Das Historische Seminar der Kieler Universität hat zwei alte Drucke (Flacius 1574, Struve 1739) aus dem Bestand der Bibliothek der Fürstenschule Sankt Afra in Meißen, die in den 1960er Jahren legal erworben worden waren, der früheren Eigentümerin zurückgegeben, meldet die Freie Presse.
Auf der Homepage der Schule liest man zur Bibliotheksgeschichte nach 1945:
"1943/44 wurden die Bücher der Schulbibliothek in den Heizungskanal des Kellers verlegt. Den Bestand der Schülerbibliothek beließ man an ihrem Standort in den Schulräumen.
Vom 6. Mai bis 19. Dezember 1945 war die Schule von russischen Soldaten besetzt. Anfang 1946 wurde unter der Leitung von Dr. Siegfried Lorenz eine Arbeitsgruppe zur Rettung der verbliebenen Bestände eingesetzt. Ein großer Teil des Bestandes war durch Brand, Wasser und mutwillige Zerstörung für immer verloren. Wertvolle alte und neue Bücher mussten als spurlos verschwunden registriert werden. Weitere Verluste erlitt die Bibliothek durch die von der sowjetischen Militäradministration herausgegebenen Verbotsliste diverser Literatur, die an alle Bibliotheken in der sowjetischen Besatzungszone verteilt wurde.
Von den 24.000 Bänden der Bibliothek vor dem Krieg waren nach Kriegsende noch etwa 13.000 erhalten. Davon gingen 8.000an das ehemalige Kriegsarchiv nach Dresden, von denen wiederum 2.000 in den Bestand der Landesbibliothek (heute Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden) eingearbeitet wurden. Die restlichen 6.000 verteilte man an andere sächsische Bibliotheken. Etwa 1.000 Bände hatte man bereits vor dem Krieg an die Universitätsbibliothek Leipzig per Fernleihe entsandt. Weitere etwa 4.400 Bücher sowie die Stiftungsbibliotheken wurden angeblich in Meißen belassen; ihr Verbleib ist nicht bekannt. Lediglich ein paar wenige Handschriften sind im Stadtarchiv Meißen vorzufinden.
Nach der Neugründung der Schule im Jahre 2001 wurde eine neue Bibliothek für die Afraner ins Leben gerufen, deren Bestand gänzlich neu aufgebaut werden musste. Mit vielen Spenden und dem Ziel, die alten Afra-Bestände insbesondere von der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden und der Universitätsbibliothek Leipzig, zurückzuholen, wird versucht an alte Traditionen anzuknüpfen und den Afranern die Literatur und die Informationen zur Verfügung zu stellen, die nötig sind, ihrem Bedarf in ausreichendem und möglichst darüber hinaus gehendem Maß nachzukommen."
Quelle: http://www.sn.schule.de/~afragym
Nach der Freien Presse sind bislang etwa 100 Bücher zurückgekommen.
Im Handbuch der histor. Buchbeständen Sachen II gibt es keinen eigenen Artikel zur Schulbibliothek. Im Artikel zum Stadtarchiv wird allerdings erwähnt, dass man Bestände der Schule übernommen habe.
Wie gelangten solche Bestände ins Antiquariat?
Das ist eine düstere Geschichte und weissgott kein Ruhmesblatt für das Zentralantiquariat der DDR, das noch 2007 im Zusammenhang mit den Eichstätter Verscherbelungen eine schändliche Rolle spielt (siehe http://archiv.twoday.net/stories/3143469/#3213206 ).
Die Recherchen von Dirk Sangmeister in der NZZ vom 15.4.2002
müssen ausführlich zitiert werden, damit man die Hintergründe begreift.
Ein Akt der grossen Kulturbarbarei
Die systematische Zerschlagung historischer Buchbestände in der DDR
Systematisch sind in der DDR, vor allem im Zuge der Gebiets- und Verwaltungsreform von 1952/53, fast alle kleineren und mittleren historischen Bibliotheken liquidiert worden. Ihre Bestände gelangten über die 1953 gegründete Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände teils in andere Bibliotheken, teils wurden sie zu Altpapier eingestampft, zur Hauptsache aber wurden die oft bedeutenden Sammlungen zur Devisenbeschaffung an Antiquariate in die Bundesrepublik verschachert. [...]
