Meister Eckhart in Augsburg. Deutsche Mystik des Mittelalters in Kloster, Stadt und Schule. Katalog zur Handschriftenausstellung in der Schatzkammer der Universitätsbibliothek Augsburg (18. Mai bis 29. Juli 2011). Hrsg. von Freimut Löser unter Mitarbeit von Robert Steinke und Günter Hägele. Augsburg: Universitätsbibliothek 2011. 216 S. 15 Euro
Man hat sich bisher vor allem mit einzelnen Eckhart-Sammlungen und mit der Überlieferung in einzelnen Klöstern, wie etwa im österreichischen Stift Melk, befasst. In den letzten Jahren wird zunehmend aber nach dieser Überlieferung in genau definierten Räumen gefragt: Wenn Meister Eckharts Lehre eine Lehre für die Stadt und in der Stadt ist - kam diese Lehre dann auch in der Stadt an? [...] Diesem neuen Ansatz ist auch die Ausstellung "Meister Eckhart in Augsburg. Deutsche Mystik des Mittelalters in Kloster, Stadt und Schule" verpflichtet: Immer mit Blick auf deren Bezug zu Augsburg untersucht sie die mittelalterliche und frühneuzeitliche Überlieferung solcher Werke, die von Meister Eckhart selbst stammen, aber auch solcher, die Eckharts Werke benutzen oder ihn als Person auftreten lassen. Die Leitfrage dabei ist, welches Interesse man an Eckhart hier in Augsburg haben konnte, in dieser Stadt, die im Spätmittelalter reich an Klöstern war, reich an Schreibern, reich an Druckern und ebenso reich an reichen - und gebildeten - Bürgern.
http://www.uni-augsburg.de/upd/2011/april-juni/2011_075/
Diese interessante Leitfrage mag die sicher sehenswerte Ausstellung beantworten, aber nicht der Katalog. Ein solcher roter Faden ist nicht erkennbar. Zunächst gibt Freimut Löser einen allgemeinen Überblick über Leben, Werke, Lehre und Überlieferung von Meister Eckhart. Gerade der Überlieferungsteil verweist für das 15. Jahrhundert auf noch zu leistende überlieferungsgeschichtliche Studien und geht mit keiner Silbe auf Augsburg ein. Sodann stellt Günter Hägele Handschriften und Frühdrucke aus dem Zisterzienserinnenkloster Kirchheim im Ries und dem bis 1576 bestehenden Birgitten-Doppelkloster Maria Mai vor, während Bettina Wagner die Eckhart-Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek bespricht (eine Liste mit 58 Nummern gibt Kurzangaben; ich vermisse Cgm 8627, der 48r ff. "Von abegescheidenheit" - Wagner zählt die umstrittene Schrift zu den Eckhart-Werken - überliefert, siehe den Tenner-Katalog). Nutzlos erscheint mir die Zusammenstellung kurzer Abrisse der Geschichte der Klöster, Konvente und Stifte vor allem in Augsburg von Klaus Vogelgsang und Ulrike Zuckschwerdt, die jegliches Gespür für die bibliotheks- und überlieferungsgeschichtliche Relevanz ihres Themas vermissen lassen. Im Titel des Buchs steht "Schule", weil ein Schreiber um 1450 sich "scolaris" in Augsburg nennt (Abbildung S. 129), aber die Augsburger Schulen werden in dieser Übersicht (und im ganzen Buch) allen Ernstes auf 4 Zeilen abgehandelt! Meine Studie von 1995 (siehe unten) ist hier nicht rezipiert.
