Am 19. Oktober 2012 referierte ich in Endingen über eine der letzten Hexenhinrichtungen in Deutschland (Ankündigung). Der Vortrag war gut besucht, die Aufnahme in Endingen liebenswürdig, sogar der Bürgermeister sprach ein paar Worte und lauschte meinen Ausführungen. Viele interessierte Fragen aus dem Auditorium wurden anschließend gestellt, bevor ein kleiner Empfang den Abend erfreulich abrundete.
Die Weingartener Tagung Späte Hexenprozesse, auf der ich schon einmal einen Vortrag über den Fall hielt, fand 2005 statt (Bericht). Meine Aufsatzfassung für den von Wolfgang Behringer u.a. herausgegebenen Band gab ich 2009 ab, der letzte Kontakt mit der Redaktion datiert vom Anfang des Jahres - vielleicht darf man auf eine Publikation 2013 hoffen. Mein Aufsatz steht in meiner Fassung als Preprint jedenfalls ab sofort unter
https://www.researchgate.net/publication/232398260_Der_Endinger_Hexenprozess_gegen_Anna_Trutt_von_1751
zur Verfügung. Dort finden sich die wissenschaftlichen Belege für den folgenden Vortrag, für den ich mein Manuskript einerseits gekürzt, andererseits leicht erweitert habe. (Von der Wiedergabe extemporierter Erläuterungen z.B. von Schadenszauber für das Publikum habe ich in der folgenden Schriftfassung abgesehen.) Nachträglich habe ich auch einige Links ergänzt. Am Samstag war ich zwar in Wyhl, um die Gedenktafel am Rathaus zu fotografieren, aber aufgrund eines Umbaus ist sie (wohl zeitweilig) entfernt worden.
***
„Wir haben gleich bey Anfang Unserer Regierung“, konstatierte Kaiserin Maria Theresia in ihrer am 5. November 1766 erlassenen „Landesordnung, wie es mit dem Hexenprozesse zu halten sei“, „auf Bemerkung, daß bey diesem sogenannten Zauber- oder Hexen-Process aus ungegründeten Vorurtheilen viel unordentliches sich mit einmenge, in Unseren Erblanden allgemein verordnet, daß solch-vorkommende Process vor Kundmachung eines Urtheils zu Unser höchsten Einsicht- und Entschlüssung eingeschicket werden sollen; welch Unsere höchste Verordnung die heilsame Wirkung hervorgebracht, daß derley Inquisitionen mit sorgfältigster Behutsamkeit abgeführet, und in Unsrer Regierung bishero kein wahrer Zauberer, Hexen-Meister entdecket worden, sondern derley Process allemal auf eine boshafte Betrügerey, oder eine Dummheit und Wahnwitzigkeit des Inquisiten, oder auf ein anderes Laster hinausgelofen seyen, und sich mit empfindlicher Bestrafung des Betrügers oder sonstigen Uebelthäters, oder mit Einsperrung des Wahnwitzigen geendet haben“.
Bereits die Erwähnung der unbegründeten Vorurteile nimmt ein Schlagwort der Aufklärung auf. Nachdem seit dem Regierungsantritt der Herrscherin alle Urteile in Hexensachen hatten vorgelegt werden müssen, sei keine wahre Hexe entdeckt worden. Nur Betrüger und Kriminelle seien bestraft, Wahnsinnige eingesperrt worden. Die Verordnung rief zur Vorsicht auf, doch war es bei einem ernsthaft angestrebten Teufelspakt, wenn er von anderen Verbrechen oder Blasphemie begleitet wurde, nach wie vor möglich, den oder die Schuldige auf den Scheiterhaufen zu bringen. Wahre übernatürliche Zauberei wurde zwar nicht ganz ausgeschlossen, galt aber als außerordentliche Ausnahme. In einem solchen Fall behielt sich Maria Theresia das Urteil vor.
Über zweihundert Jahre später,1992, formulierte der aus Wyhl gebürtige Lehrer Edwin Röttele eine Frage an die Kaiserin: „Aber Majestät, da war doch was. Da gab es doch die Anna Trutt aus Wyhl. Man hat sie als 63jährige in Ihrer Stadt Endingen am Kaiserstuhl gefoltert und als Hexe verbrannt. Haben Sie das nicht erfahren, Majestät?“. Diesem Widerspruch wird nachzugehen sein.
Abgesehen vom Problemfall Ungarn fanden Hexenprozesse in den habsburgischen Landen in der Mitte des 18. Jahrhunderts kaum noch statt. Die letzten Ermittlungen in Schwäbisch-Österreich wurden 1710/11 in Rottenburg am Neckar durchgeführt, in Vorarlberg gab es im 18. Jahrhundert keine Prozesse mehr. Im Elsaß, in der Landvogtei Hagenau und in der Ortenau wurde im 18. Jahrhundert niemand mehr als Hexe oder Hexer hingerichtet. In Tirol ist die letzte Hinrichtung für 1722 dokumentiert.
Der Hexenglaube war in der Mitte des 18. Jahrhunderts alles andere als besiegt. In den katholischen Territorien dürften Volk, Klerus und Beamtenschaft nach wie vor überwiegend von der Realität des Schadenszaubers überzeugt gewesen sein. Als eine Kommission am Wiener Hof 1752 an der Vereinigung zweier Gerichtsordnungen arbeitete, sah sie nicht die geringste Veranlassung, irgendwelche Änderungen an der Deliktsbeschreibung des crimen magiae und dem bisher beachteten Verfahren vorzunehmen. Noch in einer Kommissionssitzung 1755 wurde ganz selbstverständlich von der Möglichkeit ausgegangen, dass ein Mensch durch Zauberei verletzt oder ums Leben gebracht werden könne.
Bereits der Umstand, dass die theresianische Kriminalgerichtsordnung von 1768 vor allem aufgrund ihrer Abbildungen der Folterwerkzeuge bis heute populär ist, deutet an, dass dieses lediglich als Fortschreibung früherer Kodifikationen konzipierte Werk aus der Sicht der Aufklärer unzulänglich war. Unzufrieden war insbesondere der Staatskanzler Fürst Kaunitz, der in einer gutachtlichen Äußerung vom 22. Februar 1769 unter anderem bemängelte, dass „man kein Bedenken getragen hat von Zaubereyen und anderen abergläubischen Dingen zu handeln, die bei unseren aufgeklärten Zeiten vielmehr zum Gelächter dienen, als den Gegenstand der Strenge einer peinlichen Vorsehung abgeben können“. Erst das Allgemeine Gesetzbuch über Verbrechen und derselben Bestrafung, von Joseph II. am 13. Januar 1787 publiziert, kannte das Verbrechen der Zauberei nicht mehr. In der Vorbereitungskommission war man sich 1781 inzwischen einig, dass es so etwas wie Schadenszauber nicht geben könne, und der aufgeklärte Monarch stimmte der Streichung ausdrücklich zu.
War Maria Theresia fortschrittlicher als ihre Hofjuristen? Es gibt keinen Hinweis, dass sie von der Realität der Hexerei überzeugt war, wohl aber mehrere Äußerungen, die den Hexenglauben eindeutig als Resultat von „Ignoranz“ darstellen. In einer Resolution vom Juli 1756 sagte sie unmissverständlich: „Das ist sicher, daß allein Hexen sich finden, wo die Ignoranz ist, mithin selbe zu verbessern, so wird keine (Hexe) mehr gefunden werden“ . In der gleichen Angelegenheit hatte sie kurz zuvor ihre Überzeugung ausgesprochen, dass es keine Hexen-Zeichen gebe könne: „Ich möchte wissen, woher solche Zeichen probirt seynd, als in der grossen Ignoranz, indem keine Hexen existiren, also auch keine Zeichen“. Und an anderer Stelle schrieb sie lapidar: „Die Hexen haben allein ihr Königreich, wo Ignoranz der König ist“.
Ignoranz meint die schuldhafte Unwissenheit. Zu erinnern ist an die berühmte Definition: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ (Immanuel Kant 1784)
Die aufgeklärten Überzeugungen der Monarchin führten zu einer Kurskorrektur der Hofjuristen, aus der dann die Landesordnung von 1766 resultierte. Angesichts des sehr engen Vertrauensverhältnisses Maria Theresias zu ihrem aufgeklärten Leibarzt Gerard van Swieten wird man nicht daran zweifeln können, dass er die Überzeugungen der Herrscherin in Sachen Aberglaubensbekämpfung erheblich beeinflusst hat. Mit seinem Vampir-Traktat von 1755 gilt er als der intellektuelle Kopf hinter den seit diesem Jahr greifbaren Maßnahmen Maria Theresias gegen den Vampir- und Hexenglauben. Im August 1758 legte er der Herrscherin eine kritische Denkschrift zu den Hexereivorwürfen gegen eine Magdalena Heruczina in der heute kroatischen Stadt Križevac vor, die dazu führte, dass Maria Theresia die Delinquentin freisprach. Entschieden griff die Herrscherin erst ab 1755 gegen den von ihr als Wahn eingeschätzten Hexenglauben durch.
