[Preprint] Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Geschichte, Kunst und Kultur. Im Auftrag des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben e.V. und der Gesellschaft Oberschwaben für Geschichte und Kultur e.V. hrsg. von Andreas Schmauder und Michael Wettengel in Zusammenarbeit mit Gudrun Litz und Sarah-Maria Schober Bd. 56. Ulm: Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm im Jan Thorbecke Verlag 2009. 335 S. mit zahlreichen Abbildungen
Durch seine - nicht selten farbigen - Abbildungen ist der Zeitschriftenband entschieden attraktiver als seine Vorgänger. Die 14 chronologisch angeordneten Aufsätze klammern eigenartigerweise das 20. Jahrhundert weitgehend aus.
Norbert Kruse stellt “Ein spätmittelalterliches Ave-Maria-Gedicht in deutscher Sprache aus dem Kloster Weingarten” vor (S. 9-25). Das von Kruse abgedruckte und übersetzte Stück aus der Stuttgarter Handschrift HB I 227 wurde bereits 1912 von Karl Löffler ediert. Ohne großen Erkenntnisgewinn bleibt auch der Beitrag von Hans Göggelmann: Die Stadt Ulm, Ulrich Tengler und Streitpunkte mit Herzog Georg dem Reichen von Bayern-Landshut in einem Strafverfahren 1493/94. Ein Beitrag zu 500 Jahre Tenglers Laienspiegel (1509). Es handelt sich um ein Verfahren gegen vier “Landzwinger”, dokumentiert im Stadtarchiv Ulm A [6523] (S. 26-34). Um Frieden, Ordnung und Freiheit geht es in dem Vortrag von Peter Blickle: Die Werte des Alten Europa (S. 35-45). Er verzichtet gänzlich auf Nachweise.
Der 1607 in Ulm verstorbene Lehrer Hieronymus Harder und seine Tätigkeit als Botaniker wird porträtiert von Werner Dobras: Hieronymus Harder und seine zwölf Pflanzensammlungen (S. 46-82). Nicht weniger als zwölf handschriftliche Kräuterbücher Harders vermochte Dobras weltweit zu ermitteln. Das Exemplar der Staatsbibliothek München kann auch online betrachtet werden (urn:nbn:de:bvb:12-bsb00011834-3). “Der Dreißigjährige Krieg in Oberschwaben. Drei Ego-Dokumente” überschrieb Ulrich Ufer seinen etwas hochgestochen formulierten Beitrag (S. 83-110), in dem er die Autobiographien des Salemer Zisterziensers Sebastian Bürster und des Hans Conrad Lang aus Isny sowie das Tagebuch des Überlinger Ratsherrn Johann Heinrich von Pflummern auswertet. Zurecht wurde im Internet kritisiert, dass die Online-Verfügbarkeit des Lang’schen Selbstzeugnisses in Wikisource (seit 2006!) mit keiner Silbe erwähnt wird ( http://mannigfaltigkeiten.twoday.net/stories/6090241/ ). Der japanische Historiker Shin Demura beleuchtet den Umgang der Ulmer Stadtobrigkeit mit den Flüchtlingsströmen, die ab 1634 die Reichsstadt überfluteten: Im Schutz der sicheren Stadt. Flüchtlinge in Ulm in der zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges (S. 111-125). Ein kulturgeschichtliches Thema traktiert Hans Holländer: Ein Konversationsspiel. Das “Grosse Königs=Spiel” Christoph Weickhmanns (S. 126-145). Der Ulmer Patrizier und Handelsherr Christoph Weickhmann (1617-1681) publizierte 1664 in Ulm ein Strategie-Brettspiel (2009 digitalisiert: http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=drucke/5-6-pol-2f ). Rund ein Meter Akten im Ulmer Stadtarchiv zum Kampf der Ulmer Obrigkeit gegen pietistisch-separatistische Bestrebungen 1712, 1713 und 1716 bilden die Quellengrundlage von Hans-Eberhard Dietrich: “Die Schälke von Schalkstetten”. Der Umgang mit abweichenden Glaubensmeinungen im Ulmer Territorium am Beginn des 18. Jahrhunderts (S. 146-160).