Vielleicht kommt man dem roten Faden, den man bisher so schmerzlich vermisste, in der Beschreibung der Textzeugen näher? Reich mit schönen Abbildungen ausgestattet, bleiben die Beschreibungen in der Regel deskriptiv, eine Synthese der Einzelbeobachtungen (oder schlicht Inhaltsnacherzählungen vorhandener Handschriftenbeschreibungen) fehlt. Für den Handschriftencensus sind die beiden "neuen" Handschriften aus den modernen Klosterbibliotheken von St. Stephan in Augsburg und von St. Bonifaz in München von Belang - und schon eingearbeitet:
http://www.handschriftencensus.de/4287
http://www.handschriftencensus.de/23674
Umgekehrt zeigt sich die Internetabstinenz der altgermanistischen "Generation Fax" auf die quälendste Weise. Man hätte doch die Literaturangaben mit Verweisen auf den Handschriftencensus entlasten oder ergänzen können - zu Nutz und Frommen all derer, die keine reich ausgestattete altgermanistische Institutsbibliothek vor der Nase haben. Selbst die Existenz des Digitalisates von Cgm 4482 (S. 82-85) wird verschwiegen:
http://daten.digitale-sammlungen.de/0003/bsb00034577/images/
Was die deutschsprachige religiöse Literatur in Augsburg im 15. Jahrhundert angeht, hätte man auf bereits vorliegende Forschungen zurückgreifen können, nämlich auf meinen umfangreichen Aufsatz
Klaus Graf: Ordensreform und Literatur in Augsburg während des 15.Jahrhunderts. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, hrsg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp (= Studia Augustana 7), Tübingen 1995 [erschienen 1996], S. 100-159
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5242/
Dieser wird nur S. 101 und 129 zitiert. Mit der Volltextsuche dank OCR kann man sich leicht überzeugen, dass ich dort verschiedentlich auf die Rezeption mystischer Gedanken in Augsburg eingegangen bin. Im zu besprechenden Band S. 129 wird eine kurze Bemerkung in meiner Fechter-Rezension in der Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 34 (1998), S. 339-340 aufgegriffen:
http://swbplus.bsz-bw.de/bsz015641902rez.pdf
"Einer zusammenfassenden Aussage über die Eigenart des Inzigkofener Handschriftenbestands vor dem
Hintergrund der literarischen Interessen in den reformierten Frauengemeinschaften des 15. Jahrhunderts
hat sich der Autor bewußt verweigert (S. 187). Sehr zurückhaltend äußert er sich auch über eine
bemerkenswerte Aktion nach 1440, mit der deutsche Mystikertexte für Inzigkofen besorgt wurden (S.
180f.). Der mutmaßliche Herkunftsort Augsburg von drei dieser Handschriften wirft die Frage auf, in
welchem reformgeschichtlichen Kontext die Textzeugen von 1440 (Nr. 9-11) zu sehen sind.
Anhaltspunkte für eine Entstehung in der erst 1441 der Melker Reform beigetretenen Abtei St. Ulrich und
Afra sind nicht ersichtlich, und so sehe ich mich in meiner skeptischen Haltung gegenüber der starken
Betonung der Ordensreform bestätigt, die ich ohne Kenntnis der nach Inzigkofen gelangten Handschriften
in der Studie über "Ordensreform und Literatur in Augsburg während des 15. Jahrhunderts" (in:Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, 1995, insbesondere S. 133f., 156)
eingenommen habe. Man wird doch eher an den Weltklerus oder reformgesinnte Laien denken müssen,
die in Augsburg schon vor den Benediktinern deutschsprachige Erbauungsliteratur lasen und verbreiteten."
Bekanntlich vertrete ich gegen Williams-Krapp die These, dass nicht die Ordensreformen für die explosionsartige Ausbreitung des deutschsprachigen religiösen Schrifttums verantwortlich sind, sondern das Bündnis von reformgesinnten Kräften in den Klöster, von Weltklerikern und Laien. Der vorliegende Band, so nobel ausgestattet und philologisch gediegen er auch sein mag, mogelt sich um eine Stellungnahme herum, er breitet zwar überlieferungsgeschichtliche Materialien aus, lässt den Leser aber ratlos zurück, der mehr als ein simples Ja als Antwort auf die eingangs zitierte Frage erwartet, ob Meister Eckhart in Augsburg "ankam". Die spezifischen Interessen hinter der Eckhart-Rezeption und ihre Träger hat man anders zu beschreiben als mit Detailbeobachtungen in einzelnen Handschriftenbeschreibungen.
