenken die Impulse Trexlers und anderer aufnahm.

Online-Nachweise meiner Arbeiten:

http://archiv.twoday.net/stories/4974627/

Zu den von M. zitierten Arbeiten zum Schlachtengedenken kommt hinzu das kurze Nachwort (2001) zu Graf 1991 auf meiner ehemaligen Website:

http://web.archive.org/web/20070609170714/http://www.histsem.uni-freiburg.de/mertens/graf/riten.htm

und die kleine Studie über Crailsheim (1997)

http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:25-opus-54151

M. erwähnt Anm. 27 meinen Bautzener Vortrag von 2013, zu dem noch kein ausgearbeiteter Text existiert und bezieht sich auf eine Kurzzusammenfassung in Archivalia

http://archiv.twoday.net/stories/640155315/

M.s Esslinger Vortrag von 2010, Grundlage der jetzigen Publikation, war mir bis jetzt nicht bekannt.

Anm. 46 zitiert wird Graf: Justiz und Erinnerung 2002; Anm. 47: Erinnerungfeste 2003; Retrospektive Tendenzen 1996; Anm. 48 Schlachtengedenken 1989; Riten 1991 - während er sonst - anders als von mir empfohlen - das PDF auf dem Schriftenserver zitiert, wählt er hier die Frontdoor/Landing Page. Ärgerlicherweise hat die UB Frankfurt ohne Weiterleitungen meine Texte verschoben. Neuer Link:

http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:hebis:30-1145517

Der in Anm. 48 zitierte Aufsatz Der Adel dem purger tregt haß (2000) ist ebenfalls online in Frankfurt verfügbar:

http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:hebis:30-1145495

Anm. 53 Ursprung und Herkommen 2001 nun
http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:hebis:30-1137987

Anm. 54 Meine Dissertation Exemplarische Geschichten (1987) gibt es sogar mehrfach online.

Anm. 56 Heroisches Herkommen (zu Worms)
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:25-opus-53061

Anm. 176 Das leckt die Kuh nicht ab
Auch http://archive.is/Afmyb

Weiter werden von mir angeführt: Anm. 110 Trutwin (²VL); Anm. 214 Stil als Erinnerung. In 48 der 270 Fußnoten werde ich zitiert (18 %).

Anm. 33: Zur Theorie der Stadt wäre zu nennen gewesen Ulrich Meier: Mensch und Bürger. Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen (1994).

S. 207f. Zu Karl dem Großen als Stifter und Stadtpatron (?) von Frankfurt am Main vgl. auch Karl der Große als vielberufener Vorfahr (1994), daraus der einleitende Überblick online
http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2008/600

Anm. 63 Exemplarische Geschichten S. 199f. bezieht sich auf das Tanzfrevel-Exempel. Ausführlicher dazu

https://de.wikisource.org/wiki/Die_Mordgrube_zu_Freiberg#Untergang_des_Suggentals

Anm. 65 Zum Schwäbisch Gmünder Turmeinsturz 1497:

http://web.archive.org/web/20070609171858/http://www.histsem.uni-freiburg.de/mertens/graf/hollb.htm
Graf 1989
http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/536/

Anm. 81 Zur Schlacht von Reutlingen ohne Kenntnis der Arbeit von Rüther 2009
Klaus Graf: Urschel, Nachtfräulein und andere Gespenster. Überlieferungen und Sagen in Reutlingen und Pfullingen, in: Reutlinger Geschichtsblätter NF 50 (2011), S. 209-250
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:25-opus-87584

Im Reutlinger Rathaus waren wohl die städtischen Gefallenen der Schlacht von Reutlingen 1377 in den Fenstern mit ihren Wappen verewigt. Dass Rathäuser als Vorläufer der Stadtmuseen fungierten, hätte M. erwähnen können. Ich begnüge mich mit einem Hinweis auf die "Kuh" (Wiedertäufer-Reliquien in Münster und weitere Beispiele). Im Erfurter Rathaus zeigte man eine Mönchskutte, die einem Brandstifer von 1472 gehört haben soll.

http://www.erfurt-lese.de/index.php?article_id=342

Im Schweinfurter Rathaus erinnern Wandbilder und Inschriften noch heute an den Fang zweier denkwürdiger Störe 1575 und 1593

http://www.schweinfurtfuehrer.de/sehenswertes/rathaus/ (mit Abbildungen)

[Lünener Stadtbuch enthält Zeichnung eines 1549 in der Lippe gefangenen Störs
https://books.google.de/books?id=RAA00sr0ENYC&pg=PA296 ]

Wenn ich kurz abschweifen darf: Das Amsterdamer Rijksmuseum verwahrt das Ölbild eines Riesenrettichs aus dem Jahr 1626, der, wie eine beigefügte Inschrift bekundet, nicht weniger als siebeneinhalb Pfund wog. Als mich Gerd Schwerhoff zu einem Vortrag "Städtische Erinnerungskultur in der frühen Neuzeit" in Dresden am 31. Mai 2001 einlud, servierte ich den TeilnehmerInnen seines Seminars einen Rettich, damit sie sie sich an meine Ausführungen erinnern sollten. Als Bonus gebe ich meine unveröffentlichten (ungeänderten) Vortragsaufzeichnungen bei, wobei dem kundigen Leser der eine oder andere Textbaustein aus meinen gedruckten Schriften nicht entgehen dürfte. Auch wenn es sich streckenweise um Stichworte handelt, möchte ich nicht ausschließen, dass sie nützlich sein können.