Systematisch sind in der DDR, vor allem im Zuge der Gebiets- und Verwaltungsreform von 1952/53, fast alle kleineren und mittleren historischen Bibliotheken liquidiert worden. Die Landesbibliotheken in Altenburg, Dessau, Neustrelitz und Sondershausen, dazu Dutzende von alten Rats-, Schul-, Archiv- und Klosterbibliotheken in Eisenach, Grimma, Güstrow, Meissen, Plauen, Saalfeld, Wernigerode und anderswo - sie alle wurden ausgeschlachtet, zerschlagen, geschlossen oder zu Stadtbibliotheken degradiert. Man favorisierte vermeintlich fortschrittliche Büchereien für Arbeiter und Bauern sowie wissenschaftliche Allgemeinbibliotheken mit «einem an den Grundwerten des Sozialismus orientierten Buchbestand». Frühere Feudalbibliotheken aus Zeiten der deutschen Kleinstaaterei, voll mit verstaubten bürgerlichen Bildungsgütern, wollte man nicht fortführen in der DDR. So wurden im sächsischen Grimma die Bücher der 1543 gegründeten Fürstenschule über viele Jahre hinweg verfeuert, verteilt, veruntreut oder verramscht. Ein «Sachsenspiegel» von 1474 verschwand spurlos, Pergamentbände wurden für zwei Mark das Stück verkauft, Briefe von Melanchthon und anderen Humanisten wanderten vermutlich ins Altpapier.
Die vielen hunderttausend Bücher, die allerorten mit Lastwagen abtransportiert wurden aus all den Bibliotheken, die zwar eine grosse Vergangenheit, nun aber keine Zukunft mehr hatten, wurden überwiegend der nächstbesten Universitäts- oder Grossbibliothek zugeschlagen, wo sie die oft beträchtlichen Kriegsverluste ersetzen sollten. Interesse und Kapazitäten der Bibliotheken in Berlin, Dresden, Gotha, Halle, Jena, Leipzig und Schwerin waren jedoch begrenzt, denn dort lagerten in feuchten Kellern oder baufälligen Aussenmagazinen schon zahllose Schloss- und Adelsbibliotheken, deren Besitzer 1945 in den Westen geflüchtet oder durch die anschliessende Bodenreform enteignet worden waren.
Altpapier oder Devisen
1953 wurde deshalb die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände gegründet, die zunächst der Gothaer Landesbibliothek, ab 1959 der Ostberliner Staatsbibliothek angegliedert war. Ihre Aufgabe sollte es sein, die Bestände der aufgelösten Bibliotheken sowie die Dubletten der Grossbibliotheken zu sichten, bibliographisch zu erfassen und dann an solche Bibliotheken zu verteilen, die Bedarf an diesen Werken anmeldeten. Die vielen alten Bücher sollten andernorts neue Leser finden. So weit die Theorie.
Die realsozialistische Praxis sah dann ganz anders aus. Zwischen 1959 und 1989 gingen der Zentralstelle mehr als sechs Millionen Bücher zu. Die Bibliotheken, denen all diese Bücher zugute kommen sollten, interessierten sich jedoch für nur etwa 700 000 Werke, rund zehn Prozent des Altbestandes. Was geschah mit dem riesigen Rest? Man versuchte, ihn volkswirtschaftlich sinnvoll zu verwerten. Dazu gab es zwei Möglichkeiten: Die eine davon hiess «VEB Sekundärrohstoffverwertung», das heisst auf Deutsch: Ab zum Altpapier. Fast drei Millionen Bücher, überwiegend neuere Literatur, aber auch alte Werke in beklagenswertem Zustand, um die man weiter kein Aufhebens machen wollte, wurden eingestampft und zu Papierbrei vermahlen. Die zweite Möglichkeit war etwas eleganter, vor allem aber sehr viel profitabler: Sie hiess «Zentralantiquariat Leipzig». Gut drei Millionen Bände gingen diesen Weg.