Inhalts- und Handschriftenverzeichnis
http://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/germanistik/spracheliteratur/lehrstuhl_loeser/publikationen/bilder/katalog.pdf
(D)
Update:
http://www.eckhart.de/?aktuell.htm#120611
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Eckharts_wirtschaft.jpg
Man hat sich bisher vor allem mit einzelnen Eckhart-Sammlungen und mit der Überlieferung in einzelnen Klöstern, wie etwa im österreichischen Stift Melk, befasst. In den letzten Jahren wird zunehmend aber nach dieser Überlieferung in genau definierten Räumen gefragt: Wenn Meister Eckharts Lehre eine Lehre für die Stadt und in der Stadt ist - kam diese Lehre dann auch in der Stadt an? [...] Diesem neuen Ansatz ist auch die Ausstellung "Meister Eckhart in Augsburg. Deutsche Mystik des Mittelalters in Kloster, Stadt und Schule" verpflichtet: Immer mit Blick auf deren Bezug zu Augsburg untersucht sie die mittelalterliche und frühneuzeitliche Überlieferung solcher Werke, die von Meister Eckhart selbst stammen, aber auch solcher, die Eckharts Werke benutzen oder ihn als Person auftreten lassen. Die Leitfrage dabei ist, welches Interesse man an Eckhart hier in Augsburg haben konnte, in dieser Stadt, die im Spätmittelalter reich an Klöstern war, reich an Schreibern, reich an Druckern und ebenso reich an reichen - und gebildeten - Bürgern.
http://www.uni-augsburg.de/upd/2011/april-juni/2011_075/
Diese interessante Leitfrage mag die sicher sehenswerte Ausstellung beantworten, aber nicht der Katalog. Ein solcher roter Faden ist nicht erkennbar. Zunächst gibt Freimut Löser einen allgemeinen Überblick über Leben, Werke, Lehre und Überlieferung von Meister Eckhart. Gerade der Überlieferungsteil verweist für das 15. Jahrhundert auf noch zu leistende überlieferungsgeschichtliche Studien und geht mit keiner Silbe auf Augsburg ein. Sodann stellt Günter Hägele Handschriften und Frühdrucke aus dem Zisterzienserinnenkloster Kirchheim im Ries und dem bis 1576 bestehenden Birgitten-Doppelkloster Maria Mai vor, während Bettina Wagner die Eckhart-Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek bespricht (eine Liste mit 58 Nummern gibt Kurzangaben; ich vermisse Cgm 8627, der 48r ff. "Von abegescheidenheit" - Wagner zählt die umstrittene Schrift zu den Eckhart-Werken - überliefert, siehe den Tenner-Katalog). Nutzlos erscheint mir die Zusammenstellung kurzer Abrisse der Geschichte der Klöster, Konvente und Stifte vor allem in Augsburg von Klaus Vogelgsang und Ulrike Zuckschwerdt, die jegliches Gespür für die bibliotheks- und überlieferungsgeschichtliche Relevanz ihres Themas vermissen lassen. Im Titel des Buchs steht "Schule", weil ein Schreiber um 1450 sich "scolaris" in Augsburg nennt (Abbildung S. 129), aber die Augsburger Schulen werden in dieser Übersicht (und im ganzen Buch) allen Ernstes auf 4 Zeilen abgehandelt! Meine Studie von 1995 (siehe unten) ist hier nicht rezipiert.