Wendet man sich vor diesem Hintergrund der letzten Hexenhinrichtung in Baden-Württemberg zu, bei der am 24. April 1751, elf Jahre nach dem Regierungsantritt Maria Theresias, Anna Schnidenwind geborene Trutt hier im vorderösterreichischen Endingen auf dem Scheiterhaufen starb, weil sie den verheerenden Brand des Dorfes Wyhl am 7. März 1751 verursacht haben soll, so ist man mit einer außerordentlich dürftigen Quellenüberlieferung konfrontiert. Edwin Röttele hat die Quellen in zwei Beiträgen gesammelt und im Wortlaut bzw. Übersetzung zugänglich gemacht. „Von Ende 1986 bis Mitte 1991 dauerte meine Suche“, schrieb er, „nach irgendeiner Spur dieses Prozesses, aber meine Anfragen an die Staatsarchive in Freiburg, Karlsruhe, Stuttgart, Innsbruck und Wien wurden samt und sonders negativ beschieden; es war, als habe es diesen Prozeß nie gegeben“. Es mag dahingestellt bleiben, ob sich nicht doch irgendwo archivalische Überlieferung zu dem Fall ausfindig machen lässt (ich habe nicht danach gesucht), die Akten des vor dem Stadtgericht Endingen geführten Prozesses sind jedenfalls verloren.
Drei geistliche Herren vermerkten in ihren Aufzeichnungen den Kriminalfall. Lapidar registrierte Abt Petrus Glunk von St. Märgen in seinem Tagebuch nach Erwähnung der Brandschäden, die Person, die den Brand verursacht habe, „ware eine Zauberin, so auch verbrändt worden“. Etwas ausführlicher wurde der Pfarrer von Oberhausen. Zunächst habe man angenommen, die beschuldigte Bürgersfrau aus Wyhl habe aus Unachtsamkeit ihren Kuhstall in Brand gesetzt. Auf der Folter aber sei herausgekommen, dass sie eine Erzhexe und Zauberin war. Der Wyhler Pfarrer Matthias Hagenbuch, Augustiner-Chorherr aus St. Märgen, schrieb in sein Notabilienbuch: „Weilen dan anfangs gemeldet der Brand suspect war, als hat die Herrschaft Endingen des Mathis Schnidenwindts Weib, welche angegeben worden, sie hätte durch Beraichung ihres Viehs disen Brand verursachet, vor Rath citiert. Sie hieß Anna Truttin, war gebohren anno 1688. Und nachdem sie überzigen worden, daß sie einigen Bürgern ihr Vieh verdorben, ist sie gefänglich angehalten, und scharf examiniert worden, da sie dan bestanden, daß sie ein pact mit dem Teufel gehabt, auch mit dessen Beyhilf den erbärmlichen Brand mit Fleiß angestekht. Auf welches ihr der Sentenz gefällt worden, daß sie lebendig solle verbrennt werden, welches auch an ihr den 24. April 1751 vollzogen worden, der Zuschauer waren mehrer dan 10 bis 12000. Das Urtheil war bey dem Endinger Hochgericht vollzogen“.
Festgehalten werden soll: Keiner dieser Kleriker äußerte irgendeinen Zweifel daran, dass Anna Trutt eine Hexe war. Nicht anders verhält es sich mit einer von Röttele nicht erwähnten Quelle: dem kargen lateinischen Eintrag in die Fakultätsakten der von den Jesuiten besetzten Freiburger Theologischen Fakultät.
In einem kurzen Eintrag des Endinger Stadtschreibers wählte dieser den Begriff „veneficium“, der sowohl Hexerei als auch Giftmischerei bedeuten konnte, und bei den späten Fällen allgemein üblich war. Nach ordnungsgemäß durchgeführter Untersuchung und einem dazu eingeholten Rechtsgutachten sei Anna Trutt auf den Scheiterhaufen gebracht, erdrosselt und durchs Feuer vom Leben zum Tod gebracht worden. Er unterschlägt die Folter und möchte den Eindruck erwecken, alles sei nach Recht und Gesetz abgelaufen.
Dass eine Hexe im Bunde mit dem Teufel eine ganze Stadt auslöschen konnte, dafür gab es am Oberrhein ein überregional berühmtes Exempel. Hans Harter hat in seinem Büchlein „Der Teufel von Schiltach“ (2005) die publizistische Breitenwirkung des angeblich von einer Hexe verursachten großen Schiltacher Stadtbrandes von 1531 mustergültig dargestellt. Aufgrund zeitgenössischer Flugblätter ging der Fall in die viel gelesene frühneuzeitliche Kompilationsliteratur ein. Von den großen Balinger Stadtbränden 1607, 1672, 1724 und 1809 wurden die beiden ältesten auf das Wirken von Hexen zurückgeführt. 1673 starb die als Urheberin verdächtigte Catharina Engelfried, die auf der Folter ihre Schuld geleugnet hatte, nach einem Akt der Lynchjustiz.
Der Wyhler Pfarrer erwähnt das Beräuchern des Viehs durch die Beschuldigte. Im Endinger Ratsprotokoll vom 9. März 1751 ist nur die Rede davon, das Feuer sei von dem Stall des Mathias Schnidenwind aufgrund der Aufwärmung eines Stück Viehs ausgegangen, und auch bei dem Verhör vom 16. März 1751 beteuerten die Eheleute Schnidenwind, es sei nur um das Aufwärmen einer kranken Kuh gegangen. Anna sagte aus, sie habe der Kuh einen warmen Heublumenwickel aufgelegt und sei dann zu ihrer Nachbarin gegangen. Das Beräuchern des Viehs war eine im ganzen deutschsprachigen Raum volkstümliche und beliebte abergläubische Praxis. Gern räucherte man zu bestimmten Brauchterminen mit neunerlei Kräutern. Solches Räuchern könnte natürlich tatsächlich den Brand ausgelöst haben. 1596 brannte Pyritz in Pommern beim Räuchern ab. Und weil eine Bäuerin in der Walpurgisnacht 1781 Hexen ausräuchern wollte, wurde das schlesische Dorf Lippen ein Raub der Flammen. Während das Räuchern heute eine von vielen esoterischen Praktiken moderner Hexen darstellt, kann keine Rede davon sein, dass Räuchern allgemein als Teufelswerk betrachtet worden sei. Im Gegenteil: Räuchern wurde nicht zuletzt als wirksamer Gegenzauber gegen Hexen angesehen. Wenn Anna Trutt im Kuhstall geräuchert hat, dann nicht, um Schadenszauber auszuüben, sondern um ihrem Vieh zu helfen und womöglich die bösen Hexen zu vertreiben. Der siebte März 1751 war der zweite Fastensonntag Reminiscere, Fronfastensonntag. Der vorangehende Samstag gehörte noch zu den eigentlichen Fronfasten, den ersten Quatembern des Jahres, die für das Hexenwesen bekanntlich eine wichtige Rolle spielten.
Was lag näher, als durch Räuchern am unmittelbar folgenden Tag des Herrn die bösen Hexen vom Vieh fernzuhalten? Trifft diese Deutung zu, wäre Anna Trutt eine von nicht wenigen als Hexen verbrannten Frauen gewesen, die aufgrund der Ausübung eines Abwehrzaubers gegen Hexerei in das Räderwerk des Grauens geraten ist.
Anzuzeigen ist nun ein Neufund an unerwarteter Stelle – im Internet. Die Universitätsbibliothek Bielefeld hat in einem grandiosen Projekt „Zeitschriften der Aufklärung“ digitalisiert und als frei zugängliche Faksimiles ins Netz gestellt:
http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufklaerung/index.htm
27 Aufsätze sind derzeit mit dem Schlagwort Hexenprozesse auffindbar.
Verständlicherweise hat die Hexenhinrichtung im reformierten Glarus (Anna Göldi wurde am 13. Juni 1782 mit dem Schwert hingerichtet) damals die meiste Aufmerksamkeit erregt.
