Vortrag auf der Tagung "Codex und Geltung" in Wolfenbüttel am 4. November 2010.
Im Wald Schönert bei Bronnbach soll einstmals ein Schloss gestanden haben, erzählt eine unterfränkische Schatzsage, die der Wertheimer Lehrer und Zeichner Andreas Fries in der Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde 1853 wiedergibt. Einmal machte sich ein geistlicher Herr daran, den dort verborgenen großen Schatz zu heben. Es gelang ihm, den Prinzen von Waldeck, der ihn vergraben hatte, herbeizuzitieren. Die “mächtige gestalt in glänzender rüstung” gab Auskunft, wie man an den Schatz herankommen könne: “den schatz kann nur derjenige heben, welcher das buch des lebens mitbringt und anwendet; das wird im kloster der schwarzen karmeliter in Würzburg aufbewahrt.” (S. 303). Der Reichelsheimer Wirt und seine Kumpane reisten nach Würzburg, wo ihnen die Mönche eröffneten, nur gegen ein Pfand von 10.000 Gulden könne das Buch des Lebens ausgehändigt werden. Die Männer konnten so viel Geld nicht aufbringen, und so blieb der Schatz ungehoben.
Ob die lange Erzählung, die aufgrund der Erwähnung des Buchs des Lebens in den Artikeln zum Lemma Buch im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens und in der Enzyklopädie des Märchens angeführt wurde (Hanns Bächtold Stäubli: Buch, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1 (1927), Sp. 1688-1690; Rudolf Schenda: Buch, in: Enzyklopädie des Märchens 2 (1979), Sp. 965-970. Zum Buch des Lebens vgl. Otto Schnitzler: Buch des Lebens, in: ebenda, Sp. 971-974), tatsächlich authentische Folklore (was immer das ist) spiegelt, möchte ich nicht erörtern. Das Buch des Lebens, in der biblischen Tradition das Verzeichnis der Auserwählten Gottes, ist in dem unterfränkischen Text zu einer Art Zauberbuch geworden. In den früh- und hochmittelalterlichen Klöstern, die ihre Memorialbücher als Libri Vitae bezeichneten, war das Buch des Lebens das Ziel allen Strebens gewesen. “Das monastische Opfer der Fürbitte”, so Friedrich Ohly, “setzt dem Verstorbenen nicht ein Denkmal aus Stein auf Erden, sondern betreibt mit der Eintragung seines Namens in die im Rahmen der Liturgie zu verlesende Gedenkliste seine Übertragung in den himmlischen Liber vitae, in das ewige Gedächtnis Gottes” (Friedrich Ohly: Bemerkungen eines Philologen zur Memoria, in: Karl Schmid/Joachim Wollasch (Hrsg.): Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. München 1984, S. 9-78, hier S. 29).
Dem himmlischen Buch standen die Aufzeichnungen des Teufels gegenüber. Seit Jakob von Vitry kennt die europäische Erzählüberlieferung das Exempel vom Sündenregister auf der Kuhhaut (Zusammenfassend: Hans-Jörg Uther: Sündenregister auf der Kuhhaut, in: Enzyklopädie des Märchens 13 (2010), Sp. 46-51). Den schreibenden Teufel, der auf ihr die Sünden der plappernden Frauen notiert, zeigen aber auch bildliche Zeugnisse. Auf einem Wandbild des 14. Jahrhunderts in der Georgskirche der Reichenau halten vier Teufel ein Kuhfell, auf dem ein fünfter hockt und die Sünden der schwatzenden Frauen aufschreibt.
Auf der Erde führten die Obrigkeiten Bücher der Missetäter, sinnigerweise oft als schwarze Bücher bezeichnet. Man fürchtete im schwarzen Buch zu stehen. In der Sprichwörtersammlung des Johannes Agricola wird als Beispiel ein Magdeburger Prediger angeführt, der seine jugendlichen Untaten im Schwarzbuch der Stadt löschen lassen wollte,dem dies aber nicht gelang. (Mehr dazu in meinem auch online vorliegenden Aufsatz: Das leckt die Kuh nicht ab.)
Als schwarze Bücher wurden aber auch die Zauberbücher bezeichnet. Bücher spielten eine große Rolle bei magischen Praktiken, denn Magie war im Spätmittelalter und in der Neuzeit immer ein Amalgam aus schriftlichen und mündlichen Überlieferungen. In den sogenannten Volkserzählungen dominiert das Buch als zauberkräftiger Gegenstand, der Schutz gegen die Mächte des Bösen bewirken kann.
Diese Beispiele mögen genügen um zu verdeutlichen: Bücher waren seit dem Mittelalter ganz besondere Objekte, die Geltungsansprüche erhoben haben, lebensweltlich wichtig und bedeutsam waren. Wenn ich im folgenden über Codexmythen und Codexphantasien handle, werde ich mich auf einen bestimmten Typ von Geschichten konzentrieren, bei dem es um den Geltungsanspruch alter Bücher als Autoritäten geht. Immer wieder haben seit der Antike Textfälscher ein altes Manuskript als Quelle vorgegeben, haben Literaten mit diesem Motiv gespielt. Ich habe diese diskursive Praxis Codex-Phantasien genannt, um das spielerische Moment zu betonen, in dem sich fiktionale Erzählwelt und historiographisches Erzählen begegnen (900 Jahre Kloster Lorch, S. 171). Mythen sind fundierende Geschichten (vgl. Gerd Althoff: Formen und Funktionen von Mythen im Mittelalter, in: Helmut Berding (Hrsg.): Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3. Frankfurt am Main 1996, S. 11-33, hier S. 14, der Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. München 1992, S. 78 zitiert: Mythos als “zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit”), Erzählungen mit spezifischem Geltungs- und Wahrheitsanspruch. Indem sie Verhältnisse begründen und legitimieren, sind sie der seriöse Widerpart der spielerischen Phantasien. Irritierenderweise lässt sich aber keine klare Grenze zwischen den bestimmt auftretenden Mythen und den augenzwinkernden Phantasien ausmachen.
Um 1800 füllen sich, stellte Christian Kiening kürzlich fest, “die literarischen Werke mit Szenarien, in denen die Protagonisten auf alte, geheimnisvolle, auratische Schriften stoßen” (Christian Kiening: Die erhabene Schrift. Vom Mittelalter bis zur Moderne, in: Christian Kiening/Martina Stercken (Hrsg.): SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008, S. 9-126, hier S. 87). Diese Konjunktur meines Stoffs werde ich nicht mehr behandeln. Nach einem kurzen Blick auf die volkssprachliche Dichtung des hohen Mittelalters werde ich mich historiographischen Beispielen zuwenden, die vor allem aus dem 16. Jahrhundert, also der Zeit des Renaissance-Humanismus stammen. Durch keine neuere Gesamtdarstellung ersetzt sind zwei Studien, auf die ich mich dankbar stützen konnte: Wolfgang Speyers Buch aus dem Jahr 1970 “Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike” und der Aufsatz des Germanisten Friedrich Wilhelm aus dem Jahr 1908: “Über fabulistische Quellenangaben” (Friedrich Wilhelm: Antike und Mittelalter. Studien zur Literaturgeschichte. I. Über fabulistische Quellenangabe, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 33 (1908), S. 286--339).