Dem 1959 gegründeten Zentralantiquariat (ZA) waren die alten Bücher eine überaus willkommene Ware, die sich blendend verkaufen liess, aber nicht im Inland, sondern via «Buchexport» an das kapitalistische Ausland. Schon im Mai 1958 war im Leipziger «Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel» dazu aufgerufen worden, «alle Reserven zu mobilisieren, um exportfähige Titel zur Verfügung zu stellen», die dadurch zu erzielenden Devisen sollten «der Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung» dienen.
Die Bibliothekare aus Berlin arbeiteten Hand in Hand mit den Antiquaren aus Leipzig. Man sichtete gemeinsam die Altbestände und zerschlug oft schon an Ort und Stelle die fraglichen Sammlungen, indem man die Bücher kurzerhand auf drei grosse Haufen verteilte: einen für die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände (ZwA), einen für das Zentralantiquariat und einen für die Makulatur. Nachdem 1961 in der Landesbibliothek Dessau 13 500 Bände flüchtig gesichtet worden waren, fiel die Bilanz folgendermassen aus: «1 Tonne ältere Zeitschriften - unbrauchbar. 5 Tonnen Monographien und Serien - an das ZA. 2,5 Tonnen Biographien, Genealogien, Rara, Länder- und Reisebeschreibungen - an die ZwA.» Dass sich jedoch «auch unter angeblichen Makulaturbergen wertvolle Stücke» verbargen, war dem ersten Leiter der Zentralstelle, Gerhard Pachnicke, zwar bewusst, änderte aber wenig an der Praxis.
Weil viel Geld zu verdienen war mit diesen alten Büchern und da zugleich auch die staatlichen Planvorgaben bezüglich der zu erzielenden Exporterlöse höher wurden, begannen die Antiquare bald, sich mit den Bibliothekaren darüber zu streiten, wer zuerst zugreifen durfte. Das Zentralantiquariat wollte sich nicht länger mit den minderwertigen Restbeständen begnügen, sondern die besten Bücher zum Verkauf haben, und zwar möglichst vorab. Fortan ging nicht nur Dutzendware aus dem 18. und 19. Jahrhundert ans Zentralantiquariat, es gelangten vielmehr immer wieder auch kostbare Werke des Barock, Rara und Illustrata, Erst- und Prachtausgaben nach Leipzig, wo in zehn Lagern unter miserablen Bedingungen Millionen von Büchern und Zeitschriften gehortet wurden. Weil der Verkauf jedes einzelnen Titels per Katalog oder Auktion langwierig war und die Begehrlichkeiten westlicher Händler grösser wurden, ging man bald dazu über, an bevorzugte Grosskunden wie Thulin in Stockholm, Hans Horst Koch in Westberlin und nicht zuletzt Ulrich Keip in Frankfurt Jahr für Jahr ganze Lastwagen, später Container voller Bücher zu verkaufen. Aus Kulturgut war Stückgut geworden.
Sehr trüb wurden die Geschäfte mit den alten Büchern dann in den achtziger Jahren, als die Devisenknappheit der DDR einerseits und die Nachfrage aus der BRD andererseits immer grösser wurden. Eine besonders zwielichtige Rolle spielte dabei Johannes Wend, der lange Jahre die Geschäfte des Zentralantiquariates mitbestimmte, ehe er 1987 zum volkseigenen Betrieb «Kunst und Antiquitäten» mit Hauptsitz in Mühlenbeck bei Berlin wechselte. Die von der Staatssicherheit geführte Firma unterstand dem Ministerium für Aussenhandel des Staatssekretärs Alexander Schalck-Golodkowski und hatte nur ein Ziel, der DDR mit allen Mitteln Devisen zu verschaffen.