Ein Jahr zuvor starb Anna Schwegelin in Kempten im Gefängnis. Sie war 1775 zum Tode verurteilt worden, doch das Urteil wurde nicht vollstreckt. Bis in jüngste Zeit glaubte man, sie sei tatsächlich als letzte angebliche Hexe auf Reichsboden hingerichtet worden.
Nach derzeitigem Kenntnisstand fand die letzte Hexenverbrennung im deutschsprachigen Raum 1756 in Landshut statt, das Opfer war eine 13jährige Waise namens Veronica Zerritschin. (Bislang verwies man auf das Landshuter Wochenblatt 1818, das eine verschollene Primärquelle abdruckte, doch gab es, wie ich jetzt herausfand, schon in den Münchner Miscellen 1810 eine Publikation dieses Aktenstücks:
http://books.google.de/books?id=dpVEAAAAcAAJ&pg=PT218 )
Vier Zeitschriften publizierten in der Bielefelder Auswahl zu dem „Justizmord“ in Glarus 1782. Dieser Begriff Justizmord wurde im Januar 1783 von dem Göttinger Historiker August Ludwig von Schlözer in einem Aufsatz seiner Stats-Anzeigen über den Fall Göldi geprägt. Seine Definition nachlesbar im Digitalisat der Stats-Anzeigen (Band 2, Heft 7, S. 273): „Ich verstehe unter diesem neuen Worte die Ermordung eines Unschuldigen, vorsetzlich, und so gar mit allem Pompe der heil. Justiz, verübt von Leuten, die gesetzt sind, daß sie verhüten sollen, daß kein Mord geschehe, oder falls er geschehen, doch behörig bestraft werde“. Ebenfalls online präsent ist die Begründung der Neun-Millionen-Theorie durch Gottfried Christian Vogt in der Berlinischen Monatsschrift 1784.
Im Leipziger „Deutschen Museum“ 1780 wurde ein kurzer „Beitrag zur Hexengeschichte von Deutschland. Aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts“ veröffentlicht, am Schluss der kurzen Einleitung signiert mit „Sander“. Wenig später tritt in der gleichen Zeitschrift als ständiger Mitarbeiter Christian Levin Sander (1756-1819) auf, der 1780 Lehrer am Dessauischen Erziehungsinstitut war. Ein vollgültiger Beweis, dass der Beitrag von diesem Autor stammt, ist das natürlich nicht.
Sander publizierte aus dem Nachlass eines nicht genannten, 1780 schon geraume Zeit verstorbenen Mannes ein Aktenstück, das Todesurteil einer zu E. verbrannten Frau. Um „vieler Ursach willen“ dürfe er den Namen des Ortes nicht ausschreiben. Der Name der Delinquentin wird mit A.S. geborene T., sesshaft zu W. abgekürzt. Die Erwähnung der Feuersbrunst vom 7. März beseitigt alle Zweifel: Es handelt sich um das Urteil des Endinger Falles Trutt. Ob dieses Satz für Satz authentisch ist, kann in Ermangelung anderer Überlieferung natürlich nicht erwiesen werden. Für eine Fälschung sind jedoch keine Gründe ersichtlich.
Die 62jährige Inquisitin bekannte, „sowohl in Güte, als in der Schärfe“ (also auf der Folter), „daß sie vor ungefehr 9 Jahren von unbekanten Soldatenleuten, welche sie Teufel zu sein hernach eingestanden, ein zauberisches Pulver erhalten, mit dem sie, wenn sie es in des Teufels Namen gebraucht habe, Leuten und Vieh schaden, reich werden, und allenthalben, wohin sie wolle, hinkommen können“. Mit Initialen werden vier Nachbarn namhaft gemacht, bei denen sie das Pulver angewandt habe. Die Schäden am Vieh werden detailliert aufgelistet. Sie habe sich dem Teufel auf sein Drängen hin verschrieben und den heiligen Schutzengel verleugnet. Beides habe sie nie gebeichtet. Sie sei schuld an der Feuersbrunst vom 7. März, „wozu sie von dem Teufel genöthigt worden“.
Die Angaben zum Verfahren gehen über das hinaus, was man bisher wusste: „Also hat man von Amts und Obrigkeitswegen nach Anleitung der gottgefälligen Justiz, nach ordentlich geführtem Prozeß, beschehener Anzeige, eingenommenen Kundschaften, und dem, wie schon gemeldet, von ihr, Delinquentin, sowohl gütiglich, als in der Schärfe gethanenem Bekentnis, auch bei der vorgenommenen Besiebenung von ihr beschehener Bekräftigung, nicht weniger einer für sie Delinquentin vorhero abfassen lassender Schuzschrift, und von einem unpartheiischen Rechtsgelehrten eingeholten rechtlicher Meinung und Gutachten“ das Endurteil abgefasst. Im nächsten Satz wird aber stattdessen der Plural verwendet: „von auswärtigen Rechtsverständigen, nebst ex officio für dich in vim defensionis gemachten Vorstellungen eingeholten Gutachten“.
Anna Trutt soll dem Nachrichter übergeben und auf dem Scheiterhaufen vom Leben zum Tod gebracht werden.
Trotz der Erwähnung einer Schutzschrift fällt es schwer, in dem Schnellverfahren – anderthalb Monate nach dem Brand fand bereits die Hinrichtung statt – ein rechtsförmliches korrektes Verfahren zu sehen. Von einem „Justizmord“ spricht Edwin Röttele. Analog zu dem modernen Begriff „Forum Shopping“ für die Möglichkeit, ein zuständiges Gericht nach eigenen Wünschen anrufen zu können, könnte man von „Gutachter Shopping“ sprechen: Lokale Obrigkeiten konnten durch die Auswahl der Personen oder Institutionen, an die die Akten versandt wurden, Einfluss auf das Resultat nehmen.
Nachdem sowohl der Endinger Stadtschreiber als auch das Urteil von einem einzigen Rechtsgelehrten bzw. Rechtsgutachten sprechen, ist es plausibel, dass lediglich ein auswärtiger Jurist, aber keine Juristenfakultät um ein Gutachten gebeten wurde. „Hardliner“, also Verfolgungsbefürworter gab es ja noch genug. Es erscheint unwahrscheinlich, dass die Freiburger Juristenfakultät auf Folter oder Hinrichtung erkannt hätte.
Von der Zustimmung der Jesuiten der Freiburger Theologenfakultät weiß nur eine anscheinend verschollene handschriftliche Geschichte Endingens von Bürgermeister Franz Michael Kniebühler aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: „Die 68jährige Anna Trütten, Ehefrau des Matthias Schneidewind zu Wihl am Rheine in dem vorderösterreichischen Breisgau, hatte bei dem Ausräuchern ihres Stalles eine Feuersbrunst veranlaßt, und unter den Schmerzen der Folter das Bekenntniß abgelegt, sie habe einen Bund mit dem Teufel geschlossen und häufig Zusammenkünfte der Hexen besucht. Nachdem die Richtigkeit des gegen sie eingeleiteten Verfahrens auch durch die theologische Fakultät zu Freiburg gutgeheißen worden war, wurde die Unglückliche am 24. April 1751 aus ihrem Gefängnisse zu Endingen vor das dortige Breisacher Thor auf den Juden-Buck geführt und hier, weil sie sich wie rasend den Scharfrichtern widersetzte, geknebelt auf den Holzstoß geworfen und lebendig verbrannt“.
Möglicherweise hatte Kniebühler noch Zugang zu den heute verschwundenen Prozessakten, wenngleich es auffällig ist, dass weder der Endinger Stadtschreiber noch das Urteil eine legitimierende Stellungnahme der Theologenfakultät erwähnen.
Anna Trutt gehörte ihrer Herkunft nach zu einer Familie der dörflichen Ehrbarkeit in Wyhl. 1688 geboren, heiratete sie erst spät in erster Ehe Fridolin Thrönle, dem sie sechs Kinder gebar. Nach dem Tod Thrönles 1742 ging sie eine neue Ehe mit Mathias Schnidenwind ein, Mitglied des Dorfgerichts. Warum ist es Anna Trutt nicht gelungen, eine wirksame Verteidigung aufzubauen? Offenbar war sie übel beleumundet und galt als Hexe. Fehlte ihr das nötige „Sozialkapital“, um in der lokalen Panik nach dem katastrophalen Brand, in dem auch ein dreijähriges Kind gestorben war, bestehen zu können? Womöglich hätte eine Einschaltung des Reichskammergerichts oder ein Gnadengesuch nach Wien dem Spuk ein Ende bereitet.