Vielleicht kommt man dem roten Faden, den man bisher so schmerzlich vermisste, in der Beschreibung der Textzeugen näher? Reich mit schönen Abbildungen ausgestattet, bleiben die Beschreibungen in der Regel deskriptiv, eine Synthese der Einzelbeobachtungen (oder schlicht Inhaltsnacherzählungen vorhandener Handschriftenbeschreibungen) fehlt. Für den Handschriftencensus sind die beiden "neuen" Handschriften aus den modernen Klosterbibliotheken von St. Stephan in Augsburg und von St. Bonifaz in München von Belang - und schon eingearbeitet:
http://www.handschriftencensus.de/4287
http://www.handschriftencensus.de/23674
Umgekehrt zeigt sich die Internetabstinenz der altgermanistischen "Generation Fax" auf die quälendste Weise. Man hätte doch die Literaturangaben mit Verweisen auf den Handschriftencensus entlasten oder ergänzen können - zu Nutz und Frommen all derer, die keine reich ausgestattete altgermanistische Institutsbibliothek vor der Nase haben. Selbst die Existenz des Digitalisates von Cgm 4482 (S. 82-85) wird verschwiegen:
http://daten.digitale-sammlungen.de/0003/bsb00034577/images/
Was die deutschsprachige religiöse Literatur in Augsburg im 15. Jahrhundert angeht, hätte man auf bereits vorliegende Forschungen zurückgreifen können, nämlich auf meinen umfangreichen Aufsatz
Klaus Graf: Ordensreform und Literatur in Augsburg während des 15.Jahrhunderts. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, hrsg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp (= Studia Augustana 7), Tübingen 1995 [erschienen 1996], S. 100-159
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5242/
Dieser wird nur S. 101 und 129 zitiert. Mit der Volltextsuche dank OCR kann man sich leicht überzeugen, dass ich dort verschiedentlich auf die Rezeption mystischer Gedanken in Augsburg eingegangen bin. Im zu besprechenden Band S. 129 wird eine kurze Bemerkung in meiner Fechter-Rezension in der Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 34 (1998), S. 339-340 aufgegriffen:
http://swbplus.bsz-bw.de/bsz015641902rez.pdf
"Einer zusammenfassenden Aussage über die Eigenart des Inzigkofener Handschriftenbestands vor dem
Hintergrund der literarischen Interessen in den reformierten Frauengemeinschaften des 15. Jahrhunderts
hat sich der Autor bewußt verweigert (S. 187). Sehr zurückhaltend äußert er sich auch über eine
bemerkenswerte Aktion nach 1440, mit der deutsche Mystikertexte für Inzigkofen besorgt wurden (S.
180f.). Der mutmaßliche Herkunftsort Augsburg von drei dieser Handschriften wirft die Frage auf, in
welchem reformgeschichtlichen Kontext die Textzeugen von 1440 (Nr. 9-11) zu sehen sind.
Anhaltspunkte für eine Entstehung in der erst 1441 der Melker Reform beigetretenen Abtei St. Ulrich und
Afra sind nicht ersichtlich, und so sehe ich mich in meiner skeptischen Haltung gegenüber der starken
Betonung der Ordensreform bestätigt, die ich ohne Kenntnis der nach Inzigkofen gelangten Handschriften
in der Studie über "Ordensreform und Literatur in Augsburg während des 15. Jahrhunderts" (in:Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, 1995, insbesondere S. 133f., 156)
eingenommen habe. Man wird doch eher an den Weltklerus oder reformgesinnte Laien denken müssen,
die in Augsburg schon vor den Benediktinern deutschsprachige Erbauungsliteratur lasen und verbreiteten."
Bekanntlich vertrete ich gegen Williams-Krapp die These, dass nicht die Ordensreformen für die explosionsartige Ausbreitung des deutschsprachigen religiösen Schrifttums verantwortlich sind, sondern das Bündnis von reformgesinnten Kräften in den Klöster, von Weltklerikern und Laien. Der vorliegende Band, so nobel ausgestattet und philologisch gediegen er auch sein mag, mogelt sich um eine Stellungnahme herum, er breitet zwar überlieferungsgeschichtliche Materialien aus, lässt den Leser aber ratlos zurück, der mehr als ein simples Ja als Antwort auf die eingangs zitierte Frage erwartet, ob Meister Eckhart in Augsburg "ankam". Die spezifischen Interessen hinter der Eckhart-Rezeption und ihre Träger hat man anders zu beschreiben als mit Detailbeobachtungen in einzelnen Handschriftenbeschreibungen.
Inhalts- und Handschriftenverzeichnis
http://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/germanistik/spracheliteratur/lehrstuhl_loeser/publikationen/bilder/katalog.pdf
(D)
Update:
http://www.eckhart.de/?aktuell.htm#120611
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Eckharts_wirtschaft.jpg
KlausGraf - am Samstag, 4. Juni 2011, 20:07 - Rubrik: Kodikologie