S. 215 Zu Liedern in den Burgunderkriegen siehe auch meine Quellenkunde

https://de.wikisource.org/wiki/Burgunderkriege

Anm. 88 Zum kommunalen Votivwesen wäre einschlägiger gewesen mein Aufsatz über Maria als Stadtpatronin von 2002, S. 146-150 (Abschnitt "Kommunale Votivpraxis im Mittelalter"). Online:

http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2007/373

Anm. 96 Ab hier wird die Studie von Landolt 2012, die derzeit komplett bei Google Books lesbar ist

https://books.google.de/books?id=1SD_Ml9l8usC&pg=PA69

und neben dem Buch von Regula Schmid (Geschichte im Dienst der Stadt, 2009) die Hauptquelle für die Ausführungen zum Schweizer Raum für M. darstellt, mit falschem Bezug zitiert. Es muss "wie Anm. 76" heißen, nicht "wie Anm. 21".

S. 219f. Zu den Ereignissen rund um Korbach und die Padberg-Fehden siehe auch die Waldeckische Chronik Kluppels S. 46, ein lange in Korbach begangener Schlachtenjahrtag S. 48

http://www.mgh-bibliothek.de//dokumente/a/a011534+0002.pdf

Der bis zur Reformation begangene Reginentag wurde 1995 revitalisiert:

https://padbergerfehde.wordpress.com/about/
https://padbergerfehde.files.wordpress.com/2012/02/2013_05_25_wlz-grc3a4fin-pb.pdf

Zu einem vom Paderborner Bischof anlässlich einer früheren Padberg-Fehde 1392 eingeführten Feiertag vgl. Rainer Decker in: Kloster - Stadt - Region (2002), S. 244.

S. 221 M. zitiert Preisnotizen des Esslinger Arztes Trutwin aus Innsbruck, UB, Cod. 141, Bl. 1v. Auf diese annalistischen Aufzeichnungen hatte ich 1995 im ²VL aufmerksam gemacht. Unabhängig von mir hatte Walther Ludwig über Truwin im gleichen Jahr seinen Aufsatz publiziert, ohne die von mir nachgewiesenen Handschriften Trutwins in Innsbruck und Stams zu kennen. Ein Nachtrag 2015:

http://archiv.twoday.net/stories/1022417265/

Zu Inschriften mit Preis-Nachrichten hätte man unbedingt Hartmut Boockmann: Die Stadt im späten Mittelalter (3. A. 1994), S. 200 Nr. 308f. nennen müssen. Ein weiteres Beispiel von inschriften.net

http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0238-di049mz06k0008900

Das Erinnerungsfeld "Bauen" wird von M. nicht eigens thematisiert. Neben Bauinschriften wären etwa die in der frühen Neuzeit so beliebten Turmknaufurkunden zu nennen, aber auch Fenster- und sonstige Stiftungen für Rathäuser, die es nicht nur in der Schweiz gab.

S. 223 spricht M. unter Berufung auf Gerd Schwerhoff von einem "Medien-Mix". Das mediale Bündel sei notwendig gewesen, "sollte die Erinnerung sowohl fixiert als auch weit verbreitet werden" (S. 223, weitere Erwähnungen des Medien-Mixes S. 211, 217, 253 mit fast wörtlicher Wiederholung der Formulierung von S. 223). Medien-Mix klingt flott, ist aber ein Begriff aus der Werbesprache. Hier müsste man noch genauer Hinsehen: Welche Medien wurden wann kombiniert?

S. 227 Die (von mir angeregte) Dissertation von Eberhard Nikitsch über Dionysius Dreytwein erschien gedruckt in: Esslinger Studien 24 (1985), S. 1–210.

S. 230f. Zur Rückkehr der Kundigen Rulle nach Bremen:

http://archiv.twoday.net/stories/894826975/

S. 231f., 249f. geht es um Inschriften, über die man sicher noch mehr sagen hätten können. Aber der dezidierte Hinweis auf diese Quellengruppe ist willkommen. Für sie als Geschichtsquellen zu werben ist mir ein besonderes Anliegen:

http://archiv.twoday.net/stories/38735149/
http://archiv.twoday.net/stories/38735546/
https://ordensgeschichte.hypotheses.org/5502

S. 232 Eine Holztafel mit Geschichtsereignissen in der Marktkirche Hannover besprach Karljosef Kreter in seiner Dissertation von 1996

http://d-nb.info/960992081/34

Eine Arbeit, die M. lehrreiche Einsichten zu frühneuzeitlichen Erinnerungsmedien vermittelt hätte, wie man überhaupt feststellen muss, dass die jüngeren Studien zu frühneuzeitlichen Stadtchroniken von M. kaum rezipiert wurden, einschließlich meiner Magisterarbeit von 1984 zu den Schwäbisch Gmünder Chroniken, die online mehrfach einsehbar ist:

https://books.google.de/books?id=PoAgAAAAMAAJ

S. 233 zu den Ratsannalen von Toulouse

http://archiv.twoday.net/stories/2981631/

Zu Bürgermeisterzyklen sei auch an Bürgermeisterlisten mit historiographischen Notizen erinnert (vgl. meine Gmünder Chroniken).

Neben den Lübecker Bürgermeisterporträts wäre die Online-Präsentation der Regensburger Porträts zu nennen gewesen:

http://gams.uni-graz.at/archive/objects/context:rpb/methods/sdef:Context/get?mode=home

Zur wichtigen Rolle der Heraldik in der frühneuzeitlichen städtischen Erinnerungskultur äußert sich M. nicht.

S. 236 Zu Hauszerstörungen und Schand-Säulen hätte der Aufsatz von Robert Jütte: Kommunale Erinnerungskultur und soziales Gedächtnis in der Frühen Neuzeit. In: Köln als Kommunikationsraum (2000), S. 453-472 nicht entgehen dürfen. Ausführlicher als bei Graf: Justiz ist das Thema in Graf: Kuh behandelt.