I Hochmittelalterliche Quellenfiktionen
In einem Kloster Tagemunt, erzählt der Prolog der heldenepischen Dichtung Wolfdietrich D (Walter Kofler (Hrsg.): Ortnid und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Carm. 2 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Stuttgart 2001, S. 117. Digitalisat von Bl. 40v der Handschrift), wurde ein Buch gefunden, das nach Bayern zum Bischof von Eichstätt gesandt wurde, wo es ihm 10 Jahre lang die Zeit verkürzte. Bei dem Bischof fand es ein Kaplan, der es ins Kloster St. Walburg trug. Die Äbtissin ließ es durch zwei Meister mündlich verbreiten und zum Allgemeingut machen. Die übliche Überlieferungskonstellation - mündliche Heldendichtung wird verschriftlich - wird hier sozusagen auf den Kopf gestellt. Man hat in dieser Quellenfiktion eine spielerische Konstruktion gesehen. Ähnliche Quellenfiktionen begegnen auch im Heldenepos Ortnid und in der Nibelungenklage, deren Epilog den Schreiber Konrad des Bischofs Pilgrim von Passau für die Niederschrift verantwortlich macht. Unendlich viel diskutiert wurde über Wolframs Quellenfiktion Kyot im Parzival. Sie gebe, meint Timo Reuvekamp-Felber, dem “kritischen Betrachter Anlass, die Beglaubigungen, Kommentare und Erläuterungen des Erzählers in Frage zu stellen” (Timo Reuvekamp-Felber: Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts. Köln 2003, S. 137, Anm. 361. Vgl. auch (mit Hinweisen zum Ortnid) Lydia Miklautsch: Montierte Texte - hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen, Berlin 2005, S. 221-227).
Der Beglaubigung eines Werks mittels eines alten Buchs, also einer schriftlichen Quelle, musste in der weitgehend noch mündlich geprägten Gesellschaft des hohen Mittelalters eine besondere Rolle zukommen. Als fundierende Geschichte, als Codexmythos, sippte sie die mündliche Stofftradition an die Autorität schriftkultureller Tradierung an. Als fiktionale Codex-Phantasie ist sie das Werkzeug eines souveränen Erzählers, der seine Zuhörer und Leser in eine fesselnde Erzählwelt ohne chronikalische Wahrheit entführt.
Offen bleibt die Frage, wieso ausgerechnet bestimmte Werke solche Quellenfiktionen aufweisen und andere nicht. Dass man besonders Unglaubwürdiges damit beglaubigt habe, ist keine schlüssige Erklärung, sonst hätte in der Wunderwelt der Artusdichtung alle paar Verse ein altes Buch hergezaubert werden müssen.
Offen bleibt die Frage der literarischen Tradition. Chrétiens Fortsetzer des Perceval versuchten, bemerkte Carl Lofmark (Carl Lofmark: Zur Interpretation der Kyotstellen im ‘Parzival’, in: Wolfram-Studien 4 (1977), S. 33-70, hier S. 58 mit Anm. 54), Chrétiens bescheidene Quellenangabe, der sich auf ein Buch berief, zu übertrumpfen: Der Dichter der Estoire Saint Graal behauptet sogar, Christus habe ihm die Geheimnisse selbst aufgeschrieben und ihm im Traum das Buch gezeigt, das er dann am nächsten Morgen gefunden habe.
Von einem Gattungszwang zur Quellenfiktion kann zumindest hinsichtlich der deutschsprachigen Zeugnisse nicht die Rede sein. Aber könnten nicht die antiken Vorbilder, von denen es ja teilweise volkssprachige Versionen gab, oder lateinische hagiographische Texte Quellenfiktionen inspiriert haben? Wolfgang Speyer hat ja ein reiches Material zu antiken Buchfundberichten ausgebreitet. Bücher wurden vor allem in Gräbern gefunden, aber auch in Tempeln, Bibliotheken und Archiven. Vielleicht am wirkmächtigsten war die Version von der Auffindung der angeblichen Tagebücher des Kreters Diktys über den trojanischen Krieg in seinem Grab. Bekanntlich haben die in Latein verbreiteten Fälschungen des Diktys und seines Gegenstücks Dares außerordentlich großen Einfluss auf die europäische Trojaliteratur des Mittelalters und der Neuzeit ausgeübt.
Doch selbst wenn man solche Entlehnungen für plausibel hält, bleibt die Frage nach der Funktion der Quellenfiktionen. Es steht zu befürchten, dass auch eine umfassende Sichtung der hochmittelalterlichen lateinischen und volkssprachigen Überlieferung zu Quellenfiktionen, die noch aussteht, keine eindeutige Antwort wird geben können. Die Berufung auf ein altes Buch bleibt somit in der Schwebe zwischen fundierendem Codexmythos und spielerischer Codexphantasie.
II Die Renaissance - Zeitalter der Fälschungen?
Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zu seinem Tod im Jahr 1566 arbeitete Graf Froben Christoph von Zimmern an der Chronik seines Geschlechts, bekanntgeworden als Zimmerische Chronik. Als eine seiner Quellen nennt er das Geschichtswerk des Besenfelders, der nach Angaben des Zimmern-Chronisten um 1470 gestorben sein soll und im Raum des oberen Neckars als Amtmann gewirkt hat. An einer Stelle bemerkt er: “Das ich aber wider uf unsern Besenfelder kom, der die alten sachen so fleißig und mit allen notwendigen umbstenden beschriben, so ist zu wissen, das solch buch bei seinen nachkommen ein guete zeit hernach zu Horb bliben, und wiewol es noch heutigs tags ein gar groß, dicks buch und aller volgeschriben, so ist doch wol zu sehen, das man sein hievor nit vil geachtet, aller verpleteret und vil darauß verloren ist worden, wie dann bei den unverstendigen solche herliche monumenta laider gering geschetzt werden, das schad ist, das solch werk also imperfect verstrewet ist worden. Die fragmenta darvon sein bei unsern zeiten seiner nachkommen [einem], einem becken, worden, der wonet zu Schemberg, haist . . ., und wiewol der weder schreiben oder lesen, nochdann kan man solchs buch mit groser mühe und arbait von ime erlangen und zu wegen bringen, allain der ursach, seitmals man so grose nachfrag darnach, so went er, es sei naißwas anders, user grobem unverstandt.” (Karl August Barack (Hrsg.): Zimmerische Chronik, Bd. 4, Tübingen 1882, S. 145f.)