Dass man in Innsbruck oder Wien nicht unterrichtet war, mag sein. Aber es scheint undenkbar, dass die Freiburger Regierung im Vorfeld nichts von der Hinrichtung erfahren hat. Man wird weggesehen und die Entscheidung des Endinger Stadtgerichts respektiert haben, die ja formal im Einklang mit der österreichischen und allgemeinen juristischen Tradition stand.
Hier wie auch sonst war die Zusammenarbeit von Volk und Obrigkeit unheilvoll. Katastrophen wie der Wyhler Brand lösten immer wieder lokale Hexenpaniken aus. Dem Verfolgungsdruck von unten korrespondierte eine verfolgungsbereite Obrigkeit, die sich bei dem Endinger Urteil offenkundig nicht vom aufgeklärten Zeitgeist beeinflussen lassen wollte.
Aber was ist mit der angeblich seit 1740 geltenden Verordnung, Hexenprozessakten vor Publizierung des Urteils nach Wien zu schicken? Diese Ansicht kann sich zwar auf den Wortlaut der Landesordnung von 1766 berufen, doch es gibt bisher keinerlei Beweis dafür, dass die aus Anlass des Auftauchens des Vampirglaubens in Hermersdorf erlassene Zirkularverordnung vom 1. März 1755, die auch Hexensachen betraf und fallweise einen Bericht an die Herrscherin vorsah, einen Vorgänger gehabt hat. Es wäre auch kaum verständlich, dass die Hofjuristen noch 1752 die unveränderte Übernahme früherer Hexerei-Artikel beschlossen haben sollen, hätte es bereits 1740 eine Verordnung der Monarchin gegeben, die zur Vorsicht aufrief. Solange die Existenz dieser Verordnung nicht nachgewiesen werden kann, darf davon ausgegangen werden, dass sie nicht existiert hat.
„Ebenso wie für den Beginn den Hexenverfolgung lässt sich auch für deren Ende nicht einfach eine einfache Ursache angeben“ schreibt Johannes Dillinger (Hexen und Magie, 2007, S. 151) und fährt fort: „Zur Erklärung beider Prozesse muss ein Bündel von Faktoren herangezogen werden. Das Ende der Verfolgungen verdankte sich im Wesentlichen der weiteren Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Justizapparate, der Kritik von Verfolgungsgegnern und Aufklärern sowie der Transformation der ländlichen Lebenswelt. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verbesserte sich die ökonomische und soziale Situation. Der Agrarsektor verlor im Verlauf des 18. Jahrhunderts an Bedeutung. Zugleich gewannen die bäuerlichen Ökonomien allmählich an Sicherheit. Der Hexenangst wurde ein großer Teil ihres Nährbodens entzogen.“
Solche Differenzierungen sind freilich unpopulär, auch wenn sich der seit 1985 bestehende Arbeitskreis interdisziplinäre Hexenforschung (AKIH), zu dessen Gründungsmitgliedern ich gehöre, von Anfang an um sie bemüht. Seit betreibt der AKIH die von mir administrierte Mailingliste Hexenforschung, in der Neuigkeiten zur Hexenforschung vermeldet werden und auch Diskussionen zum Thema ihren Platz haben.
Die besten seriösen Informationen liefert historicum.net:
http://www.historicum.net/de/themen/hexenforschung/
Anders als die Würzburger Hexenhinrichtung von 1749 hat der Endinger Fall, soweit bekannt, kein publizistisches Aufsehen erregt. Aufklärerisch gesinnte Männer aus dem Breisgau haben vielleicht geschwiegen, weil sie kein Wasser auf die Mühlen jener leiten wollten, die in den katholischen Gebieten nur abergläubische Rückständigkeit am Werk sehen wollten. Verglichen mit den meinungsführenden protestantischen Blättern war die katholische Aufklärung weit weniger einflussreich.
Noch dreißig Jahre nach der Hinrichtung wagte es Sander nicht, den Ortsnamen auszuschreiben und Österreich mit dem Endinger Casus an den Pranger zu stellen. Er versetzte den in seiner Publikation undatierten Fall sogar in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, um seine Identifizierung weiter zu erschweren. In einer Fußnote wies Sander jedoch ausdrücklich darauf hin, dass der nicht genannte Ort katholisch war. Die bürgerlichen Leser des „Deutschen Museums“ durften sich in ihren Vorurteilen über den Katholizismus bestätigt fühlen.
Vor Ort blieb die Erinnerung an die Hinrichtung lebendig. Wenn im Wyhler Schulhaus ein „Hexenkämmerchen“ gezeigt wurde und in den Schwarzwaldsagen von Johannes Künzig 1930 nachzulesen ist, man habe in Wyhl vor 150 Jahren eine Hexe verbrannt, von der man noch heute ihr Hexengeschrei am Galgenbuck höre, wird man dies aber nicht ohne weiteres auf eine ungebrochene mündliche Tradition beziehen dürfen. Immerhin hatte es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder gedruckte Hinweise auf den Fall gegeben. 1870 hatte der Endinger Bürgermeister Kniebühler in seiner gedruckten Faschings-Schrift „Der Hobelmann“ den Casus in Versform behandelt.
Die mündliche Erinnerung galt nicht einem tragischen Schicksal, sie galt der unheilbringenden Hexe. Aus Kniebühlers Handschrift führt Vierordt an: „Selbst noch auf ihrem letzten Gange aus dem Gefängnisse zum Scheiterhaufen, so wurde in Endingen auch lange hernach alles Ernstes versichert, habe diese boshafte Hexe mehrere Bürger auf’s Gefährlichste beschädigt; namentlich einen Färber durch ihren unbeschreiblichen Blick, und einen Andern durch Treten auf seinen Fuß, welcher zeitlebens niemals wieder genas“. In der Wyhler Ortsgeschichte von Fritz Späth aus dem Jahr 1963 wird als „Sage“ berichtet: Bei der Hinrichtung habe Anna, erzähle man sich „noch heute“, als letzten Wunsch vor der Verbrennung geäußert, sie wolle mit dem Hauptmann der Stadtwache sprechen. Sie habe ihn daraufhin erblinden lassen. Schadenszauber erscheint in diesen Zeugnissen immer noch als geglaubte Tradition.
Seit 2001 erinnert eine Gedenktafel am Rathaus von Wyhl an den Fall Trutt, und die Stadt Endingen hat den Hexenprozessen eine eigene Dauerausstellung im Alten Wagenmannkeller gewidmet. Dort wird auch das Schicksal der Anna Trutt dokumentiert.
Seit September 2005 gibt es zu Anna Trutt unter „Anna Schnidenwind“ einen ganz kurzen Artikel in der Wikipedia, der 2006 auch in die spanische Version der freien Enzyklopädie übersetzt wurde. Das im Bielefelder Digitalisat des „Deutschen Museums“ entdeckte Urteil ist seit 2008 auch als E-Text online, in der freien Quellensammlung Wikisource.
Auf einer eher fragwürdigen Internetseite mit Listen erscheint Anna Trutt auf Platz 10 der bekanntesten Opfer der Hexenverfolgung.
Im Juni 2012 berichtete die Badische Zeitung vom biographisch-historischen Roman einer Bad Krozinger Hobby-Autorin, Helga Eberle, die ihr Buch mit dem Fall Trutt beginnt:
"Ich wollte etwas von mir reinbringen", räumt Helga Eberle ein. Und das ist in erster Linie die Frage, "Wie können Menschen nur so sein?", dass sie wie im Fall der Anna Schnidenwind eine Unschuldige auf dem Scheiterhaufen verbrennen.
"Hört das denn nie auf?", fragt Helga Eberle. Deshalb lässt sie [ihre Heldin] Katharina Biechele als alte Frau auf den Galgenberg steigen und dort wo, vor über 250 Jahren Anna Schnidenwind im Feuer starb, mit den Worten "Anna, ich habe dir versprochen, du darfst nicht vergessen werden", Feuerblumen verstreuen.“
***
Nach dem Vortrag trat eine junge Frau auf mich zu, die sich als Verwandte der Anna Trutt vorstellte und berichtete von einer in der Familie tradierten Erzählung, wonach Anna dem Hauptmann, der sein Auge verloren hatte, einen Stein ins Gesicht gespuckt hatte, den sie in ihrem Mund versteckt hatte. Es handelt sich um eine "Rationalisierung" des ursprünglich magisch gedachten Geschehens.