Detailliert deckte Sangmeister die Verstrickung der bundesdeutschen Antiquare in diesen üblen Handel auf. Dass das Zentralantiquariat bis heute keinerlei Unrechtsbewusstsein zeigt, spricht für sich.
Ausdrücklich erwähnt Sangmeister die Schule in Meißen:
Die meisten der damals zerschlagenen Bibliotheken haben sich bis heute nicht wieder erholt. Die traditionsreichen Fürstenschulen in Grimma und Meissen verfügen über keinen historischen Buchbestand mehr, die Carl-Alexander-Bibliothek in Eisenach besitzt nur noch ein Zehntel ihrer einstmals 60 000 Bücher, viele andere einst prächtige Bibliotheken fristen heute als gehobene Stadtbüchereien eine traurige Randexistenz. Die Aussichten, dass die betroffenen Bibliotheken ihre früheren Bestände zurückerhalten könnten, sind gering, weil in der Regel niemand nachvollziehen kann, wo sich ihre von der Zentralstelle verteilten oder vom Zentralantiquariat verkauften Bücher heute befinden. Ausserdem haben sie - im Gegensatz zu den durch die Bodenreform enteigneten Privatpersonen - rechtlich keinen Anspruch auf Rückgabe, denn gegen geltende Gesetze wurde nur in Einzelfällen verstossen.
Treffend schreibt Sangmeister: Und wahr ist auch, dass der planwirtschaftliche Ausverkauf von Kulturgütern in das kapitalistische Ausland nie ein solches Ausmass hätte annehmen können, wenn es nicht im Westen sehr geschäftstüchtige, sehr skrupellose Antiquare gegeben hätte, deren teils unwissende, teils gutgläubige Kunden mehr Begehrlichkeiten als Bedenken hatten.
Ohne skrupellose Antiquare und "Kulturgutschützer" a la Graf Douglas wären viele geschlossene Sammlungen, die gewissenlos in alle Winde zerstreut wurden, noch erhalten! Solange man den vertretern dieses halbseidenen Gewerbe nicht die Maske herunterreißt (bei den Antiken erfolgt das ja bereits ansatzweise), wird das Lamento über Kulturgutverluste anhalten.
Auf der Homepage der Schule liest man zur Bibliotheksgeschichte nach 1945:
"1943/44 wurden die Bücher der Schulbibliothek in den Heizungskanal des Kellers verlegt. Den Bestand der Schülerbibliothek beließ man an ihrem Standort in den Schulräumen.
Vom 6. Mai bis 19. Dezember 1945 war die Schule von russischen Soldaten besetzt. Anfang 1946 wurde unter der Leitung von Dr. Siegfried Lorenz eine Arbeitsgruppe zur Rettung der verbliebenen Bestände eingesetzt. Ein großer Teil des Bestandes war durch Brand, Wasser und mutwillige Zerstörung für immer verloren. Wertvolle alte und neue Bücher mussten als spurlos verschwunden registriert werden. Weitere Verluste erlitt die Bibliothek durch die von der sowjetischen Militäradministration herausgegebenen Verbotsliste diverser Literatur, die an alle Bibliotheken in der sowjetischen Besatzungszone verteilt wurde.
Von den 24.000 Bänden der Bibliothek vor dem Krieg waren nach Kriegsende noch etwa 13.000 erhalten. Davon gingen 8.000an das ehemalige Kriegsarchiv nach Dresden, von denen wiederum 2.000 in den Bestand der Landesbibliothek (heute Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden) eingearbeitet wurden. Die restlichen 6.000 verteilte man an andere sächsische Bibliotheken. Etwa 1.000 Bände hatte man bereits vor dem Krieg an die Universitätsbibliothek Leipzig per Fernleihe entsandt. Weitere etwa 4.400 Bücher sowie die Stiftungsbibliotheken wurden angeblich in Meißen belassen; ihr Verbleib ist nicht bekannt. Lediglich ein paar wenige Handschriften sind im Stadtarchiv Meißen vorzufinden.