Der geschundene Codex ist ein altes Motiv. In der Remigiusvita des Hinkmar von Reims ist von einem großen Codex die Rede, der durch Feuchtigkeit, Mäusefraß und Ausreißen von Blättern zugrundegegangen sei - der Hagiograph erwähnt die Nachlässigkeit der Kleriker, die ihr im Handel erworbenes Geld in Bücherblätter einwickelten (Wilhelm, S. 307f. nach MGH Scr. rer. Merov. 3 (1896), S. 250-252).
An anderer Stelle reflektiert Froben Christoph von Zimmern über Überlieferungsverluste im Bereich der höfisch-ritterlichen Historiographie. Man finde zwar wenig über die Taten der Vorfahren aufgeschrieben und die Aufzeichnungen der Mönche seien unzuverlässig, aber vornehme Ritter und andere Hofleute und Persevanten (Unterherolde) hätten sich bemüht, die Begebenheiten ihrer Zeit mit Fleiß zu verzeichnen. Doch seien deren Schriften entweder verloren oder unzugänglich verborgen (Bd. 1, 1881, S. 257). So verhalte es sich mit den herrlichen Verzeichnissen des Ritters Konrad von Manspach.
Es ist anzunehmen, dass es weder die Chronik des tatsächlich in Horb als Berthold Besenfeld fassbaren Besenfelders (Hans Peter Müller: Der Chronist Berthold Besenfeld von Horn, in: Der Sülchgau 20 (1976), S. 27-34) noch die Verzeichnisse des Konrad von Manspach je gegeben hat. Quellenfiktionen waren für den exzellenten Erzähler Froben Christoph von Zimmern ein beliebtes Mittel, seine Erfindungen abzusichern.
Den Zimmern-Chronisten bewegten - dies geben verschiedene Bemerkungen deutlich zu erkennen (vgl. Beat Rudolf Jenny: Graf Froben Christoph von Zimmern. Geschichtschreiber, Erzähler, Landesherr. Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus in Schwaben, Lindau/Konstanz 1959, S. 123, 127, 130f., 148f., 178) - die Verluste historischer Überlieferung. Er beklagt die Ignoranz der Leute, die “herliche monumenta” verkommen ließen. Seine Quellenfiktionen antworteten - so meine These - auf die Erfahrung des Überlieferungsverlustes.
In einer noch zu schreibenden Geschichte der Kulturgutverluste gibt es eine Konstante, auf die sich auch der Zimmern-Chronist mit seinen abschätzigen Worten über den Schömberger Bäcker bezieht: das Auseinanderklaffen der Wertungen seitens der Eigentümer und Hüter des Kulturguts auf der einen Seite und der Kenner oder Experten auf der anderen Seite.
Für die Humanisten lag die antike Überlieferung in den Klöstern im “grab der unwissenheit” (Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991, S. 151 nach Sebastian Franck: Chronica [...], Straßburg 1531, Bl. 207r. Digitalisat). Sie jagten - etwa auf dem Konstanzer Konzil - nach alten Handschriften - “ad fontes” (Poggios Lukrez-Fund wurde jüngst gefeiert von Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann. München 2012)! Conrad Ferdinand Meyer hat dieser Suche der italienischen Humanisten nach antiken Texten seine Novelle “Plautus im Nonnenkloster” gewidmet.
Humanismus, Buchdruck und Reformation führten zu tiefgreifenden Umbrüchen im Überlieferungs- und Wissensbestand. Bislang hochgeschätzte Kulturgüter wurden wertlos, etwa die Hinterlassenschaft der monastischen Kultur in den reformierten Territorien.
Je mehr die alte Überlieferung in den Blick geriet, um so schmerzhafter empfand man es, dass man aus den verbliebenen Fragmenten keine angemessene Geschichtsdarstellung erarbeiten konnte. Die Renaissance war daher auch das Zeitalter berühmter historiographischer Fälschungen. Erinnern möchte ich an Annius von Viterbo mit seiner Berosus-Quelle und an den Benediktiner Johannes Trithemius, der Hunibald und Meginfried erfand. Dass Fälschungen in der deutschen Kultur und Kunst um 1500 eine besondere Rolle spielten, versucht das Buch des Kunsthistorikers Christopher S. Wood “Forgery, Replica, Fiction” aus dem Jahr 2008 zu belegen.
Neben den großen Namen gab es aber auch Kleinmeister der historiographischen Fälschung. Beispielsweise der Kemptener Stiftsschulmeister Johannes Birk, der um 1500 in mehreren Chroniken eine fiktive Frühgeschichte des Kemptener Raums präsentierte. Die Historia Caroli magni gibt er als Werk des karolingerzeitlichen Schreibers Gottfried von Marsilia aus, der es auf Birkenrinden niedergelegt habe (Franz Ludwig Baumann: Forschungen zur schwäbischen Geschichte, Kempten 1899, S. 5). Solche Angaben über archaische Beschreibstoffe findet man auch sonst. Der Schwankbuchdichter Michael Lindener erfand einen Welfen-Historiker Atranus Gebula, dessen auf Bast geschriebene Historia er gefunden und vor dem Vermodern gerettet haben will (Michael Lindener: Wunderbarliche Hystoria von dem Ursprunge und namen der Guelphen [...], ohne Ort und Jahr (ca. 1560), Bl. A2v. Digitalisat MDZ; Hinweis bei Jenny: Zimmern S. 166). Um 1600 verfasste der württembergische Chronist Jakob Beyrlin eine Reihe von “Lügenchroniken”, für deren Wahrheit er eine ganze Reihe erfundener Historiker ins Feld führte. Die frühesten dieser Quellen sollen “auf rinden” geschrieben gewesen sein (Michael Klein: Formen epigonaler Verwertung humanistischer Schriften und ihr Publikum. Die ‘Lügenchroniken’ des Jakob Beyrlin (1576 bis nach 1618), in: Kurt Andermann (Hrsg.): Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1988, S. 247-273, hier S. 266.). In Polen wollte man wissen, ein gewisser Zborowski habe im 16. Jahrhundert eine auf Birkenrinde geschriebene uralte Chronik in einer Säule gefunden (Alfred von Gutschmid: Über die Fragmente des Pompejus Trogus und die Glaubwürdigkeit ihrer Gewährsmänner, in: Jahrbücher für classische Philologie. Supplementbd. 2 (1856/57), S. 177-282, hier S. 280 nach Józef Maksymilian Ossoliński: Vincent Kadłubek, ein historisch-kritischer Beytrag zur slavischen Literatur. Aus dem Polnischen von Samuel Gottlieb Linde, Warschau 1822, S. 352, der aber keine Quelle angibt). Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg (1528-1589) schätzte Bücher auf Birkenfasern und -rinde als besonders wertvolle Antiquitäten (“alten monumentis”), denn er bat Albrecht Friedrich von Preußen um solche (Nadezka Shevchenko: Eine historische Anthropologie des Buches. Bücher in der preußischen Herzogsfamilie, Göttingen 2007, S. 131).