S. 238 Zum Armagnaken-Gedenken in Gebweiler im Elsass hat M. meine Ausführungen 2002, die jetzt auch in Archivalia zur Verfügung stehen, übersehen:

http://archiv.twoday.net/stories/235549032/

Zum Reutlinger Mauerbrecher habe ich das Material in meinem oben zitierten Urschel-Aufsatz 2011 dokumentiert.

S. 239 Zum Gedenkgebäck der Horaffen in Crailsheim siehe meinen oben angeführten Aufsatz über Crailsheim.

S. 240 Obwohl ich in Tübingen studiert habe, habe ich die pseudo-romanischen Spolien nie wahrgenommen.

S. 242 zu nachträglicher Anknüpfung von Traditionen an Objekte im Stadtraum, die so zu "Erzähl-Malen" wurden, findet sich viel Material in der "Kuh" aaO.

Zu der dort erwähnten Grazer Türkensage zitiert M. auch

http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/graz-der-%E2%80%9Aturke-am-palais-saurau-in-der-sporgasse/

Im 7. Abschnitt "Die Stadt als multipler Erinnerungsraum" (S. 242-251) geht es um das Verhältnis der verschiedenen Erinnerungsträger in der Stadt, zunächst um die Familien, dann um die Handwerker (in Anlehnung an das Buch von Patrick Schmidt: Wandelbare Traditionen - tradierter Wandel) und dann wieder um die Familien.

Zur Traditionsbildung der frühneuzeitlichen Patrizier vermisse ich das Buch von Michael Hecht: Patriziatsbildung als kommunikativer Prozess (2010). Hier findet man auch Einiges über die von Matthias Lentz in einer leider bislang ungedruckt gebliebenen Bielefelder Abschlussarbeit intensiv untersuchte Lüneburger Ursulanacht, die M. mehrfach erwähnt.

S. 243-245 geht M. vergleichsweise ausführlich auf Hermanns von Weinsberg Projekt einer "Hausstiftung" ein, verkennt aber - ebenso wie Schwerhoff in der Rüthing-Festschrift Kloster - Stadt - Region (wie oben) - das adelige Vorbild des Fideikommisses. Wem diese Rechtsfigut gar nichts sagt, der wird auch die vielen Meldungen in Archivalia

http://archiv.twoday.net/search?q=fideikommiss

nicht zur Belehrung nutzen können. Zur familiären Erinnerungskultur der frühen Neuzeit gehören patrizische Fideikommisse und Familienstiftungen (einschließlich der zu wenig beachteten Studienstiftungen - neulich erschien endlich Gudrun Embergers lang erwartete Dissertation über das Tübinger Martinianum). In Nürnberg gab es schon im Spätmittelalter sogenannte Vorschickungen, um ein Stammgut auf Dauer zu sichern. Den kurzen Wikipedia-Artikel Vorschickung habe ich vor Jahren angelegt:

https://de.wikipedia.org/wiki/Vorschickung

S. 247f. zu Handwerker-Traditionen siehe auch

https://de.wikisource.org/wiki/Schembartlauf
http://archiv.twoday.net/stories/640153751/

S. 248 Wenn man die Zunftstube der Reutlinger Weinbauern nennt, sollte man das wichtigere Beispiel der Augsburger Weberstube (von Jörg Rogge in der Schreiner-Festschrift Mundus in imagine behandelt) nicht unterdrücken.

http://www.bayerisches-nationalmuseum.de/webgos/bnm_online.php?seite=5&fld_0=00222218

S. 251-254 sind zusammenfassende Schlussbemerkungen. Die von mir eingeführten Kategorien Stiftergedenken, Katastrophengedenken und Konfliktgedenken hätten sich als sinnvoll erwiesen (S. 252), lese ich erfreut. S. 253 stimmt M. mir zu: Ich hätte ganz zu Recht die Stadt als Erinnerungsgemeinschaft gesehen, nur dürfe man sie nicht als monolitische Erinnerungsgemeinschaft missverstehen. " Die Stadt war ein multipler Erinnerungsraum". Falls jemand mit meinen Arbeiten nicht vertraut ist, darf ich beruhigen: Ich habe dies nicht getan, sondern im Gegenteil auf die von M. unterstrichenen Interdependenzen zwischen den Erinnerungskollektiven der Stadt mehrfach aufmerksam gemacht. Bei den Erinnerungskollektiven vermisse ich die Kirchen und Klöster, wie überhaupt die konfessionelle Erinnerungskultur zu kurz kommt.

Generell wird, was der Mediävist M. selbst weiß, die frühe Neuzeit viel zu kurz abgehandelt, auch wenn der Einstieg ein mir unbekanntes Erinnerungsfest zur Wiedereinweihung der Jakobi-Kirche als evangelisches Gotteshaus in Herford 1590 betrifft (S. 193f.). Charakteristische Erinnerungsformen wie die Jubiläen fehlen.

Ich darf ergänzend auf meine Vortragsaufzeichnungen im Anschluss verweisen. Eine Studie zur katholischen konfessionellen Erinnerungskultur in Schwäbisch Gmünd bereite ich seit Jahren vor. Eine besondere Rolle spielte das Wunder, Gottes Gnadenbeweis für den rechten katholischen Glauben. Einstweilen findet man wichtige Belege verstreut in meinen "Gmünder Chroniken" und als Quelle online die Schrift von Friz 1620:

http://archiv.twoday.net/stories/232601530/

Zu wenig erfährt man bei M. über die Funktion oder Aufgabe der Erinnerungen, insbesondere den Bezug auf die städtischen Grundwerte, allen voran auf die Stadtfreiheit. Dazu - und zum Verhältnis der Städte zum Adel - habe ich zuletzt in der "Urschel" etwas geschrieben. M. lässt sich ein wenig zu sehr vom bunten Medien-Kaleidoskop der Memorabilien blenden.