Update: Bericht der BZ über den Vortrag
http://www.badische-zeitung.de/endingen/neue-quelle-zum-hexenprozess-gegen-anna-trutt
Die Weingartener Tagung Späte Hexenprozesse, auf der ich schon einmal einen Vortrag über den Fall hielt, fand 2005 statt (Bericht). Meine Aufsatzfassung für den von Wolfgang Behringer u.a. herausgegebenen Band gab ich 2009 ab, der letzte Kontakt mit der Redaktion datiert vom Anfang des Jahres - vielleicht darf man auf eine Publikation 2013 hoffen. Mein Aufsatz steht in meiner Fassung als Preprint jedenfalls ab sofort unter
https://www.researchgate.net/publication/232398260_Der_Endinger_Hexenprozess_gegen_Anna_Trutt_von_1751
zur Verfügung. Dort finden sich die wissenschaftlichen Belege für den folgenden Vortrag, für den ich mein Manuskript einerseits gekürzt, andererseits leicht erweitert habe. (Von der Wiedergabe extemporierter Erläuterungen z.B. von Schadenszauber für das Publikum habe ich in der folgenden Schriftfassung abgesehen.) Nachträglich habe ich auch einige Links ergänzt. Am Samstag war ich zwar in Wyhl, um die Gedenktafel am Rathaus zu fotografieren, aber aufgrund eines Umbaus ist sie (wohl zeitweilig) entfernt worden.
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„Wir haben gleich bey Anfang Unserer Regierung“, konstatierte Kaiserin Maria Theresia in ihrer am 5. November 1766 erlassenen „Landesordnung, wie es mit dem Hexenprozesse zu halten sei“, „auf Bemerkung, daß bey diesem sogenannten Zauber- oder Hexen-Process aus ungegründeten Vorurtheilen viel unordentliches sich mit einmenge, in Unseren Erblanden allgemein verordnet, daß solch-vorkommende Process vor Kundmachung eines Urtheils zu Unser höchsten Einsicht- und Entschlüssung eingeschicket werden sollen; welch Unsere höchste Verordnung die heilsame Wirkung hervorgebracht, daß derley Inquisitionen mit sorgfältigster Behutsamkeit abgeführet, und in Unsrer Regierung bishero kein wahrer Zauberer, Hexen-Meister entdecket worden, sondern derley Process allemal auf eine boshafte Betrügerey, oder eine Dummheit und Wahnwitzigkeit des Inquisiten, oder auf ein anderes Laster hinausgelofen seyen, und sich mit empfindlicher Bestrafung des Betrügers oder sonstigen Uebelthäters, oder mit Einsperrung des Wahnwitzigen geendet haben“.
Bereits die Erwähnung der unbegründeten Vorurteile nimmt ein Schlagwort der Aufklärung auf. Nachdem seit dem Regierungsantritt der Herrscherin alle Urteile in Hexensachen hatten vorgelegt werden müssen, sei keine wahre Hexe entdeckt worden. Nur Betrüger und Kriminelle seien bestraft, Wahnsinnige eingesperrt worden. Die Verordnung rief zur Vorsicht auf, doch war es bei einem ernsthaft angestrebten Teufelspakt, wenn er von anderen Verbrechen oder Blasphemie begleitet wurde, nach wie vor möglich, den oder die Schuldige auf den Scheiterhaufen zu bringen. Wahre übernatürliche Zauberei wurde zwar nicht ganz ausgeschlossen, galt aber als außerordentliche Ausnahme. In einem solchen Fall behielt sich Maria Theresia das Urteil vor.
Über zweihundert Jahre später,1992, formulierte der aus Wyhl gebürtige Lehrer Edwin Röttele eine Frage an die Kaiserin: „Aber Majestät, da war doch was. Da gab es doch die Anna Trutt aus Wyhl. Man hat sie als 63jährige in Ihrer Stadt Endingen am Kaiserstuhl gefoltert und als Hexe verbrannt. Haben Sie das nicht erfahren, Majestät?“. Diesem Widerspruch wird nachzugehen sein.
Abgesehen vom Problemfall Ungarn fanden Hexenprozesse in den habsburgischen Landen in der Mitte des 18. Jahrhunderts kaum noch statt. Die letzten Ermittlungen in Schwäbisch-Österreich wurden 1710/11 in Rottenburg am Neckar durchgeführt, in Vorarlberg gab es im 18. Jahrhundert keine Prozesse mehr. Im Elsaß, in der Landvogtei Hagenau und in der Ortenau wurde im 18. Jahrhundert niemand mehr als Hexe oder Hexer hingerichtet. In Tirol ist die letzte Hinrichtung für 1722 dokumentiert.
Der Hexenglaube war in der Mitte des 18. Jahrhunderts alles andere als besiegt. In den katholischen Territorien dürften Volk, Klerus und Beamtenschaft nach wie vor überwiegend von der Realität des Schadenszaubers überzeugt gewesen sein. Als eine Kommission am Wiener Hof 1752 an der Vereinigung zweier Gerichtsordnungen arbeitete, sah sie nicht die geringste Veranlassung, irgendwelche Änderungen an der Deliktsbeschreibung des crimen magiae und dem bisher beachteten Verfahren vorzunehmen. Noch in einer Kommissionssitzung 1755 wurde ganz selbstverständlich von der Möglichkeit ausgegangen, dass ein Mensch durch Zauberei verletzt oder ums Leben gebracht werden könne.
Bereits der Umstand, dass die theresianische Kriminalgerichtsordnung von 1768 vor allem aufgrund ihrer Abbildungen der Folterwerkzeuge bis heute populär ist, deutet an, dass dieses lediglich als Fortschreibung früherer Kodifikationen konzipierte Werk aus der Sicht der Aufklärer unzulänglich war. Unzufrieden war insbesondere der Staatskanzler Fürst Kaunitz, der in einer gutachtlichen Äußerung vom 22. Februar 1769 unter anderem bemängelte, dass „man kein Bedenken getragen hat von Zaubereyen und anderen abergläubischen Dingen zu handeln, die bei unseren aufgeklärten Zeiten vielmehr zum Gelächter dienen, als den Gegenstand der Strenge einer peinlichen Vorsehung abgeben können“. Erst das Allgemeine Gesetzbuch über Verbrechen und derselben Bestrafung, von Joseph II. am 13. Januar 1787 publiziert, kannte das Verbrechen der Zauberei nicht mehr. In der Vorbereitungskommission war man sich 1781 inzwischen einig, dass es so etwas wie Schadenszauber nicht geben könne, und der aufgeklärte Monarch stimmte der Streichung ausdrücklich zu.
War Maria Theresia fortschrittlicher als ihre Hofjuristen? Es gibt keinen Hinweis, dass sie von der Realität der Hexerei überzeugt war, wohl aber mehrere Äußerungen, die den Hexenglauben eindeutig als Resultat von „Ignoranz“ darstellen. In einer Resolution vom Juli 1756 sagte sie unmissverständlich: „Das ist sicher, daß allein Hexen sich finden, wo die Ignoranz ist, mithin selbe zu verbessern, so wird keine (Hexe) mehr gefunden werden“ . In der gleichen Angelegenheit hatte sie kurz zuvor ihre Überzeugung ausgesprochen, dass es keine Hexen-Zeichen gebe könne: „Ich möchte wissen, woher solche Zeichen probirt seynd, als in der grossen Ignoranz, indem keine Hexen existiren, also auch keine Zeichen“. Und an anderer Stelle schrieb sie lapidar: „Die Hexen haben allein ihr Königreich, wo Ignoranz der König ist“.
Ignoranz meint die schuldhafte Unwissenheit. Zu erinnern ist an die berühmte Definition: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ (Immanuel Kant 1784)
Die aufgeklärten Überzeugungen der Monarchin führten zu einer Kurskorrektur der Hofjuristen, aus der dann die Landesordnung von 1766 resultierte. Angesichts des sehr engen Vertrauensverhältnisses Maria Theresias zu ihrem aufgeklärten Leibarzt Gerard van Swieten wird man nicht daran zweifeln können, dass er die Überzeugungen der Herrscherin in Sachen Aberglaubensbekämpfung erheblich beeinflusst hat. Mit seinem Vampir-Traktat von 1755 gilt er als der intellektuelle Kopf hinter den seit diesem Jahr greifbaren Maßnahmen Maria Theresias gegen den Vampir- und Hexenglauben. Im August 1758 legte er der Herrscherin eine kritische Denkschrift zu den Hexereivorwürfen gegen eine Magdalena Heruczina in der heute kroatischen Stadt Križevac vor, die dazu führte, dass Maria Theresia die Delinquentin freisprach. Entschieden griff die Herrscherin erst ab 1755 gegen den von ihr als Wahn eingeschätzten Hexenglauben durch.