Keinen guten Namen haben die historiographischen Produkte des 1521 gestorbenen Zwickauer Humanisten Erasmus Stella. Er behauptete, man habe in einem Dorf bei Zwickau auf einer Bleitafel die Grabinschrift einer Schwanhildis gefunden, der angeblichen Tochter des von Stella erfundenden Zwickauer Gründers Cygnus, eines Sohns von Hercules. Die lateinische Grabinschrift sollte mit dunklen prophetischen Worten Eindruck machen (Hans Joachim Schoenborn: Lebensgeschichte und Geschichtsschreibung des Erasmus Stella. Ein Beitrag zur Geschichte des gelehrten Fälschertums im 16. Jahrhundert, Diss. Königsberg, Düsseldorf 1938, S. 45f.).
Die Verbindung von Bücherfund und Prophezeiung begegnet ebenfalls in Neapel am Ende des 15. Jahrhunderts (Speyer S. 103-105). Einem Priester sei der hl. Cataldus von Tarent erschienen und habe ihn aufgefordert, ein Buch mit Prophezeiungen, das er vergraben habe, auszugraben und dem König zu überbringen. Tatsächlich habe sich das mit Bleitafeln bedeckte und mit einem Schlüssel verschlossene Buch an dem genannten Versteck vorgefunden. Die Entlarvung der Affäre liefert der Humanist Giovanni Pontano, der eine abweichende Version der Geschichte berichtet. Da der König Ferdinand sich von einem ungebildeten Frater Franciscus Hispanus nicht zu Judenverfolgungen überreden ließ, habe dieser bei Tarent eine Bleitafel verborgen. Er sorgte dafür, dass die angebliche Cataldus-Tafel, auf der in dunkler Rede dazu aufgerufen worden sei, die Juden zu vertreiben, aufgefunden wurde. Aber der König habe den Trug durchschaut.
Die Auffindungsgeschichte folgt einem lokalen Muster, denn schon im 13. Jahrhundert hatte man nach dem Zeugnis von Gervasius von Tilbury bei Neapel das Grab Vergils samt einer darin verborgenen Schrift in ähnlicher Weise aufgefunden (Speyer S. 101f.).
Wolfgang Speyer gibt dazu eine allgemeine Einordnung: “Man veranstaltete und erschwindelte Auffinden zunächst heiliger, später auch profaner Schriften, um dadurch bestimmte Wünsche und Absichten schnell und sicher durchzusetzen. So entstanden Fälschungen in Gestalt religiöser Urkunden” (S. 19). Diese Stiftungsurkunden sozialer Praktiken hat der Altphilologe G. S. Kirk, einer Begriffsbildung des Ethnologen Bronislaw Malinowski folgend, in seiner Mythendeutung als “Charter” bezeichnet (Geoffrey Stephen Kirk: Griechische Mythen. Ihre Bedeutung und Funktion. Aus dem Englischen von Renate Schein, Berlin 1980, S. 31 und 305 (Register)). Buchauffindungsgeschichten oder Codexmythen liefern also Begründungen, die von der Strahlkraft des Ursprungs zehren.
III Genealogische Fälschungen
Der Herold Georg Rüxner, den wir inzwischen auch als Jörg Rugen, Jörg Jerusalem und Jörg Brandenburg kennen (Klaus Graf: Herold mit vielen Namen. Neues zu Georg Rüxner alias Rugen alias Jerusalem alias Brandenburg alias ..., in: Ritterwelten im Spätmittelalter. Höfisch-ritterliche Kultur der Reichen Herzöge von Bayern-Landshut, Landshut 2009, S. 115-125 mit Belegen auch zum folgenden), war der vielleicht einflussreichste genealogische Fälscher aller Zeiten. Berüchtigt ist sein erstmals 1530 gedrucktes Turnierbuch, das dem Turnierwesen eine erfundene Ursprungsgeschichte verpasste und das mit seinen erfundenen Listen von Turnierteilnehmern zu einer genealogischen Bibel aristokratischer Kreise wurde.
In der Einleitung zu seinem Turnierbuch wendet sich Rüxner gegen den von Marx Würsung 1518 veranstalteten Druck der Turnierbuchchronik, dem er Fehler gegenüber dem ihm, Rüxner, allein bekannten, rechten Original vorwirft. Bereits im 16. Jahrhundert erregte die nun folgende Geschichte Anstoß: Er beruft sich auf einen Magdeburger Vikar Johann Kirchberger, der ihm dieses alte Buch ins Hochdeutsche übersetzt habe. Rüxner wollte nicht, dass jemand anderes Zugriff auf das Buch habe. Daher habe der Vikar es vor seinen Augen ins Feuer geworfen.
Rüxner, der als Genealoge auch sonst mit Quellenfiktionen arbeitete, beanspruchte also die exklusive Kenntnis des natürlich fiktiven Magdeburger Originals für sich. Er hoffte natürlich, mit der Verlustgeschichte lästigen Nachfragen nach den Quellen seiner Kenntnisse über die alten Turniere zu entgehen (so schon Aegidius Tschudi 1541, vgl. Schreiben des berühmten Gilg. Tschudis an Hrn. Nikl. Briefer, Decan zu St. Peter zu Basel, über Rüxners Turnierbuch, in: Der Schweizerische Geschichtsforscher 2 (1817), S. 419-424, hier S. 422).
Rüxner hatte durchaus Anlass, über das Würsungsche Turnierbuch verärgert zu sein, denn was über einen Salzburger Adeligen in die Augsburger Druckerpresse gelangt war, war sein eigenes Werk, die Turnierchronik, die er unter dem Namen Jörg Rugen spätestens 1494 verfasst hatte.