***

Klaus Graf: Städtische Erinnerungskultur in der frühen Neuzeit

Dresden 31.5.2001

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich habe mein Referat in fünf Abschnitte eingeteilt, und beginne sofort mit dem ersten.

1. Von Rettichen, Memorialgebäck, Ohrfeigen und Hirschgeweihen - Nutzen und Nachteil einer kulinarisch-dilettierenden Kulturgeschichte des Erinnerns

Das Amsterdamer Rijksmuseum verwahrt das Ölbild eines Riesenrettichs aus dem Jahr 1626, der, wie eine beigefügte Inschrift bekundet, nicht weniger als siebeneinhalb Pfund wog. Frans Grijzenhout nennt diese Verbildlichung einer Rarität die “gezielte Verewigung eines profanen Wunders”.

Vergleichbares findet sich auch andernorts: etwa im Schweinfurter Rathaus das Bild eines besonders großen Fisches, den man im 16. Jahrhundert gefangen hat.

Hätte man den Rettich konservieren können, so wäre er wohl ein erlesenes Sammlungsstück einer Kunst- und Wunderkammer geworden. Aber vergänglich wie er war, wurde er nur im Medium der Malerei verewigt.

Für den Romancier Marcel Proust war ein in Tee getauchtes französisches Gebäckstück, eine Madeleine, Ausgangspunkt einer überraschenden unwillkürlichen Erinnerung, die ihn zu seiner epischen Suche nach der verlorenen Zeit veranlaßte.

Rettich-Verzehr

Von ganz anderer Art ist die Wirkung, die ich mir von diesem Ihnen kredenzten Rettich erhoffe. Es ist eine bewußt inszenierte Erinnerung: Sie sollen diese Stunde nie mehr vergessen, und immer wenn Sie den leicht beissenden Geschmack eines Rettichs verpüren, meiner Ausführungen zur städtischen Erinnerungskultur der frühen Neuzeit eingedenk sein.

Gemeinschaftsstiftender Rettich-Verzehr ist eine Erfindung von mir, die sich freilich anlehnt an eine vormoderne Praxis der Einprägung von Erinnerung nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Ohrfeige.

Beispielsweise gab es im hessischen Amöneburg zum jährlichen Stadtfeiertag, der an die gescheiterte Ersteigung der Stadtmauern bei einem Überfall erinnern sollte, die sogenannten "Steigerwecken", und auch in Greifswald überlieferte das "Weckenfest", bei dem an die Schüler der Stadtschule besondere Brote ausgeteilt wurden, das Wissen um einen glorreichen Sieg der Stadt im Jahr 1327.

Dieses bei besonderen Anlässen verteilte Memorialgebäck geht zurück auf die mittelalterliche Praxis der liturgischen Memoria, auf die Armenspende.

Auch der Auswurf von Gedenkmünzen, sogenannter Denkpfennige, sollte ein bestimmtes Ereignis den Beteiligten unvergeßlich machen.

[In den gleichen Kontext gehört etwa auch der sogenannte Weinkauf, eine Rechtspraxis, die die Gültigkeit eines Rechtsgeschäftes an einen gemeinsamen Trunk knüpfte. “Verboten”]

Der angenehmen sinnlichen Erfahrung eines degustatorischen Genusses stand der Erinnerungs-Schmerz gegenüber, den eine kräftige Ohrfeige dem Körper von Kindern und Jugendlichen einschrieb, wie man mit Blick auf die Körpergeschichte formulieren könnte. (Sie merken schon: Die Erinnerungsgeschichte ist extrem anschlußfähig.)

Die Ohrfeige war vor allem bei ländlichen Grenzumgängen üblich. Kinder und Jugendliche sollten sich mit der Ohrfeige zugleich an den genauen Verlauf der Grenze erinnern. Ihnen wurde also eine leicht traumatisierende Erfahrung im Dienste der auf der Mündlichkeit beruhenden Gedächtniskultur zugemutet.

Frühmittelalter: Kennzeichen des bayerischen Rechtsgebiets “testes per aures tracti”

War der Riesenrettich womöglich die bürgerliche Variante des adeligen Trophäenkults, der sich in imponierenden Geweihsammlungen, heute noch Inventar zahlloser Schlösser, manifestierte?

Geweihe spielten in der Tat eine große Rolle in der höfischen Erinnerungskultur der Jagd, die erst um 1500 einsetzt. Vor 1500 wird man auf kaum einer Burg solche Geweihsammlungen angetroffen haben.

Weitere Medien: Schießregister, Willkommenbücher, bildliche Darstellungen des erlegten Wilds

Aber auch im stadtbürgerlichen Kontext war das Sammeln von Geweihen sehr beliebt. So besaß Dürer etwa eine Geweihsammlung ebenso wie Nürnberger Patrizier seiner Zeit.

An den Wänden der adeligen Geschlechtergesellschaft zur Katz in Konstanz hingen Hirschgeweihe wohl als Hinweis auf die Jagd als adeliges Standesprivileg. Da 1619 ihr Erwerb bezeugt ist, haben die vornehmen Gesellen sie nicht selbst geschossen.