Wendet man sich vor diesem Hintergrund der letzten Hexenhinrichtung in Baden-Württemberg zu, bei der am 24. April 1751, elf Jahre nach dem Regierungsantritt Maria Theresias, Anna Schnidenwind geborene Trutt hier im vorderösterreichischen Endingen auf dem Scheiterhaufen starb, weil sie den verheerenden Brand des Dorfes Wyhl am 7. März 1751 verursacht haben soll, so ist man mit einer außerordentlich dürftigen Quellenüberlieferung konfrontiert. Edwin Röttele hat die Quellen in zwei Beiträgen gesammelt und im Wortlaut bzw. Übersetzung zugänglich gemacht. „Von Ende 1986 bis Mitte 1991 dauerte meine Suche“, schrieb er, „nach irgendeiner Spur dieses Prozesses, aber meine Anfragen an die Staatsarchive in Freiburg, Karlsruhe, Stuttgart, Innsbruck und Wien wurden samt und sonders negativ beschieden; es war, als habe es diesen Prozeß nie gegeben“. Es mag dahingestellt bleiben, ob sich nicht doch irgendwo archivalische Überlieferung zu dem Fall ausfindig machen lässt (ich habe nicht danach gesucht), die Akten des vor dem Stadtgericht Endingen geführten Prozesses sind jedenfalls verloren.
Drei geistliche Herren vermerkten in ihren Aufzeichnungen den Kriminalfall. Lapidar registrierte Abt Petrus Glunk von St. Märgen in seinem Tagebuch nach Erwähnung der Brandschäden, die Person, die den Brand verursacht habe, „ware eine Zauberin, so auch verbrändt worden“. Etwas ausführlicher wurde der Pfarrer von Oberhausen. Zunächst habe man angenommen, die beschuldigte Bürgersfrau aus Wyhl habe aus Unachtsamkeit ihren Kuhstall in Brand gesetzt. Auf der Folter aber sei herausgekommen, dass sie eine Erzhexe und Zauberin war. Der Wyhler Pfarrer Matthias Hagenbuch, Augustiner-Chorherr aus St. Märgen, schrieb in sein Notabilienbuch: „Weilen dan anfangs gemeldet der Brand suspect war, als hat die Herrschaft Endingen des Mathis Schnidenwindts Weib, welche angegeben worden, sie hätte durch Beraichung ihres Viehs disen Brand verursachet, vor Rath citiert. Sie hieß Anna Truttin, war gebohren anno 1688. Und nachdem sie überzigen worden, daß sie einigen Bürgern ihr Vieh verdorben, ist sie gefänglich angehalten, und scharf examiniert worden, da sie dan bestanden, daß sie ein pact mit dem Teufel gehabt, auch mit dessen Beyhilf den erbärmlichen Brand mit Fleiß angestekht. Auf welches ihr der Sentenz gefällt worden, daß sie lebendig solle verbrennt werden, welches auch an ihr den 24. April 1751 vollzogen worden, der Zuschauer waren mehrer dan 10 bis 12000. Das Urtheil war bey dem Endinger Hochgericht vollzogen“.
Festgehalten werden soll: Keiner dieser Kleriker äußerte irgendeinen Zweifel daran, dass Anna Trutt eine Hexe war. Nicht anders verhält es sich mit einer von Röttele nicht erwähnten Quelle: dem kargen lateinischen Eintrag in die Fakultätsakten der von den Jesuiten besetzten Freiburger Theologischen Fakultät.
In einem kurzen Eintrag des Endinger Stadtschreibers wählte dieser den Begriff „veneficium“, der sowohl Hexerei als auch Giftmischerei bedeuten konnte, und bei den späten Fällen allgemein üblich war. Nach ordnungsgemäß durchgeführter Untersuchung und einem dazu eingeholten Rechtsgutachten sei Anna Trutt auf den Scheiterhaufen gebracht, erdrosselt und durchs Feuer vom Leben zum Tod gebracht worden. Er unterschlägt die Folter und möchte den Eindruck erwecken, alles sei nach Recht und Gesetz abgelaufen.
Dass eine Hexe im Bunde mit dem Teufel eine ganze Stadt auslöschen konnte, dafür gab es am Oberrhein ein überregional berühmtes Exempel. Hans Harter hat in seinem Büchlein „Der Teufel von Schiltach“ (2005) die publizistische Breitenwirkung des angeblich von einer Hexe verursachten großen Schiltacher Stadtbrandes von 1531 mustergültig dargestellt. Aufgrund zeitgenössischer Flugblätter ging der Fall in die viel gelesene frühneuzeitliche Kompilationsliteratur ein. Von den großen Balinger Stadtbränden 1607, 1672, 1724 und 1809 wurden die beiden ältesten auf das Wirken von Hexen zurückgeführt. 1673 starb die als Urheberin verdächtigte Catharina Engelfried, die auf der Folter ihre Schuld geleugnet hatte, nach einem Akt der Lynchjustiz.
Der Wyhler Pfarrer erwähnt das Beräuchern des Viehs durch die Beschuldigte. Im Endinger Ratsprotokoll vom 9. März 1751 ist nur die Rede davon, das Feuer sei von dem Stall des Mathias Schnidenwind aufgrund der Aufwärmung eines Stück Viehs ausgegangen, und auch bei dem Verhör vom 16. März 1751 beteuerten die Eheleute Schnidenwind, es sei nur um das Aufwärmen einer kranken Kuh gegangen. Anna sagte aus, sie habe der Kuh einen warmen Heublumenwickel aufgelegt und sei dann zu ihrer Nachbarin gegangen. Das Beräuchern des Viehs war eine im ganzen deutschsprachigen Raum volkstümliche und beliebte abergläubische Praxis. Gern räucherte man zu bestimmten Brauchterminen mit neunerlei Kräutern. Solches Räuchern könnte natürlich tatsächlich den Brand ausgelöst haben. 1596 brannte Pyritz in Pommern beim Räuchern ab. Und weil eine Bäuerin in der Walpurgisnacht 1781 Hexen ausräuchern wollte, wurde das schlesische Dorf Lippen ein Raub der Flammen. Während das Räuchern heute eine von vielen esoterischen Praktiken moderner Hexen darstellt, kann keine Rede davon sein, dass Räuchern allgemein als Teufelswerk betrachtet worden sei. Im Gegenteil: Räuchern wurde nicht zuletzt als wirksamer Gegenzauber gegen Hexen angesehen. Wenn Anna Trutt im Kuhstall geräuchert hat, dann nicht, um Schadenszauber auszuüben, sondern um ihrem Vieh zu helfen und womöglich die bösen Hexen zu vertreiben. Der siebte März 1751 war der zweite Fastensonntag Reminiscere, Fronfastensonntag. Der vorangehende Samstag gehörte noch zu den eigentlichen Fronfasten, den ersten Quatembern des Jahres, die für das Hexenwesen bekanntlich eine wichtige Rolle spielten.
Was lag näher, als durch Räuchern am unmittelbar folgenden Tag des Herrn die bösen Hexen vom Vieh fernzuhalten? Trifft diese Deutung zu, wäre Anna Trutt eine von nicht wenigen als Hexen verbrannten Frauen gewesen, die aufgrund der Ausübung eines Abwehrzaubers gegen Hexerei in das Räderwerk des Grauens geraten ist.
Anzuzeigen ist nun ein Neufund an unerwarteter Stelle – im Internet. Die Universitätsbibliothek Bielefeld hat in einem grandiosen Projekt „Zeitschriften der Aufklärung“ digitalisiert und als frei zugängliche Faksimiles ins Netz gestellt:
http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufklaerung/index.htm
27 Aufsätze sind derzeit mit dem Schlagwort Hexenprozesse auffindbar.
Verständlicherweise hat die Hexenhinrichtung im reformierten Glarus (Anna Göldi wurde am 13. Juni 1782 mit dem Schwert hingerichtet) damals die meiste Aufmerksamkeit erregt.
Ein Jahr zuvor starb Anna Schwegelin in Kempten im Gefängnis. Sie war 1775 zum Tode verurteilt worden, doch das Urteil wurde nicht vollstreckt. Bis in jüngste Zeit glaubte man, sie sei tatsächlich als letzte angebliche Hexe auf Reichsboden hingerichtet worden.