Gemäß dem französischen Sprichwort “mentir comme un généalogiste” war die Genealogie (vgl. Gerrit Walther/Klaus Graf: Genealogie, in: Enzyklopädie der Neuzeit 4 (2006), Sp. 426-432) zu allen Zeiten eine Brutstätte von Fälschungen. Mein nächstes Beispiel zeigt, wie im 16. Jahrhundert eine mittelalterliche Handschrift zur größeren Ehre einer oberpfälzischen Adelsfamilie manipuliert wurde (der folgende Abschnitt stützt sich vor allem auf die Materialpräsentation von Ludwig Rockinger: [Zur Abfassungszeit des Schwabenspiegels], in: Sitzungsberichte der königl. bayer. Akademie der Wissenschaften zu München 1867, Bd. 2, S. 408-450; Derselbe: [Über die Familie von Präckendorf], in: ebenda 1868 Bd. 1, S. 152-197, besonders S. 168f. (Aufzeichnung zum 13. Jahrhundert aus dem Cgm 2298, Hundts Stammenbuch Bd. 3). Bereits Georg von Wyss: Rüdger Maness, ein Rechtskundiger, in: Anzeiger für Schweizerische Geschichte NF 1 (1870/73), S. 21-24, 49-53, hier S. 50 hielt die Erzählung “durchaus nicht für authentisch”. Zum Cgm 38: . Diese Handschrift liegt in einem mäßigen Schwarzweiß-Digitalisat vor: Kreuzigungsdarstellung. Elisabeth Wunderles Beschreibung des Cgm 5335 enthält ein ausführliches Zitat zur Besitz-Fiktion).
In eine Schwabenspiegelhandschrift des 15. Jahrhunderts (heute in der Bayerischen Staatsbibliothek: Cgm 5335) wurden Stellen einer verlorenen älteren Pergamenthandschrift aus dem 13. Jahrhundert eingetragen, die nach authentisch wiedergegebenen mittelhochdeutschen Versen dem bekannten Ritter Rüdiger Manesse von Zürich aus dem 13. Jahrhundert gehörte. Problematisch ist lediglich der ebenfalls kopierte Besitzvermerk, mit dem sich offenbar im 16. Jahrhundert die erst im 14. Jahrhundert urkundlich belegbaren Preckendorfer in die Geschichte des Pergamentcodex fiktiv einschmuggelten. In Ich-Form bezeugt ein Heinrich der Preckendorfer, das Buch von einem Züricher Ritter und Bürger erhalten zu haben, als er 1264 bis 1268 in Diensten Graf Rudolfs von Habsburg stand. Auf der Rückseite des betreffenden Blatts befand sich eine Miniatur dieses Heinrich mit seinem Wappen, die ihn in Rüstung vor einem Kruzifix kniend zeigt. Die darunter befindlichen Verse verweisen ebenfalls in Ich-Form auf Heinrichs Kriegstaten und berufen sich - wie schon der Besitzvermerk - abschließend auf ein von ihm verfaßtes "raysbuch", also eine Aufzeichnung über seine Kriegstaten. Genealogische Aufzeichnungen aus dem Ende des 16. Jahrhunderts über die Preckendorfer in einer anderen Handschrift (Band 3 von Wiguleus Hundts Stammen Buch, Cgm 2298) kennen die beiden angeblich auf Heinrich zurückgehenden Texte ebenfalls. Im Besitz der Preckendorfer war eine Handschrift mit Konrads von Megenberg "Buch der Natur" (Cgm 38), in die Familiennotizen des Geschlechts eingetragen wurden und die offenkundig das gleiche Bild wie die verlorene Pergamenthandschrift enthält, einen knieenden Ritter vor dem Kruzifix. Nur wird es in der Megenberg-Handschrift als Darstellung eines Stefan von Preckendorf mit beigegebener Jahreszahl 1389 ausgegeben.
In Frage steht für mich auch die Authentizität des sogenannten Familienbuchs der Herren von Eptingen (Ausgabe: Dorothea A. Christ: Das Familienbuch der Herren von Eptingen. Kommentar und Transkription, Liestal 1992), das in der neueren Forschung wiederholt als faszinierende und weitgehend singuläre Quelle zur spätmittelalterlichen Adelskultur, für Heraldik und Turnierwesen herangezogen wurde. Dass die reich illustrierte Handschrift aus dem Jahr 1627 aber tatsächlich auf einen einzigen spätmittelalterlichen Codex zurückgeht, erscheint mir höchst zweifelhaft.
Ähnlich verhält es sich auch mit den Aufzeichnungen eines Wenzel Gruber, angeblich Diener der Herren von Trenbach (auch als Trenbecken bekannt) und später Benediktiner in Scheyern aus dem 15. Jahrhundert. Auszüge sind überliefert in einer prächtig ausgestatteten Familienchronik, die auf den Passauer Bischof Urban, selbst ein Angehöriger des Geschlechts, zurückgeht. Dort wird auch wörtlich die Vorrede des Wenzel Gruber wiedergegeben (Abdruck der Vorrede: Chronik der Herren Trenbeckhen von Trennbach, in: Heraldisch-genealogische Zeitschrift. Organ des [...] Adler in Wien 2 (1872), S. 74-76 (und weitere), hier S. 74f. Zur angeblichen Chronik Wenzel Grubers vgl. auch Hans-Dieter Mück: Zur Verfasserschaft der sog. “Greisenklage”, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 3 (1984/85), S. 267-278. Für leider vergebliche Versuche, ein nach Auskunft des Archivs 2006 bereits angefertigtes Digitalisat der Chronik - Niederösterreichisches Landesarchiv F-2-5 - zu beschaffen, möchte ich Volkhard Huth danken). Bereits die Quellenliste des antiquarischen Typs - genannt werden versiegelte Briefe, alte Register, Totenbücher, alte und neue Grabsteine sowie ein altes Pergamentbüchlein - zeigt, dass ein Anachronismus vorliegt. Wenn es zutrifft, was Wiguleus Hund aus Wenzel Gruber - ich habe die Handschrift der Trenbecken-Chronik im niederösterreichischen Landesarchiv nicht eingesehen - zur Teilnahme eines Familienmitglieds auf dem Zürcher Turnier 1165 referiert, so ist der Fälschungsnachweis geführt, denn dieses Turnier hat erst Rüxner erfunden.
Bezeichnend ist, dass die fingierte Vorrede des Wenzel Gruber ihrerseits eine Quellenfiktion aufweist: das alte Pergamentbüchlein, das der Autor von einem Schwaben erhalten haben will und das nach seinen eigenen Angaben höchst inhaltsreich gewesen ist. Also ein Codexmythos in einem Codexmythos.