Die Qualitätssicherung der Herausgeber hat versagt bei Markus Dewald: Die Welfensage - ein Historienspiel zur Fastnacht. Vom Klosterdrama zum bürgerlichen Schauspiel (S. 161-182). Abgesehen davon, dass sich jemand, der Leander Petzoldt als Autorität der Sagenforschung zitiert, als Anhänger obsoleter Forschungsansätze disqualifiziert, ist die Traditionsbildung der nach 1826 häufig in Weingarten aufgeführten sogenannten “Welfensage” nicht ansatzweise angemessen dargestellt. Da es eine Sage der Brüder Grimm betrifft, hat man zunächst zu Hans-Jörg Uthers Ausgabe von 1993 (Bd. 2, S. 595 zu Nr. 521) zu greifen, wo weiterführende Literatur zum Mehrlingsgeburten-Motiv angegeben ist. Dass die Welfensage in frühneuzeitlicher gedruckter Literatur nicht selten aufgegriffen wurde, belegen auch die Predigtmärlein der Barockzeit, hrsg. von Elfriede Moser Rat (1964, S. 506f.). Reineccius, die Quelle der Brüder Grimm, beruft sich auf einen Chronisten Atranus Gebula und einen Poeten Michael Lindner. Mehr erfährt man zur Herkunft des Stoffs bei Dewald nicht (S. 163). Schon eine simple Google-Suche nach Atranus Gebula hätte auf die richtige Spur führen müssen: Dass der dubiose Literat Michael Lindener die ganze Geschichte (und den angeblichen Gewährsmann Atranus Gebula) erfunden hat. Inzwischen liegt die “Wunderbarliche Hystoria” Lindeners (ca. 1560) digitalisiert vor (urn:nbn:de:bvb:12-bsb00038563-2), aber schon vor dem Aufkommen des Internets konnte man bei solider Recherche den Namen Lindeners in Literaturlexika auffinden. Dewalds Aufsatz hätte in dieser Form nie gedruckt werden dürfen, denn es geht bei dieser Kritik nicht um ein belangloses Detail, das man übersehen darf, sondern um die Herkunft des behandelten Stoffs.
Auf einen Vortrag geht zurück der eher unterhaltsame Beitrag von Marie-Kristin Hauke: Ulmer Alltagsleben im Spiegel des Ulmer Intelligenzblattes 1752-1820 (S. 183-202). “Die Landwirtschaft fördern und pflegen” war das gelebte Motto des Reform-Herrschers Wilhelm I. von Württemberg, wie Rainer Loose zeigt (S. 203-228): Ohne Viehzucht kein Ackerbau. Wilhelm I. von Württemberg und die Erneuerung der Landwirtschaft (bis ca. 1848 und mit Berücksichtigung Oberschwabens). Der Lithograph Eberhard Emminger, der vor allem durch seine Stadtveduten bekannt wurde, ist das Thema von Markus Dewald (S. 229-248): Nach der Natur gezeichnet und lithographiert. Das lithographische Werk Eberhard Emmingers (1808-1885). Wer sich für die Rezeption mittelalterlicher Kunst im 19. Jahrhundert interessiert, wird in der Studie von Evamaria Popp fündig: Und Gott weiß welches Schicksal dieser herrlichen Skulptur noch harret - in Ulm ist alles möglich. Friedrich Dirr (1841-1884), ein Ulmer Maler-Restaurator des 19. Jahrhunderts (S. 249-278). Ein frühes Klein-Elektrizitätswerk war ab 1911 die Marbacher Mühle, die ihren Mahlbetrieb 1957 einstellte. “Die Technik-Geschichte der Marbacher Mühle bei Saulgau” stellt Albert Haug dar (S. 279-300).
Den etwas beliebig wirkenden abschließenden Rezensionsteil würde ich gern gegen ein gutes Register eintauschen.