Nach der Neugründung der Schule im Jahre 2001 wurde eine neue Bibliothek für die Afraner ins Leben gerufen, deren Bestand gänzlich neu aufgebaut werden musste. Mit vielen Spenden und dem Ziel, die alten Afra-Bestände insbesondere von der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden und der Universitätsbibliothek Leipzig, zurückzuholen, wird versucht an alte Traditionen anzuknüpfen und den Afranern die Literatur und die Informationen zur Verfügung zu stellen, die nötig sind, ihrem Bedarf in ausreichendem und möglichst darüber hinaus gehendem Maß nachzukommen."
Quelle: http://www.sn.schule.de/~afragym
Nach der Freien Presse sind bislang etwa 100 Bücher zurückgekommen.
Im Handbuch der histor. Buchbeständen Sachen II gibt es keinen eigenen Artikel zur Schulbibliothek. Im Artikel zum Stadtarchiv wird allerdings erwähnt, dass man Bestände der Schule übernommen habe.
Wie gelangten solche Bestände ins Antiquariat?
Das ist eine düstere Geschichte und weissgott kein Ruhmesblatt für das Zentralantiquariat der DDR, das noch 2007 im Zusammenhang mit den Eichstätter Verscherbelungen eine schändliche Rolle spielt (siehe http://archiv.twoday.net/stories/3143469/#3213206 ).
Die Recherchen von Dirk Sangmeister in der NZZ vom 15.4.2002
müssen ausführlich zitiert werden, damit man die Hintergründe begreift.
Ein Akt der grossen Kulturbarbarei
Die systematische Zerschlagung historischer Buchbestände in der DDR
Systematisch sind in der DDR, vor allem im Zuge der Gebiets- und Verwaltungsreform von 1952/53, fast alle kleineren und mittleren historischen Bibliotheken liquidiert worden. Ihre Bestände gelangten über die 1953 gegründete Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände teils in andere Bibliotheken, teils wurden sie zu Altpapier eingestampft, zur Hauptsache aber wurden die oft bedeutenden Sammlungen zur Devisenbeschaffung an Antiquariate in die Bundesrepublik verschachert. [...]
Systematisch sind in der DDR, vor allem im Zuge der Gebiets- und Verwaltungsreform von 1952/53, fast alle kleineren und mittleren historischen Bibliotheken liquidiert worden. Die Landesbibliotheken in Altenburg, Dessau, Neustrelitz und Sondershausen, dazu Dutzende von alten Rats-, Schul-, Archiv- und Klosterbibliotheken in Eisenach, Grimma, Güstrow, Meissen, Plauen, Saalfeld, Wernigerode und anderswo - sie alle wurden ausgeschlachtet, zerschlagen, geschlossen oder zu Stadtbibliotheken degradiert. Man favorisierte vermeintlich fortschrittliche Büchereien für Arbeiter und Bauern sowie wissenschaftliche Allgemeinbibliotheken mit «einem an den Grundwerten des Sozialismus orientierten Buchbestand». Frühere Feudalbibliotheken aus Zeiten der deutschen Kleinstaaterei, voll mit verstaubten bürgerlichen Bildungsgütern, wollte man nicht fortführen in der DDR. So wurden im sächsischen Grimma die Bücher der 1543 gegründeten Fürstenschule über viele Jahre hinweg verfeuert, verteilt, veruntreut oder verramscht. Ein «Sachsenspiegel» von 1474 verschwand spurlos, Pergamentbände wurden für zwei Mark das Stück verkauft, Briefe von Melanchthon und anderen Humanisten wanderten vermutlich ins Altpapier.