Für Genealogen war es besonders wichtig, Lücken zu füllen und mit ihren Stammtafeln möglichst weit zurückzukommen. Mit ihren Codexmythen entsprachen sie der Erwartung, dass historische Erkentnisse sich auf zuverlässige Quellen zu stützen hatten. Im Fall der Preckendorfer und der Eptinger kam noch hinzu, dass man sich greifbare ritterliche Altertümer wünschte. Während die Preckendorfer eine alte Handschrift ergänzten, fabrizierten die Eptinger im 17. Jahrhundert ein spätmittelalterliches Familienbuch in Kopie.
IV Kloster Lorch, Hort geheimnisumwitterter Handschriften
Alte Klosterbibliotheken eigneten sich vorzüglich, wenn es galt alte Manuskripte zu fingieren (und zwar schon lange vor Umberto Ecos “Name der Rose”). So wurden in der Chronik der Truchsessen von Waldburg zwei erfundene frühmittelalterliche Adelslisten auf eine alte Chronik in St. Emmeram zu Regensburg und ein altes Messbuch im Kloster Murrhardt zurückgeführt (Baumann: Forschungen S. 95, 99).
Bei der Aufarbeitung der Staufer-Überlieferungen des Klosters Lorch bei Schwäbisch Gmünd konnte ich feststellen, dass historische Traditionsbildung und der Bewertungsprozess der Kulturgutbewahrung eng korreliert waren (Klaus Graf: Staufer-Überlieferungen aus Kloster Lorch, in: Sönke Lorenz u. a. (Hrsg.): Von Schwaben bis Jerusalem. Facetten staufischer Geschichte, Sigmaringen 1995, S. 209 - 240). Und ich traf dort eine ganze Reihe frühneuzeitlicher Spekulationen über alte Lorcher Quellen an. Uns bereits bekannt ist Froben Christoph von Zimmern, zu dessen Quellenfiktionen auch ein Lorcher Mönch Gregor von Lustnau gehört. Der Literat Jakob Frischlin, Bruder des berühmten Nikodemus Frischlin, berief sich in einer 1612 gedruckten Komödie auf eine offenbar fingierte Chronik eines Lorcher Mönchs und bei der Beschreibung der Hochzeit Herzog Ulrichs ebenfalls auf einen Frater Janus von Lorch. Nach dem lateinischen Widmungsbrief könnte Janus Name eines poetischen Rollen-Ichs von Frischlin sein (Graf: Staufertraditionen, S. 170. Auch hier möchte ich Felix Heinzer für seine Hilfe danken).
Dies deutet darauf hin, dass ein literarisches Spiel, also eine Codexphantasie vorliegt. Es spricht aber vieles dafür, den Begriff Phantasie weiter zu fassen und die ohnehin problematische Trennung von Codexmythen und Codexphantasien aufzuheben. In einem Beitrag über Ursprungserzählungen habe ich vorgeschlagen, die Narrativität dieser Überlieferung ernstzunehmen und das “kreative Spiel mit Erzählschemata und Erzählmotiven” als Ursprungsphantasie zu bezeichnen (Klaus Graf: Ursprung und Herkommen. Funktionen vormoderner Gründungserzählungen, in: Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.): Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg 2001, S. 23-36, hier S. 28f.). Das erscheint mir auch hier sachgerecht. Während der Begriff Mythos den fundierenden Charakter der Quellenfiktionen und Fundgeschichten unterstreicht, hebt der Begriff Phantasie auf das kreative und narrative Potential der Geschichten ab. Es geht nicht darum, unreflektiert einen modernen Unterhaltungsbegriff zurückzuprojizieren, aber wer die unterhaltsamen Aspekte historiographischer Fiktionen, also das intellektuelle Vergnügen, das die Lektüre narrativ ambitionierter Texte mit sich brachte, vernachlässigt und ihren Legitimations-Charakter in den Mittelpunkt stellt, interpretiert die Zeugnisse allzu einseitig.
Ohnehin ist es schwer, das Augenzwinkern des Erzählers, der einen ebenso souveränen Leser voraussetzt, der in der Lage ist, die Quellenfiktion zu durchschauen, methodisch plausibel zu belegen. Wo verläuft die Grenze zwischen fiktionalen literarischen Texten, in denen die beglaubigende Quellenberufung Teil des Spiels ist, und der Historiographie mit ihrem strikten Wahrheitsanspruch?
Die um 1500 fassbare lateinische Gründungserzählung des schwäbischen Dorfs Dagersheim beruft sich auf eine Quelle: “ex libro quod in vulgari dicitur das Salbuoch aller teutscher Landen” (Roman Janssen: “Der Sinn ist funden”. Anmerkungen zur Dagersheimer Gründungssage oder wie sich Legenden bilden, in: Roman Janssen (Hrsg.): “Der Sinn ist funden”. Neue Entdeckungen und Darstellungen zur Herrenberger Geschichte, Sigmaringen 1997, S. 47-62, hier S. 49). Roman Janssen hält den Text für eine Humoreske und einen Gelehrtenscherz, bei dem Hinweise für “Kundige” eingebaut worden seien. Das mysteriöse Salbuch aller deutschen Lande wäre demnach mehr Codexphantasie als Codexmythos. Ich bin zwar nicht völlig überzeugt, aber das Beispiel verdeutlicht das methodische Problem.
Historiker, die ihr Publikum mit staubtrockenen Fußnoten-Halden langweilen, geraten selten in Versuchung, zu fälschen. Begnadete Erzähler sind dagegen stets gefährdet, die Grenze zum historischen Roman zu überschreiten. Eine bemerkenswerte Quellenfälschung des späten 20. Jahrhunderts - man darf sie wohl in das Jahr 1977 datieren - stammt von einem solchen Ausnahmetalent. Pünktlich zur Stauferausstellung 1977 verblüffte mein Doktorvater Hansmartin Decker-Hauff die Fachwelt mit geretteten Exzerpten zur frühen staufischen Genealogie, die aus dem im zweiten Weltkrieg verschmorten Roten Buch des Klosters Lorch und dem sogenannten Codex Holtz stammen sollten (Hansmartin Decker-Hauff: Das staufische Haus, in: Die Zeit der Staufer, Bd. 3, Stuttgart 1977, S. 339-374. Zur Kritik: Graf: Staufertraditionen, S. 171; Derselbe: Staufer-Überlieferungen; Mythos Staufer; Gerhard Lubich: Auf dem Weg zur “Güldenen Freiheit”. Herrschaft und Raum in der Francia orientalis von der Karolinger- zur Stauferzeit, Husum 1996, S. 172f.). Damit griff Decker-Hauff auf die frühneuzeitlichen Lorcher Codex-Phantasien zurück, denn im 17. und 18. Jahrhundert zitierten württembergische Historiographen ein altes Manuskript, verfasst von einem Lorcher Prior, das sich im Besitz des Generals von Holtz befunden haben soll. Nach Decker-Hauff fertigte sein Vorfahr, der Schorndorfer Burgvogt Hans Hauff Auszüge daraus an. Dieser ist übrigens auch einer der Urheber des Hauffschen Epitaphienbüchleins, einer ominösen Quelle im Familienarchiv Decker-Hauff, die freilich nie jemand zu Gesicht bekommen hat. Sehr wohl einsehbar ist das Lorcher Rote Buch, ein um 1500 angelegtes Kopialbuch, nach sorgfältiger Restaurierung wiedererstanden wie Phoenix aus der Asche. Obwohl schmerzhafte Textverluste zu beklagen sind, kann man ausschließen, dass die von Decker-Hauff angeblich aus ihm exzerpierten Texte jemals in ihm eingetragen waren.