Hirschgeweihe begegnen aber auch in normalen Wirtshäusern, Susanne Rau war so freundlich, mich darauf hinzuweisen. Wir müssen mit einer ständigen Ambivalenz solches Raumschmucks rechnen: Einerseits ist er ästhetischer Dekor, offenbar große Mode bei allen Ständen, andererseits soll er immer auch den Eindruck erwecken, eigenes Jagd-Andenken zu sein.

Der Erinnerungsaspekt versieht die Geweihe sozusagen mit einem autobiographischen Ausrufezeichen, er bezieht sie in die eigene familiäre Lebenswelt ein. Geschichten konnten sich an die “gehürne” knüpfen, ob Jägerlatein oder die reine Wahrheit, sei dahingestellt.

Adelige und stadtbürgerliche Erinnerungskultur der Jagd stehen in einer Wechselwirkung. Dies erscheint mir ein wichtiger Gesichtspunkt: Wer nach der städtischen Erinnerungskultur fragt, darf die Erinnerungskulturen der Höfe, der gelehrten Welt und ihrer Bildungsinstitutionen sowie die der ländlichen Gesellschaft nicht ganz aus dem Blick verlieren.

Eine Kulturgeschicht des Erinnerns hat den unbestreitbaren Vorteil, daß sie den Blick weitet, inbesondere auf Objekte der materiellen Kultur, die kaum einmal beachtet werden. Sie kann auf die Faszination des Exotischen und uns Fremden setzen und auf die sinnliche Erfahrung. Sie kann demonstrieren, daß die Erforschung der frühen Neuzeit keine blutleere Angelegenheit zu sein braucht, sie darf so farbig und bunt sein wie das Leben jener Zeit. Sie kann sich dabei auf den zeitgenössischen Begriff der Neugier oder Curiositas berufen, bekanntlich ein Leitmotiv frühneuzeitlicher Erfahrung. Kurzum: die Geschichte der Erinnerungskultur darf den Wonnen der Neuen Kulturgeschichte ungezügelt huldigen. Man könnte sie kulinarisch (im Sinne Brechts) nennen oder auch - weniger streng - als Edutainment verstehen.

Die Nachteile eines solchen kulinarischen Konzepts liegen freilich auf der Hand. Als Sammelsurium von Kuriositäten, mit einer gewissen Beliebigkeit zusammengestellt und ohne präzise Fragestellung, läuft die Erforschung der Erinnerungskultur Gefahr, die Fehler der alten Kulturgeschichte, die weitgehend konzeptlos Material anhäufte, zu wiederholen.

Hinzu kommt: Erinnerung ist ausgesprochen in, wenngleich vor allem in Bezug auf das 19. und 20. Jahrhundert. Es konkurrieren mit Erinnerungskultur weitere modische Begriffe: Geschichtskultur, Memorialkultur, Gedächtniskultur, Gedenkkultur. Traditionskultur habe ich zwar, soweit ich mich erinnere, noch nie gelesen, aber es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Kultur den Begriffsraum der Geschichtswissenschaft betritt.

Ist Erinnerungskultur dabei, ein “Plastikwort” im Sinne von Uwe Pörksen zu werden?

Vergleichende empirische Forschungen zu vormoderner Erinnerungskultur sind leider ausgesprochen rar, denn es dominieren in der Debatte um vormoderne Erinnerung geistes- und theoriegeschichtliche Ansätze (Aleida Assmann). Diese haben aber auch nur Teilbereiche ausgeleuchtet.

Die Existenz des Gießener Sonderforschungsbereichs “Erinnerungskulturen” mag es als Hybris erscheinen lassen, wenn ich mich als Einzelner dem gesamten Feld vormoderner Erinnerungskultur in der Stadt zu nähern wage.

Robert Jütte hat sich denn auch in seinem im letzten Jahr erschienenen Aufsatz mit dem programmatischen Titel “Kommunale Erinnerungskultur und soziales Gedächtnis in der Frühen Neuzeit” in kluger Beschränkung nur dem Gedenken an Bürgeraufstände in Aachen, Frankfurt am Main und Köln zugewandt.

Wer sich nicht beschränkt, muß dilettieren. Er darf sich allenfalls mit der Etymologie des Wortes Dilettant trösten, denn damit ist ursprünglich der Liebhaber einer Sache gemeint. Daß es der entschwundenen Kundigkeit eines barocken Polyhistors bedürfte, den ganzen Bereich frühneuzeitlicher Erinnerungskultur auszumessen, soll mein zweiter Abschnitt zeigen.

2. Medien, Felder und Träger des Erinnerns

Peter Burke hat in seinem Aufsatz “Geschichte als soziales Gedächtnis” fünf Erinnerungsmedien hervorgehoben:

1. mündliche Traditionen
2. Konventionelle historische Dokumente: Memorien und andere schriftliche Aufzeichnungen
3. Gemalte oder photographische, ruhende oder bewegte Bilder
4. Kollektive Gedenkrituale
5. Geographische und soziale Räume

Schon allein die Forschungen zum mündlichen Erzählen, das dem Frühneuzeithistoriker natürlich nur in Form schriftlicher Fixierung vorliegt, sind uferlos.

volkskundliche Sagenforschung

Frantisek Graus “historische Überlieferungen”, “Traditionsbildung”

Zeugenverhöre

Nicht das Mittelalter war das goldene Zeitalter der Ursprungsfiktion, sondern die frühe Neuzeit. Da gab es etwa den schlesischen Autor Abraham Hosemann (1561-1617), auch bekannt als der “schlesische Lügenschmied”, der im beginnenden 17. Jahrhundert gewerbsmäßig von vorne bis hinten erlogene Stadtchroniken fabrizierte und verkaufte.