Klaus Graf
Nachtrag: Zu Atranus Gebula siehe
http://archive.org/stream/oberbayerisches04obergoog#page/n41/mode/2up
Biographie Lindeners (Schluss fehlt)
http://www.libreka.de/9783110143393/558
Wenig kompetent auch Kruppa im Nds. Jb. 2008, S. 276 bei Besprechung eines Steingadener Bildzeugnisses
http://www.historische-kommission.niedersachsen.de/download/77566
Abdruck der Rezension: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 46 (2010), S. 206-208
Durch seine - nicht selten farbigen - Abbildungen ist der Zeitschriftenband entschieden attraktiver als seine Vorgänger. Die 14 chronologisch angeordneten Aufsätze klammern eigenartigerweise das 20. Jahrhundert weitgehend aus.
Norbert Kruse stellt “Ein spätmittelalterliches Ave-Maria-Gedicht in deutscher Sprache aus dem Kloster Weingarten” vor (S. 9-25). Das von Kruse abgedruckte und übersetzte Stück aus der Stuttgarter Handschrift HB I 227 wurde bereits 1912 von Karl Löffler ediert. Ohne großen Erkenntnisgewinn bleibt auch der Beitrag von Hans Göggelmann: Die Stadt Ulm, Ulrich Tengler und Streitpunkte mit Herzog Georg dem Reichen von Bayern-Landshut in einem Strafverfahren 1493/94. Ein Beitrag zu 500 Jahre Tenglers Laienspiegel (1509). Es handelt sich um ein Verfahren gegen vier “Landzwinger”, dokumentiert im Stadtarchiv Ulm A [6523] (S. 26-34). Um Frieden, Ordnung und Freiheit geht es in dem Vortrag von Peter Blickle: Die Werte des Alten Europa (S. 35-45). Er verzichtet gänzlich auf Nachweise.
Der 1607 in Ulm verstorbene Lehrer Hieronymus Harder und seine Tätigkeit als Botaniker wird porträtiert von Werner Dobras: Hieronymus Harder und seine zwölf Pflanzensammlungen (S. 46-82). Nicht weniger als zwölf handschriftliche Kräuterbücher Harders vermochte Dobras weltweit zu ermitteln. Das Exemplar der Staatsbibliothek München kann auch online betrachtet werden (urn:nbn:de:bvb:12-bsb00011834-3). “Der Dreißigjährige Krieg in Oberschwaben. Drei Ego-Dokumente” überschrieb Ulrich Ufer seinen etwas hochgestochen formulierten Beitrag (S. 83-110), in dem er die Autobiographien des Salemer Zisterziensers Sebastian Bürster und des Hans Conrad Lang aus Isny sowie das Tagebuch des Überlinger Ratsherrn Johann Heinrich von Pflummern auswertet. Zurecht wurde im Internet kritisiert, dass die Online-Verfügbarkeit des Lang’schen Selbstzeugnisses in Wikisource (seit 2006!) mit keiner Silbe erwähnt wird ( http://mannigfaltigkeiten.twoday.net/stories/6090241/ ). Der japanische Historiker Shin Demura beleuchtet den Umgang der Ulmer Stadtobrigkeit mit den Flüchtlingsströmen, die ab 1634 die Reichsstadt überfluteten: Im Schutz der sicheren Stadt. Flüchtlinge in Ulm in der zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges (S. 111-125). Ein kulturgeschichtliches Thema traktiert Hans Holländer: Ein Konversationsspiel. Das “Grosse Königs=Spiel” Christoph Weickhmanns (S. 126-145). Der Ulmer Patrizier und Handelsherr Christoph Weickhmann (1617-1681) publizierte 1664 in Ulm ein Strategie-Brettspiel (2009 digitalisiert: http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=drucke/5-6-pol-2f ). Rund ein Meter Akten im Ulmer Stadtarchiv zum Kampf der Ulmer Obrigkeit gegen pietistisch-separatistische Bestrebungen 1712, 1713 und 1716 bilden die Quellengrundlage von Hans-Eberhard Dietrich: “Die Schälke von Schalkstetten”. Der Umgang mit abweichenden Glaubensmeinungen im Ulmer Territorium am Beginn des 18. Jahrhunderts (S. 146-160).