Da Decker-Hauffs Lorcher Quellenfälschung seine genealogischen Aufstellungen absichern sollten, ist er ein später Nachfahre der genealogischen Fälscher der frühen Neuzeit. Hätten wir Aufzeichnungen seiner unzähligen Vorträge und Vorlesungen, in denen er immer wieder die Grenzen der nüchternen Faktendarstellung zugunsten phantasievoller Ausschmückungen überschritt und die wundersame Rettung alter Überlieferungen inszenierte, könnte man den historiographischen Codexphantasien ein farbiges Kapitel aus der Gegenwart hinzufügen.
#forschung
Zitierempfehlung: Klaus Graf: Codexmythen und Codexphantasien. In: Archivalia vom 31. März 2013. Online: http://archiv.twoday.net/stories/326528152/ (Archivversion: http://www.webcitation.org/6FYhKFmwH )
Druckfassung: Klaus Graf: Codexmythen und Codexphantasien. In: Codex und Geltung. Hrsg. von Felix Heinzer/Hans-Peter Schmit (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 30). Wiesbaden 2015, S. 15-28. Zitiert werden kann auch obige Fassung, da sie alle Nachweise enthält und durch die Links einen Mehrwert bietet. Zu Wenzel Gruber: In Fußnote 37 ist der Dank an Huth ersetzt worden durch den Nachtrag: Klaus Graf: Fiktion und Geschichte: Die angebliche Chronik Wenzel Grubers, Greisenklage, Johann Hollands Turnierreime und eine Zweitüberlieferung von Jakob Püterichs Ehrenbrief in der Trenbach-Chronik (1590). In: Frühneuzeit-Blog der
RWTH vom 10. Februar 2015
http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1847
Im Wald Schönert bei Bronnbach soll einstmals ein Schloss gestanden haben, erzählt eine unterfränkische Schatzsage, die der Wertheimer Lehrer und Zeichner Andreas Fries in der Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde 1853 wiedergibt. Einmal machte sich ein geistlicher Herr daran, den dort verborgenen großen Schatz zu heben. Es gelang ihm, den Prinzen von Waldeck, der ihn vergraben hatte, herbeizuzitieren. Die “mächtige gestalt in glänzender rüstung” gab Auskunft, wie man an den Schatz herankommen könne: “den schatz kann nur derjenige heben, welcher das buch des lebens mitbringt und anwendet; das wird im kloster der schwarzen karmeliter in Würzburg aufbewahrt.” (S. 303). Der Reichelsheimer Wirt und seine Kumpane reisten nach Würzburg, wo ihnen die Mönche eröffneten, nur gegen ein Pfand von 10.000 Gulden könne das Buch des Lebens ausgehändigt werden. Die Männer konnten so viel Geld nicht aufbringen, und so blieb der Schatz ungehoben.
Ob die lange Erzählung, die aufgrund der Erwähnung des Buchs des Lebens in den Artikeln zum Lemma Buch im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens und in der Enzyklopädie des Märchens angeführt wurde (Hanns Bächtold Stäubli: Buch, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1 (1927), Sp. 1688-1690; Rudolf Schenda: Buch, in: Enzyklopädie des Märchens 2 (1979), Sp. 965-970. Zum Buch des Lebens vgl. Otto Schnitzler: Buch des Lebens, in: ebenda, Sp. 971-974), tatsächlich authentische Folklore (was immer das ist) spiegelt, möchte ich nicht erörtern. Das Buch des Lebens, in der biblischen Tradition das Verzeichnis der Auserwählten Gottes, ist in dem unterfränkischen Text zu einer Art Zauberbuch geworden. In den früh- und hochmittelalterlichen Klöstern, die ihre Memorialbücher als Libri Vitae bezeichneten, war das Buch des Lebens das Ziel allen Strebens gewesen. “Das monastische Opfer der Fürbitte”, so Friedrich Ohly, “setzt dem Verstorbenen nicht ein Denkmal aus Stein auf Erden, sondern betreibt mit der Eintragung seines Namens in die im Rahmen der Liturgie zu verlesende Gedenkliste seine Übertragung in den himmlischen Liber vitae, in das ewige Gedächtnis Gottes” (Friedrich Ohly: Bemerkungen eines Philologen zur Memoria, in: Karl Schmid/Joachim Wollasch (Hrsg.): Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. München 1984, S. 9-78, hier S. 29).
Dem himmlischen Buch standen die Aufzeichnungen des Teufels gegenüber. Seit Jakob von Vitry kennt die europäische Erzählüberlieferung das Exempel vom Sündenregister auf der Kuhhaut (Zusammenfassend: Hans-Jörg Uther: Sündenregister auf der Kuhhaut, in: Enzyklopädie des Märchens 13 (2010), Sp. 46-51). Den schreibenden Teufel, der auf ihr die Sünden der plappernden Frauen notiert, zeigen aber auch bildliche Zeugnisse. Auf einem Wandbild des 14. Jahrhunderts in der Georgskirche der Reichenau halten vier Teufel ein Kuhfell, auf dem ein fünfter hockt und die Sünden der schwatzenden Frauen aufschreibt.
Auf der Erde führten die Obrigkeiten Bücher der Missetäter, sinnigerweise oft als schwarze Bücher bezeichnet. Man fürchtete im schwarzen Buch zu stehen. In der Sprichwörtersammlung des Johannes Agricola wird als Beispiel ein Magdeburger Prediger angeführt, der seine jugendlichen Untaten im Schwarzbuch der Stadt löschen lassen wollte,dem dies aber nicht gelang. (Mehr dazu in meinem auch online vorliegenden Aufsatz: Das leckt die Kuh nicht ab.)