Traditionsinszenierungen waren nicht selten:

Solothurn uralt: In der Aufklärungszeit machte sich übrigens ein Solothurner Maler über den maßlosen Altersstolz seiner Mitbürger lustig: Er stellte dar, wie die Solothurner Bürger von ihrer Stadtmauer aus die Erschaffung von Adam und Eva beobachteten.

Auf dem Feld frühneuzeitlicher Traditionsbildung sind Mündlichkeit und Schriftlichkeit untrennbar verwoben. Ebensowenig läßt sich das historische Erzählen, das der Erinnerungskultur zuzuweisen wäre, vom sonstigen Erzählen in der frühen Neuzeit trennen.

Die gleichen Abgrenzungsprobleme begegnen auch bei der zweiten Gruppe der schriftlichen Dokumente. Gehört eine Geschichte der Schriftlichkeit in ihrem ganzen Umfang zur Erinnerungskultur? Und wie sieht es etwa mit der Archiv- und Bibliotheksgeschichte aus?

Die Bibliotheksgeschichte aber steht in der frühen Neuzeit der Geschichte des Sammelns sehr nahe, denn auch städtische Bibliotheken fungierten teilweise als Kunst- und Wunderkammern.

Bibliotheken als Schatzkammern des Wissens: Tradierung des Wissens

Juristen oder Mediziner - Exempla, Präjudizien oder Fälle

Historiographie, Chronistik - Susanne Rau

Ego-Dokumente oder Selbstzeugnisse z.B. Schreibkalender

Gedruckte Publizistik: Auch die “Neuen Zeitungen” - sind der “memoria” verpflichtet!

Burkes dritte Gruppe der Bilder umfaßt auch den Bereich der Denkmäler und der übrigen Zeugnisse der materiellen Kultur.

Historienbilder

Porträtgalerien Lübecker Ratsherren - höfische Vorbilder

Sammlungsgegenstände, Andenken, gleichsam profane Reliquien

Vormoderne Rathäuser und Kirchen waren den heutigen Museen vergleichbar, sie fungierten auch als Memorabiliensammlungen

Rathaus von Münster: Wiedertäufer-Andenken

Kanonenkugeln als Erinnerungszeichen: Schwäbisch Gmünd 1546

Burkes vierte Gruppe der kollektiven Gedenkrituale verweist auf die vormodernen Erinnerungsfeste.

Drei Haupttypen der bereits im Spätmittelalter ausgebildeten Erinnerungsfeste lassen sich unterscheiden:
- 1.das Konfliktgedenken, das Schlachten,
Belagerungen, Mordnächten und Bürgeraufständen galt;
Schlachtengedenken
- 2. das Katastrophengedenken,
das an Widerfahrnisse wie Pestzüge, Erdbeben oder Überschwemmungen erinnerte, und
- 3. das Stiftergedenken, das besondere, für die ganze Stadtgemeinde bedeutsame Stiftungen kommemorierte.

Frühe Neuzeit: neuer Medientyp der Jubiläen, Reformationsjubiläen, Jubiläen von Reliquientranslationen

Stadtjubiläen (18. Jh.)

Den Ritualen könnte man die Stiftungen und Fideikommisse zuordnen.

Die fünfte Gruppe der Räume erscheint mir problematisch.

Gedächtnisorte (lieux de memoire) - ars memorativa

Felder stichwortartig benennen:
Krieg und innerstädtischer Konflikt
Strafjustiz
Bauen: Turmknaufurkunden
Jagd
Fest
Freundschaft: Stammbücher
Geschenke zum Andenken
Trauer: Grabdenkmäler, Sterbe-Andenken
Reisen: Souvenirs

Träger:
Elite: Städtische Oberschicht, Pfarrer und Beamte
Volk: einfache Handwerker, Selbstzeugnisse

keine hermetische Abschottung, Durchlässigkeit Chronistik

öffentliche versus private Erinnerung - Severinstag Becherstiftungen
Leipziger Rathaus: Turmknaufurkunde Autobiographie des Baumeisters

Erinnerungskultur des Handwerks:
Erzählungen über Wahrzeichen
Willkomm-Humpen mit den Namen der Zunftvorstände
Zunftfeste

Meist wurde die städtische Schlachtenerinnerung auf die Zunft bezogen und der Festbrauch als Belohnung für die einstige Tapferkeit ausgegeben. Die Handwerker partizipieren
sozusagen an dem von der Stadt erwirtschafteten symbolischen Kapital kriegerischer Ehre. Erinnerungsfeste von Gruppen, die auf Belagerungen oder Aufstände Bezug nahmen, verankerten diese Gruppen in der städtischen Gemeinschaft, sie wiesen den Platz in der Gemeinde und das daraus resultierende Recht aus.

3. Erinnerungspolitik im Zeichen von Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung

Noch zu wenig beachtet ist die Rolle von Erinnerungen, die der konfessionellen Standortbestimmung und Abgrenzung dienten.

“Alterität”

Memorialmonstranz jesuitische Bruderschaft in Ingolstadt
Sieg von Lepanto über die Türken
Einsetzung eines Marienfests

österreichischen Raum: Türken-Erinnerungen

Gegenreformation: Wiederbelebung alter Kulte, Katakombenheilige, christliche Archäologie

Schwäbisch Gmünd:

Schmalkaldischer Krieg 1546
Sakramentswunder Gemälde an der Sonnenwirtschaft 1620
Johanniskirche: Bild eines Franziskaners, den die lutherischen Prediger von der Kanzel geworfen haben sollen
Franziskanerkirche: Marienbild mit Inschrifttafel zu einem Ereignis von 1658 in Göppingen: Gotteslästerer wurde verrückt

(Sozialdisziplinierung: ich meine dieses Etikett natürlich nicht völlig ernst, es soll nur eine Art persönlicher Bielefelder Reminiszenz darstellen.)