Nach derzeitigem Kenntnisstand fand die letzte Hexenverbrennung im deutschsprachigen Raum 1756 in Landshut statt, das Opfer war eine 13jährige Waise namens Veronica Zerritschin. (Bislang verwies man auf das Landshuter Wochenblatt 1818, das eine verschollene Primärquelle abdruckte, doch gab es, wie ich jetzt herausfand, schon in den Münchner Miscellen 1810 eine Publikation dieses Aktenstücks:
http://books.google.de/books?id=dpVEAAAAcAAJ&pg=PT218 )
Vier Zeitschriften publizierten in der Bielefelder Auswahl zu dem „Justizmord“ in Glarus 1782. Dieser Begriff Justizmord wurde im Januar 1783 von dem Göttinger Historiker August Ludwig von Schlözer in einem Aufsatz seiner Stats-Anzeigen über den Fall Göldi geprägt. Seine Definition nachlesbar im Digitalisat der Stats-Anzeigen (Band 2, Heft 7, S. 273): „Ich verstehe unter diesem neuen Worte die Ermordung eines Unschuldigen, vorsetzlich, und so gar mit allem Pompe der heil. Justiz, verübt von Leuten, die gesetzt sind, daß sie verhüten sollen, daß kein Mord geschehe, oder falls er geschehen, doch behörig bestraft werde“. Ebenfalls online präsent ist die Begründung der Neun-Millionen-Theorie durch Gottfried Christian Vogt in der Berlinischen Monatsschrift 1784.
Im Leipziger „Deutschen Museum“ 1780 wurde ein kurzer „Beitrag zur Hexengeschichte von Deutschland. Aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts“ veröffentlicht, am Schluss der kurzen Einleitung signiert mit „Sander“. Wenig später tritt in der gleichen Zeitschrift als ständiger Mitarbeiter Christian Levin Sander (1756-1819) auf, der 1780 Lehrer am Dessauischen Erziehungsinstitut war. Ein vollgültiger Beweis, dass der Beitrag von diesem Autor stammt, ist das natürlich nicht.
Sander publizierte aus dem Nachlass eines nicht genannten, 1780 schon geraume Zeit verstorbenen Mannes ein Aktenstück, das Todesurteil einer zu E. verbrannten Frau. Um „vieler Ursach willen“ dürfe er den Namen des Ortes nicht ausschreiben. Der Name der Delinquentin wird mit A.S. geborene T., sesshaft zu W. abgekürzt. Die Erwähnung der Feuersbrunst vom 7. März beseitigt alle Zweifel: Es handelt sich um das Urteil des Endinger Falles Trutt. Ob dieses Satz für Satz authentisch ist, kann in Ermangelung anderer Überlieferung natürlich nicht erwiesen werden. Für eine Fälschung sind jedoch keine Gründe ersichtlich.
Die 62jährige Inquisitin bekannte, „sowohl in Güte, als in der Schärfe“ (also auf der Folter), „daß sie vor ungefehr 9 Jahren von unbekanten Soldatenleuten, welche sie Teufel zu sein hernach eingestanden, ein zauberisches Pulver erhalten, mit dem sie, wenn sie es in des Teufels Namen gebraucht habe, Leuten und Vieh schaden, reich werden, und allenthalben, wohin sie wolle, hinkommen können“. Mit Initialen werden vier Nachbarn namhaft gemacht, bei denen sie das Pulver angewandt habe. Die Schäden am Vieh werden detailliert aufgelistet. Sie habe sich dem Teufel auf sein Drängen hin verschrieben und den heiligen Schutzengel verleugnet. Beides habe sie nie gebeichtet. Sie sei schuld an der Feuersbrunst vom 7. März, „wozu sie von dem Teufel genöthigt worden“.
Die Angaben zum Verfahren gehen über das hinaus, was man bisher wusste: „Also hat man von Amts und Obrigkeitswegen nach Anleitung der gottgefälligen Justiz, nach ordentlich geführtem Prozeß, beschehener Anzeige, eingenommenen Kundschaften, und dem, wie schon gemeldet, von ihr, Delinquentin, sowohl gütiglich, als in der Schärfe gethanenem Bekentnis, auch bei der vorgenommenen Besiebenung von ihr beschehener Bekräftigung, nicht weniger einer für sie Delinquentin vorhero abfassen lassender Schuzschrift, und von einem unpartheiischen Rechtsgelehrten eingeholten rechtlicher Meinung und Gutachten“ das Endurteil abgefasst. Im nächsten Satz wird aber stattdessen der Plural verwendet: „von auswärtigen Rechtsverständigen, nebst ex officio für dich in vim defensionis gemachten Vorstellungen eingeholten Gutachten“.
Anna Trutt soll dem Nachrichter übergeben und auf dem Scheiterhaufen vom Leben zum Tod gebracht werden.
Trotz der Erwähnung einer Schutzschrift fällt es schwer, in dem Schnellverfahren – anderthalb Monate nach dem Brand fand bereits die Hinrichtung statt – ein rechtsförmliches korrektes Verfahren zu sehen. Von einem „Justizmord“ spricht Edwin Röttele. Analog zu dem modernen Begriff „Forum Shopping“ für die Möglichkeit, ein zuständiges Gericht nach eigenen Wünschen anrufen zu können, könnte man von „Gutachter Shopping“ sprechen: Lokale Obrigkeiten konnten durch die Auswahl der Personen oder Institutionen, an die die Akten versandt wurden, Einfluss auf das Resultat nehmen.
Nachdem sowohl der Endinger Stadtschreiber als auch das Urteil von einem einzigen Rechtsgelehrten bzw. Rechtsgutachten sprechen, ist es plausibel, dass lediglich ein auswärtiger Jurist, aber keine Juristenfakultät um ein Gutachten gebeten wurde. „Hardliner“, also Verfolgungsbefürworter gab es ja noch genug. Es erscheint unwahrscheinlich, dass die Freiburger Juristenfakultät auf Folter oder Hinrichtung erkannt hätte.
Von der Zustimmung der Jesuiten der Freiburger Theologenfakultät weiß nur eine anscheinend verschollene handschriftliche Geschichte Endingens von Bürgermeister Franz Michael Kniebühler aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: „Die 68jährige Anna Trütten, Ehefrau des Matthias Schneidewind zu Wihl am Rheine in dem vorderösterreichischen Breisgau, hatte bei dem Ausräuchern ihres Stalles eine Feuersbrunst veranlaßt, und unter den Schmerzen der Folter das Bekenntniß abgelegt, sie habe einen Bund mit dem Teufel geschlossen und häufig Zusammenkünfte der Hexen besucht. Nachdem die Richtigkeit des gegen sie eingeleiteten Verfahrens auch durch die theologische Fakultät zu Freiburg gutgeheißen worden war, wurde die Unglückliche am 24. April 1751 aus ihrem Gefängnisse zu Endingen vor das dortige Breisacher Thor auf den Juden-Buck geführt und hier, weil sie sich wie rasend den Scharfrichtern widersetzte, geknebelt auf den Holzstoß geworfen und lebendig verbrannt“.
Möglicherweise hatte Kniebühler noch Zugang zu den heute verschwundenen Prozessakten, wenngleich es auffällig ist, dass weder der Endinger Stadtschreiber noch das Urteil eine legitimierende Stellungnahme der Theologenfakultät erwähnen.
Anna Trutt gehörte ihrer Herkunft nach zu einer Familie der dörflichen Ehrbarkeit in Wyhl. 1688 geboren, heiratete sie erst spät in erster Ehe Fridolin Thrönle, dem sie sechs Kinder gebar. Nach dem Tod Thrönles 1742 ging sie eine neue Ehe mit Mathias Schnidenwind ein, Mitglied des Dorfgerichts. Warum ist es Anna Trutt nicht gelungen, eine wirksame Verteidigung aufzubauen? Offenbar war sie übel beleumundet und galt als Hexe. Fehlte ihr das nötige „Sozialkapital“, um in der lokalen Panik nach dem katastrophalen Brand, in dem auch ein dreijähriges Kind gestorben war, bestehen zu können? Womöglich hätte eine Einschaltung des Reichskammergerichts oder ein Gnadengesuch nach Wien dem Spuk ein Ende bereitet.