Die Qualitätssicherung der Herausgeber hat versagt bei Markus Dewald: Die Welfensage - ein Historienspiel zur Fastnacht. Vom Klosterdrama zum bürgerlichen Schauspiel (S. 161-182). Abgesehen davon, dass sich jemand, der Leander Petzoldt als Autorität der Sagenforschung zitiert, als Anhänger obsoleter Forschungsansätze disqualifiziert, ist die Traditionsbildung der nach 1826 häufig in Weingarten aufgeführten sogenannten “Welfensage” nicht ansatzweise angemessen dargestellt. Da es eine Sage der Brüder Grimm betrifft, hat man zunächst zu Hans-Jörg Uthers Ausgabe von 1993 (Bd. 2, S. 595 zu Nr. 521) zu greifen, wo weiterführende Literatur zum Mehrlingsgeburten-Motiv angegeben ist. Dass die Welfensage in frühneuzeitlicher gedruckter Literatur nicht selten aufgegriffen wurde, belegen auch die Predigtmärlein der Barockzeit, hrsg. von Elfriede Moser Rat (1964, S. 506f.). Reineccius, die Quelle der Brüder Grimm, beruft sich auf einen Chronisten Atranus Gebula und einen Poeten Michael Lindner. Mehr erfährt man zur Herkunft des Stoffs bei Dewald nicht (S. 163). Schon eine simple Google-Suche nach Atranus Gebula hätte auf die richtige Spur führen müssen: Dass der dubiose Literat Michael Lindener die ganze Geschichte (und den angeblichen Gewährsmann Atranus Gebula) erfunden hat. Inzwischen liegt die “Wunderbarliche Hystoria” Lindeners (ca. 1560) digitalisiert vor (urn:nbn:de:bvb:12-bsb00038563-2), aber schon vor dem Aufkommen des Internets konnte man bei solider Recherche den Namen Lindeners in Literaturlexika auffinden. Dewalds Aufsatz hätte in dieser Form nie gedruckt werden dürfen, denn es geht bei dieser Kritik nicht um ein belangloses Detail, das man übersehen darf, sondern um die Herkunft des behandelten Stoffs.
Auf einen Vortrag geht zurück der eher unterhaltsame Beitrag von Marie-Kristin Hauke: Ulmer Alltagsleben im Spiegel des Ulmer Intelligenzblattes 1752-1820 (S. 183-202). “Die Landwirtschaft fördern und pflegen” war das gelebte Motto des Reform-Herrschers Wilhelm I. von Württemberg, wie Rainer Loose zeigt (S. 203-228): Ohne Viehzucht kein Ackerbau. Wilhelm I. von Württemberg und die Erneuerung der Landwirtschaft (bis ca. 1848 und mit Berücksichtigung Oberschwabens). Der Lithograph Eberhard Emminger, der vor allem durch seine Stadtveduten bekannt wurde, ist das Thema von Markus Dewald (S. 229-248): Nach der Natur gezeichnet und lithographiert. Das lithographische Werk Eberhard Emmingers (1808-1885). Wer sich für die Rezeption mittelalterlicher Kunst im 19. Jahrhundert interessiert, wird in der Studie von Evamaria Popp fündig: Und Gott weiß welches Schicksal dieser herrlichen Skulptur noch harret - in Ulm ist alles möglich. Friedrich Dirr (1841-1884), ein Ulmer Maler-Restaurator des 19. Jahrhunderts (S. 249-278). Ein frühes Klein-Elektrizitätswerk war ab 1911 die Marbacher Mühle, die ihren Mahlbetrieb 1957 einstellte. “Die Technik-Geschichte der Marbacher Mühle bei Saulgau” stellt Albert Haug dar (S. 279-300).
Den etwas beliebig wirkenden abschließenden Rezensionsteil würde ich gern gegen ein gutes Register eintauschen.
Klaus Graf
Nachtrag: Zu Atranus Gebula siehe
http://archive.org/stream/oberbayerisches04obergoog#page/n41/mode/2up
http://www.libreka.de/9783110143393/558
Wenig kompetent auch Kruppa im Nds. Jb. 2008, S. 276 bei Besprechung eines Steingadener Bildzeugnisses
http://www.historische-kommission.niedersachsen.de/download/77566
Abdruck der Rezension: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 46 (2010), S. 206-208
KlausGraf - am Sonntag, 3. Juli 2011, 22:20 - Rubrik: Wissenschaftsbetrieb