Die vielen hunderttausend Bücher, die allerorten mit Lastwagen abtransportiert wurden aus all den Bibliotheken, die zwar eine grosse Vergangenheit, nun aber keine Zukunft mehr hatten, wurden überwiegend der nächstbesten Universitäts- oder Grossbibliothek zugeschlagen, wo sie die oft beträchtlichen Kriegsverluste ersetzen sollten. Interesse und Kapazitäten der Bibliotheken in Berlin, Dresden, Gotha, Halle, Jena, Leipzig und Schwerin waren jedoch begrenzt, denn dort lagerten in feuchten Kellern oder baufälligen Aussenmagazinen schon zahllose Schloss- und Adelsbibliotheken, deren Besitzer 1945 in den Westen geflüchtet oder durch die anschliessende Bodenreform enteignet worden waren.
Altpapier oder Devisen
1953 wurde deshalb die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände gegründet, die zunächst der Gothaer Landesbibliothek, ab 1959 der Ostberliner Staatsbibliothek angegliedert war. Ihre Aufgabe sollte es sein, die Bestände der aufgelösten Bibliotheken sowie die Dubletten der Grossbibliotheken zu sichten, bibliographisch zu erfassen und dann an solche Bibliotheken zu verteilen, die Bedarf an diesen Werken anmeldeten. Die vielen alten Bücher sollten andernorts neue Leser finden. So weit die Theorie.
Die realsozialistische Praxis sah dann ganz anders aus. Zwischen 1959 und 1989 gingen der Zentralstelle mehr als sechs Millionen Bücher zu. Die Bibliotheken, denen all diese Bücher zugute kommen sollten, interessierten sich jedoch für nur etwa 700 000 Werke, rund zehn Prozent des Altbestandes. Was geschah mit dem riesigen Rest? Man versuchte, ihn volkswirtschaftlich sinnvoll zu verwerten. Dazu gab es zwei Möglichkeiten: Die eine davon hiess «VEB Sekundärrohstoffverwertung», das heisst auf Deutsch: Ab zum Altpapier. Fast drei Millionen Bücher, überwiegend neuere Literatur, aber auch alte Werke in beklagenswertem Zustand, um die man weiter kein Aufhebens machen wollte, wurden eingestampft und zu Papierbrei vermahlen. Die zweite Möglichkeit war etwas eleganter, vor allem aber sehr viel profitabler: Sie hiess «Zentralantiquariat Leipzig». Gut drei Millionen Bände gingen diesen Weg.
Dem 1959 gegründeten Zentralantiquariat (ZA) waren die alten Bücher eine überaus willkommene Ware, die sich blendend verkaufen liess, aber nicht im Inland, sondern via «Buchexport» an das kapitalistische Ausland. Schon im Mai 1958 war im Leipziger «Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel» dazu aufgerufen worden, «alle Reserven zu mobilisieren, um exportfähige Titel zur Verfügung zu stellen», die dadurch zu erzielenden Devisen sollten «der Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung» dienen.
Die Bibliothekare aus Berlin arbeiteten Hand in Hand mit den Antiquaren aus Leipzig. Man sichtete gemeinsam die Altbestände und zerschlug oft schon an Ort und Stelle die fraglichen Sammlungen, indem man die Bücher kurzerhand auf drei grosse Haufen verteilte: einen für die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände (ZwA), einen für das Zentralantiquariat und einen für die Makulatur. Nachdem 1961 in der Landesbibliothek Dessau 13 500 Bände flüchtig gesichtet worden waren, fiel die Bilanz folgendermassen aus: «1 Tonne ältere Zeitschriften - unbrauchbar. 5 Tonnen Monographien und Serien - an das ZA. 2,5 Tonnen Biographien, Genealogien, Rara, Länder- und Reisebeschreibungen - an die ZwA.» Dass sich jedoch «auch unter angeblichen Makulaturbergen wertvolle Stücke» verbargen, war dem ersten Leiter der Zentralstelle, Gerhard Pachnicke, zwar bewusst, änderte aber wenig an der Praxis.