Ad damnandum memoriam Ioannis Kalckberner, um die Erinnerung an den Anführer des Aachener Protestantenaufstands 1611 zu verdammen, sei sie auf Geheiß der kaiserlichen Gesandten errichtet worden, verkündete die Inschrift einer 1616 auf dem Aachener Markplatz errichteten Schandsäule. Der ehemalige Bürgermeister der Reichsstadt Kalckberner wurde damals von den kaiserlichen Kommissaren postum zum Tode verurteilt, zwei weitere Rädelführer ließen sie enthaupten. “Noch steht auf öffentlichem Markte die Schandsäule eines der besten Bürger der Stadt”, empörte sich ein aufgeklärt gesinnter Protestant in einem 1785 in Berlin anonym erschienenen Reisebericht, “der
sich dem Despotismus der Geistlichkeit zu wedersetzen [!], und Gewissensfreiheit mit Gefahr seines Lebens zu vertheidigen wagte; und noch hält man zum Andenken dieser abscheulichen Begebenheit, jährlich am 1. Sept. eine feyerliche Procession, von der ich selbst ein Augenzeuge war.”

Im gleichen Jahr 1616 endete die Niederschlagung des Fettmilch-Aufstands in Frankfurt mit einem blutigen Richttag. Vincenz Fettmilch, der Anführer der Rebellen, wurde mit weiteren Aufständischen hingerichtet, die Köpfe von vier "Ächtern" am Brückentorturm auf einem eisernen Träger mit vier Dornen angebracht. Als 1707 einer der Köpfe herunterfiel, mußte er auf Anordnung des Schöffengerichts wieder an die alte Stelle gesetzt werden. Fettmilchs Haus wurde abgerissen, der Platz sollte wüst bleiben. An der Stelle des Wohnhauses ließ der Rat eine Schandsäule in Form einer Pyramide mit lateinischer und deutscher Inschrift aufrichten - zur ewigen Gedächtnuß der Rebellion, und jederman zur höchsten Warnung, so die Überschrift der in Form eines Holzschnitts verbreiteten Abbildung der Säule.

Bis heute erhalten ist im Kölnischen Stadmuseums der Bronzekopf des am 23. Februar 1686 als Haupt-Rebell mit dem Schwert gerichteten Oppositionsführers Nikolaus Gülich. Der Kopf, aus dem ein Richtschwert herausragt, befand sich auf der Schandsäule Gülichs, die in der Mitte des leeren Platzes an der Stelle des geschleiften Wohnhauses des Aufrührers zu “deß Aechtern ewiger Infamie” aufgerichtet wurde.

Paradox des verordneten Vergessens
Verewigung von Schande - Verewigung von Ruhm
Vergessen: Unterdrückung von peinlichen Unterlagen (Nürnberger Patrizier)

Aufschlußreich ist nun, daß der obrigkeitlichen repressiven Erinnerungs-Praxis in der städtischen Traditionsbildung eine Art populare Wahrzeichen-Kunde korrespondierte. Neuzeitliche Fiktionen behaupteten nämlich, steinerne Köpfe an Häusern oder Toren seien Darstellungen von Straftätern, vorzugsweise von Verrätern. In allen Fällen handelt es sich um ätiologische Erzählungen ("Erklärungssagen"), die auffällige Steinköpfe (auch bekannt als "Neidköpfe") an Gebäuden nachträglich als bildliche Erinnerungen an Schwerverbrecher und ihre Taten deuten. Die rätselhaften Bildwerke dienten ebenso als "Erzähl-Male" wie beispielsweise die Darstellung des Martyriums des heiligen Cyrillus - seine Peiniger wanden ihm mit einer Walze die Gedärme aus dem Leib - in der Lübecker Marienkirche. Das Schnitzwerk wurde in protestantischer Zeit als Erinnerung an die Bestrafung des adeligen Mörders Klaus Bruskow 1367 mißverstanden, dessen Schwert man als Tatwerkzeug lange Zeit auf dem Zeughaus aufbewahrt habe. Während die Geschichten die Gegenstände erklärten, beglaubigten umgekehrt die Gegenstände als "Wahrzeichen" die Geschichten von abscheulichen Taten und ihrer exemplarischen Ahndung.

Obrigkeitliche Verewigungspraxis und populare "Wahrzeichen"-Kunde sind aufeinander zu beziehen als Teile eines gemeinsamen gesellschaftlichen Diskurses über die Bestrafung schwerster Verbrechen.

4. Methodische Aspekte

In einer Geschichte der vormodernen Erinnerungskultur, die man auch als Geschichte des historischen Bewußtseins oder historischen Diskurses bezeichnen könnte, kommt der von Jan Assmann getroffenen Unterscheidung der retrospektiven und der prospektiven Dimension des Erinnerns zentrale Bedeutung zu. Beide sind aufeinander zu beziehen, ihre Verknüpfung ist bereits in den Quellenbegriffen "gedechtnus" und "Denkmal" angelegt, die beide sowohl Stiftung als auch Bewahrung von Erinnerung umfassen.

Das soeben angeführte Beispiel läßt diesen Zusammenhang deutlich zutage treten: die retrospektiven Wahrzeichen-Traditionen, die nachträglich Steinköpfe als Straftäter interpretieren, setzen die Kenntnis der sich in den Schanddenkmälern manifestierenden prospektiven Verewigungpraxis der Obrigkeit voraus, die sich als Justizpädagogik an die kommenden Generationen, ja die gesamte Posterität, richtet.

Eine weitere wichtige Einsicht: Eine Geschichte des Erinnerns läßt sich auch als Diffusionsgeschichte des historischen Wissens schreiben.