Dass man in Innsbruck oder Wien nicht unterrichtet war, mag sein. Aber es scheint undenkbar, dass die Freiburger Regierung im Vorfeld nichts von der Hinrichtung erfahren hat. Man wird weggesehen und die Entscheidung des Endinger Stadtgerichts respektiert haben, die ja formal im Einklang mit der österreichischen und allgemeinen juristischen Tradition stand.
Hier wie auch sonst war die Zusammenarbeit von Volk und Obrigkeit unheilvoll. Katastrophen wie der Wyhler Brand lösten immer wieder lokale Hexenpaniken aus. Dem Verfolgungsdruck von unten korrespondierte eine verfolgungsbereite Obrigkeit, die sich bei dem Endinger Urteil offenkundig nicht vom aufgeklärten Zeitgeist beeinflussen lassen wollte.
Aber was ist mit der angeblich seit 1740 geltenden Verordnung, Hexenprozessakten vor Publizierung des Urteils nach Wien zu schicken? Diese Ansicht kann sich zwar auf den Wortlaut der Landesordnung von 1766 berufen, doch es gibt bisher keinerlei Beweis dafür, dass die aus Anlass des Auftauchens des Vampirglaubens in Hermersdorf erlassene Zirkularverordnung vom 1. März 1755, die auch Hexensachen betraf und fallweise einen Bericht an die Herrscherin vorsah, einen Vorgänger gehabt hat. Es wäre auch kaum verständlich, dass die Hofjuristen noch 1752 die unveränderte Übernahme früherer Hexerei-Artikel beschlossen haben sollen, hätte es bereits 1740 eine Verordnung der Monarchin gegeben, die zur Vorsicht aufrief. Solange die Existenz dieser Verordnung nicht nachgewiesen werden kann, darf davon ausgegangen werden, dass sie nicht existiert hat.
„Ebenso wie für den Beginn den Hexenverfolgung lässt sich auch für deren Ende nicht einfach eine einfache Ursache angeben“ schreibt Johannes Dillinger (Hexen und Magie, 2007, S. 151) und fährt fort: „Zur Erklärung beider Prozesse muss ein Bündel von Faktoren herangezogen werden. Das Ende der Verfolgungen verdankte sich im Wesentlichen der weiteren Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Justizapparate, der Kritik von Verfolgungsgegnern und Aufklärern sowie der Transformation der ländlichen Lebenswelt. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verbesserte sich die ökonomische und soziale Situation. Der Agrarsektor verlor im Verlauf des 18. Jahrhunderts an Bedeutung. Zugleich gewannen die bäuerlichen Ökonomien allmählich an Sicherheit. Der Hexenangst wurde ein großer Teil ihres Nährbodens entzogen.“
Solche Differenzierungen sind freilich unpopulär, auch wenn sich der seit 1985 bestehende Arbeitskreis interdisziplinäre Hexenforschung (AKIH), zu dessen Gründungsmitgliedern ich gehöre, von Anfang an um sie bemüht. Seit betreibt der AKIH die von mir administrierte Mailingliste Hexenforschung, in der Neuigkeiten zur Hexenforschung vermeldet werden und auch Diskussionen zum Thema ihren Platz haben.
Die besten seriösen Informationen liefert historicum.net:
http://www.historicum.net/de/themen/hexenforschung/
Anders als die Würzburger Hexenhinrichtung von 1749 hat der Endinger Fall, soweit bekannt, kein publizistisches Aufsehen erregt. Aufklärerisch gesinnte Männer aus dem Breisgau haben vielleicht geschwiegen, weil sie kein Wasser auf die Mühlen jener leiten wollten, die in den katholischen Gebieten nur abergläubische Rückständigkeit am Werk sehen wollten. Verglichen mit den meinungsführenden protestantischen Blättern war die katholische Aufklärung weit weniger einflussreich.
Noch dreißig Jahre nach der Hinrichtung wagte es Sander nicht, den Ortsnamen auszuschreiben und Österreich mit dem Endinger Casus an den Pranger zu stellen. Er versetzte den in seiner Publikation undatierten Fall sogar in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, um seine Identifizierung weiter zu erschweren. In einer Fußnote wies Sander jedoch ausdrücklich darauf hin, dass der nicht genannte Ort katholisch war. Die bürgerlichen Leser des „Deutschen Museums“ durften sich in ihren Vorurteilen über den Katholizismus bestätigt fühlen.
Vor Ort blieb die Erinnerung an die Hinrichtung lebendig. Wenn im Wyhler Schulhaus ein „Hexenkämmerchen“ gezeigt wurde und in den Schwarzwaldsagen von Johannes Künzig 1930 nachzulesen ist, man habe in Wyhl vor 150 Jahren eine Hexe verbrannt, von der man noch heute ihr Hexengeschrei am Galgenbuck höre, wird man dies aber nicht ohne weiteres auf eine ungebrochene mündliche Tradition beziehen dürfen. Immerhin hatte es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder gedruckte Hinweise auf den Fall gegeben. 1870 hatte der Endinger Bürgermeister Kniebühler in seiner gedruckten Faschings-Schrift „Der Hobelmann“ den Casus in Versform behandelt.
Die mündliche Erinnerung galt nicht einem tragischen Schicksal, sie galt der unheilbringenden Hexe. Aus Kniebühlers Handschrift führt Vierordt an: „Selbst noch auf ihrem letzten Gange aus dem Gefängnisse zum Scheiterhaufen, so wurde in Endingen auch lange hernach alles Ernstes versichert, habe diese boshafte Hexe mehrere Bürger auf’s Gefährlichste beschädigt; namentlich einen Färber durch ihren unbeschreiblichen Blick, und einen Andern durch Treten auf seinen Fuß, welcher zeitlebens niemals wieder genas“. In der Wyhler Ortsgeschichte von Fritz Späth aus dem Jahr 1963 wird als „Sage“ berichtet: Bei der Hinrichtung habe Anna, erzähle man sich „noch heute“, als letzten Wunsch vor der Verbrennung geäußert, sie wolle mit dem Hauptmann der Stadtwache sprechen. Sie habe ihn daraufhin erblinden lassen. Schadenszauber erscheint in diesen Zeugnissen immer noch als geglaubte Tradition.
Seit 2001 erinnert eine Gedenktafel am Rathaus von Wyhl an den Fall Trutt, und die Stadt Endingen hat den Hexenprozessen eine eigene Dauerausstellung im Alten Wagenmannkeller gewidmet. Dort wird auch das Schicksal der Anna Trutt dokumentiert.
Seit September 2005 gibt es zu Anna Trutt unter „Anna Schnidenwind“ einen ganz kurzen Artikel in der Wikipedia, der 2006 auch in die spanische Version der freien Enzyklopädie übersetzt wurde. Das im Bielefelder Digitalisat des „Deutschen Museums“ entdeckte Urteil ist seit 2008 auch als E-Text online, in der freien Quellensammlung Wikisource.
Auf einer eher fragwürdigen Internetseite mit Listen erscheint Anna Trutt auf Platz 10 der bekanntesten Opfer der Hexenverfolgung.
Im Juni 2012 berichtete die Badische Zeitung vom biographisch-historischen Roman einer Bad Krozinger Hobby-Autorin, Helga Eberle, die ihr Buch mit dem Fall Trutt beginnt:
"Ich wollte etwas von mir reinbringen", räumt Helga Eberle ein. Und das ist in erster Linie die Frage, "Wie können Menschen nur so sein?", dass sie wie im Fall der Anna Schnidenwind eine Unschuldige auf dem Scheiterhaufen verbrennen.
"Hört das denn nie auf?", fragt Helga Eberle. Deshalb lässt sie [ihre Heldin] Katharina Biechele als alte Frau auf den Galgenberg steigen und dort wo, vor über 250 Jahren Anna Schnidenwind im Feuer starb, mit den Worten "Anna, ich habe dir versprochen, du darfst nicht vergessen werden", Feuerblumen verstreuen.“
***
Nach dem Vortrag trat eine junge Frau auf mich zu, die sich als Verwandte der Anna Trutt vorstellte und berichtete von einer in der Familie tradierten Erzählung, wonach Anna dem Hauptmann, der sein Auge verloren hatte, einen Stein ins Gesicht gespuckt hatte, den sie in ihrem Mund versteckt hatte. Es handelt sich um eine "Rationalisierung" des ursprünglich magisch gedachten Geschehens.
Update: Bericht der BZ über den Vortrag
http://www.badische-zeitung.de/endingen/neue-quelle-zum-hexenprozess-gegen-anna-trutt
KlausGraf - am Sonntag, 21. Oktober 2012, 20:58 - Rubrik: Landesgeschichte