Weil viel Geld zu verdienen war mit diesen alten Büchern und da zugleich auch die staatlichen Planvorgaben bezüglich der zu erzielenden Exporterlöse höher wurden, begannen die Antiquare bald, sich mit den Bibliothekaren darüber zu streiten, wer zuerst zugreifen durfte. Das Zentralantiquariat wollte sich nicht länger mit den minderwertigen Restbeständen begnügen, sondern die besten Bücher zum Verkauf haben, und zwar möglichst vorab. Fortan ging nicht nur Dutzendware aus dem 18. und 19. Jahrhundert ans Zentralantiquariat, es gelangten vielmehr immer wieder auch kostbare Werke des Barock, Rara und Illustrata, Erst- und Prachtausgaben nach Leipzig, wo in zehn Lagern unter miserablen Bedingungen Millionen von Büchern und Zeitschriften gehortet wurden. Weil der Verkauf jedes einzelnen Titels per Katalog oder Auktion langwierig war und die Begehrlichkeiten westlicher Händler grösser wurden, ging man bald dazu über, an bevorzugte Grosskunden wie Thulin in Stockholm, Hans Horst Koch in Westberlin und nicht zuletzt Ulrich Keip in Frankfurt Jahr für Jahr ganze Lastwagen, später Container voller Bücher zu verkaufen. Aus Kulturgut war Stückgut geworden.
Sehr trüb wurden die Geschäfte mit den alten Büchern dann in den achtziger Jahren, als die Devisenknappheit der DDR einerseits und die Nachfrage aus der BRD andererseits immer grösser wurden. Eine besonders zwielichtige Rolle spielte dabei Johannes Wend, der lange Jahre die Geschäfte des Zentralantiquariates mitbestimmte, ehe er 1987 zum volkseigenen Betrieb «Kunst und Antiquitäten» mit Hauptsitz in Mühlenbeck bei Berlin wechselte. Die von der Staatssicherheit geführte Firma unterstand dem Ministerium für Aussenhandel des Staatssekretärs Alexander Schalck-Golodkowski und hatte nur ein Ziel, der DDR mit allen Mitteln Devisen zu verschaffen.
Detailliert deckte Sangmeister die Verstrickung der bundesdeutschen Antiquare in diesen üblen Handel auf. Dass das Zentralantiquariat bis heute keinerlei Unrechtsbewusstsein zeigt, spricht für sich.
Ausdrücklich erwähnt Sangmeister die Schule in Meißen:
Die meisten der damals zerschlagenen Bibliotheken haben sich bis heute nicht wieder erholt. Die traditionsreichen Fürstenschulen in Grimma und Meissen verfügen über keinen historischen Buchbestand mehr, die Carl-Alexander-Bibliothek in Eisenach besitzt nur noch ein Zehntel ihrer einstmals 60 000 Bücher, viele andere einst prächtige Bibliotheken fristen heute als gehobene Stadtbüchereien eine traurige Randexistenz. Die Aussichten, dass die betroffenen Bibliotheken ihre früheren Bestände zurückerhalten könnten, sind gering, weil in der Regel niemand nachvollziehen kann, wo sich ihre von der Zentralstelle verteilten oder vom Zentralantiquariat verkauften Bücher heute befinden. Ausserdem haben sie - im Gegensatz zu den durch die Bodenreform enteigneten Privatpersonen - rechtlich keinen Anspruch auf Rückgabe, denn gegen geltende Gesetze wurde nur in Einzelfällen verstossen.
Treffend schreibt Sangmeister: Und wahr ist auch, dass der planwirtschaftliche Ausverkauf von Kulturgütern in das kapitalistische Ausland nie ein solches Ausmass hätte annehmen können, wenn es nicht im Westen sehr geschäftstüchtige, sehr skrupellose Antiquare gegeben hätte, deren teils unwissende, teils gutgläubige Kunden mehr Begehrlichkeiten als Bedenken hatten.
Ohne skrupellose Antiquare und "Kulturgutschützer" a la Graf Douglas wären viele geschlossene Sammlungen, die gewissenlos in alle Winde zerstreut wurden, noch erhalten! Solange man den vertretern dieses halbseidenen Gewerbe nicht die Maske herunterreißt (bei den Antiken erfolgt das ja bereits ansatzweise), wird das Lamento über Kulturgutverluste anhalten.