Historische Belehrung dringt etwa zunehmend in die Erinnerungsfeste ein.

"Wohl und löblich aber ist es geordnet von den Alten", schrieb der Crailsheimer Pfarrer und Chronist Lubert 1737 über einen mittelalterlichen Schlachtengedenktag, "daß man an solchem Fest der Stadtfeyer sich aller Arbeit enthalten und zum Gottesdienst einfinden solle, da dann ein ehrbarer Rat sich versammeln und mit einander fleißig zur Kirche gehen und die Ratspersonen zusammen sich unter dem Predigtstuhl herstellen sollen, andern zum Exempel und soll an dem Tag von gemeiner Stadt Zustand geprediget auch alle Wohlthaten so von Gott und frommen Christen dieser Stadt erzeigt, dem Volk erzaehlet und dahero zur Dankbarkeit derselben ermahnet werden.”

“Historisierung von Volksbräuchen”: Umdeutung von Frühlingsfesten

Die Historisierung der Rituale muß im Zusammenhang mit einem allgemeinen historisierenden Syndrom gesehen werden. Es geht dabei um die "Erfindung von Traditionen" vor dem Hintergrund einer sich verstärkenden Aufmerksamkeit für Altertümer, Denkmäler der
Vergangenheit. Rituale konnten als alte Praxis, als fromme Stiftung der Vorfahren, die es pietätvoll zu erhalten galt, gerechtfertigt werden. Der historische Sinn von Festen verlieh ihnen gleichsam einen Bestandsschutz in einer Zeit, die das Historische mehr und mehr hochschätzte.
Antiquarianismus, Denkmalpflege, retrospektive Tendenzen - Nachgotik

Lüneburger Patrizierhäuser: Idee des Stammhauses - Schloßbau Idee des Stammsitzes

5. Conclusio: Wittgensteins Leiter

Die bunte Fülle frühneuzeitlicher städtischer Erinnerungskultur konnte hier nicht einmal ansatzweise vermittelt werden, ich mußte mich auf eine kleine Auswahl von Beispielen und Aspekten beschränken, die ich bei meinen eigenen Forschungen auf diesem wahrhaft riesigen Gebiet als wichtig empfunden habe.

Deutlich sollte bei dem etwas hektischen Durchgang durch die Erinnerungs-Medien und -Felder geworden sein, daß die Suche nach einem klar und präzise abgrenzbaren Forschungsfeld “Erinnerungskultur” die Suche nach einer Chimäre ist. Auch wenn man sich am Leitseil der Quellenbegriffe “gedächtnus” oder “memoria” durchhangelt, stellt man allenthalben fließende Übergänge fest. Verläßt man die isolierten Wissensinseln, die von der Forschung bereits dem Meer des Materials abgewonnen wurde, so befindet man sich im Sturme schwankend auf hoher See.

Die Metaphernhäufung signalisiert: Es ist alles furchtbar problematisch.

Methodische Kritik wäre bereits anzubringen an so beliebten Konstrukten wie soziales Gedächtnis oder kulturelles Gedächtnis. Es gab in der frühneuzeitlichen Stadt mit Sicherheit kein einheitliches kulturelles Gedächtnis, das gleichsam als vom Rat aufgrund allgemeinen Konsenses verwaltetes Erinnerungs-Zeughaus oder Kornspeicher für die Nachwelt fungierte. Es gab die verschiedensten Erinnerungskulturen, die sich überlappten oder durchdrangen und in ihrer Gesamtheit wohl als städtische Erinnerungskultur angesprochen werden dürfen. Im Zentrum des Knäuels dieser Erinnerungskulturen der Patrizierfamilien, Zünfte usw. müssen die inszenierten öffentlichen Erinnerungen des Rats verortet werden, doch kann von einer absoluten Hegemonie nicht gesprochen werden. Öffentliche und private, obrigkeitliche und populare Erinnerungskulturen waren eng miteinander verwoben.

Nicht sonderlich hilfreich ist auch die Assmannsche Trennung eines kommunikativen von einem kulturellen Gedächtnis. Mitwelt und Nachwelt als Adressaten von kommunikativem Handeln wurden in der Vormoderne nicht strikt auseinandergehalten. Prospektive Verewigung bzw. Berufung auf das ewige Gedächtnis darf als eine Art Pathosformel verstanden werden.

Immer sollte man sich schließlich vor Augen halten, daß “Erinnerungskultur” ein Forschungskonstrukt ist - mag sie sich auch noch so einleuchtend aus den Quellen rekonstruieren lassen. Und sie ist ein Forschungskonstrukt, das man tunlichst nicht uferlos ausweiten und als Universalschlüssel für ausnahmslos alle kulturwissenschaftlichen Ansätze mißbrauchen sollte.

Aber auch wer die spanischen Stiefel allwissender Modernisierungstheorien bevorzugt, wird nicht leugnen können, daß das Konzept Erinnerungskultur faszinierende Befunde zusammenzuführen vermag.

Man mag der Ansicht sein, das Konzept oder seine genannten Konkurrenten Geschichtskultur, Memorialkultur usw., sei nicht zuletzt aufgrund der starken Belastung durch die Gegenwartsproblematik des Erinnerns verbraucht und abgestanden. Allerdings: Ersatz ist nicht in Sicht. Und selbst wenn man der Formulierung Ludwig Wittgensteins zustimmt, der Forscher müsse “sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist”, so steht doch für mich fest, daß wir erst auf den untersten Sprossen stehen.

#forschung

Denkmal für einen Lüneburger Bäcker, der in der Ursulanacht 12 Feinde erschlagen haben soll

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