Als schwarze Bücher wurden aber auch die Zauberbücher bezeichnet. Bücher spielten eine große Rolle bei magischen Praktiken, denn Magie war im Spätmittelalter und in der Neuzeit immer ein Amalgam aus schriftlichen und mündlichen Überlieferungen. In den sogenannten Volkserzählungen dominiert das Buch als zauberkräftiger Gegenstand, der Schutz gegen die Mächte des Bösen bewirken kann.
Diese Beispiele mögen genügen um zu verdeutlichen: Bücher waren seit dem Mittelalter ganz besondere Objekte, die Geltungsansprüche erhoben haben, lebensweltlich wichtig und bedeutsam waren. Wenn ich im folgenden über Codexmythen und Codexphantasien handle, werde ich mich auf einen bestimmten Typ von Geschichten konzentrieren, bei dem es um den Geltungsanspruch alter Bücher als Autoritäten geht. Immer wieder haben seit der Antike Textfälscher ein altes Manuskript als Quelle vorgegeben, haben Literaten mit diesem Motiv gespielt. Ich habe diese diskursive Praxis Codex-Phantasien genannt, um das spielerische Moment zu betonen, in dem sich fiktionale Erzählwelt und historiographisches Erzählen begegnen (900 Jahre Kloster Lorch, S. 171). Mythen sind fundierende Geschichten (vgl. Gerd Althoff: Formen und Funktionen von Mythen im Mittelalter, in: Helmut Berding (Hrsg.): Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3. Frankfurt am Main 1996, S. 11-33, hier S. 14, der Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. München 1992, S. 78 zitiert: Mythos als “zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit”), Erzählungen mit spezifischem Geltungs- und Wahrheitsanspruch. Indem sie Verhältnisse begründen und legitimieren, sind sie der seriöse Widerpart der spielerischen Phantasien. Irritierenderweise lässt sich aber keine klare Grenze zwischen den bestimmt auftretenden Mythen und den augenzwinkernden Phantasien ausmachen.
Um 1800 füllen sich, stellte Christian Kiening kürzlich fest, “die literarischen Werke mit Szenarien, in denen die Protagonisten auf alte, geheimnisvolle, auratische Schriften stoßen” (Christian Kiening: Die erhabene Schrift. Vom Mittelalter bis zur Moderne, in: Christian Kiening/Martina Stercken (Hrsg.): SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008, S. 9-126, hier S. 87). Diese Konjunktur meines Stoffs werde ich nicht mehr behandeln. Nach einem kurzen Blick auf die volkssprachliche Dichtung des hohen Mittelalters werde ich mich historiographischen Beispielen zuwenden, die vor allem aus dem 16. Jahrhundert, also der Zeit des Renaissance-Humanismus stammen. Durch keine neuere Gesamtdarstellung ersetzt sind zwei Studien, auf die ich mich dankbar stützen konnte: Wolfgang Speyers Buch aus dem Jahr 1970 “Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike” und der Aufsatz des Germanisten Friedrich Wilhelm aus dem Jahr 1908: “Über fabulistische Quellenangaben” (Friedrich Wilhelm: Antike und Mittelalter. Studien zur Literaturgeschichte. I. Über fabulistische Quellenangabe, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 33 (1908), S. 286--339).
I Hochmittelalterliche Quellenfiktionen
In einem Kloster Tagemunt, erzählt der Prolog der heldenepischen Dichtung Wolfdietrich D (Walter Kofler (Hrsg.): Ortnid und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Carm. 2 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Stuttgart 2001, S. 117. Digitalisat von Bl. 40v der Handschrift), wurde ein Buch gefunden, das nach Bayern zum Bischof von Eichstätt gesandt wurde, wo es ihm 10 Jahre lang die Zeit verkürzte. Bei dem Bischof fand es ein Kaplan, der es ins Kloster St. Walburg trug. Die Äbtissin ließ es durch zwei Meister mündlich verbreiten und zum Allgemeingut machen. Die übliche Überlieferungskonstellation - mündliche Heldendichtung wird verschriftlich - wird hier sozusagen auf den Kopf gestellt. Man hat in dieser Quellenfiktion eine spielerische Konstruktion gesehen. Ähnliche Quellenfiktionen begegnen auch im Heldenepos Ortnid und in der Nibelungenklage, deren Epilog den Schreiber Konrad des Bischofs Pilgrim von Passau für die Niederschrift verantwortlich macht. Unendlich viel diskutiert wurde über Wolframs Quellenfiktion Kyot im Parzival. Sie gebe, meint Timo Reuvekamp-Felber, dem “kritischen Betrachter Anlass, die Beglaubigungen, Kommentare und Erläuterungen des Erzählers in Frage zu stellen” (Timo Reuvekamp-Felber: Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts. Köln 2003, S. 137, Anm. 361. Vgl. auch (mit Hinweisen zum Ortnid) Lydia Miklautsch: Montierte Texte - hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen, Berlin 2005, S. 221-227).
Der Beglaubigung eines Werks mittels eines alten Buchs, also einer schriftlichen Quelle, musste in der weitgehend noch mündlich geprägten Gesellschaft des hohen Mittelalters eine besondere Rolle zukommen. Als fundierende Geschichte, als Codexmythos, sippte sie die mündliche Stofftradition an die Autorität schriftkultureller Tradierung an. Als fiktionale Codex-Phantasie ist sie das Werkzeug eines souveränen Erzählers, der seine Zuhörer und Leser in eine fesselnde Erzählwelt ohne chronikalische Wahrheit entführt.
Offen bleibt die Frage, wieso ausgerechnet bestimmte Werke solche Quellenfiktionen aufweisen und andere nicht. Dass man besonders Unglaubwürdiges damit beglaubigt habe, ist keine schlüssige Erklärung, sonst hätte in der Wunderwelt der Artusdichtung alle paar Verse ein altes Buch hergezaubert werden müssen.
Offen bleibt die Frage der literarischen Tradition. Chrétiens Fortsetzer des Perceval versuchten, bemerkte Carl Lofmark (Carl Lofmark: Zur Interpretation der Kyotstellen im ‘Parzival’, in: Wolfram-Studien 4 (1977), S. 33-70, hier S. 58 mit Anm. 54), Chrétiens bescheidene Quellenangabe, der sich auf ein Buch berief, zu übertrumpfen: Der Dichter der Estoire Saint Graal behauptet sogar, Christus habe ihm die Geheimnisse selbst aufgeschrieben und ihm im Traum das Buch gezeigt, das er dann am nächsten Morgen gefunden habe.
Von einem Gattungszwang zur Quellenfiktion kann zumindest hinsichtlich der deutschsprachigen Zeugnisse nicht die Rede sein. Aber könnten nicht die antiken Vorbilder, von denen es ja teilweise volkssprachige Versionen gab, oder lateinische hagiographische Texte Quellenfiktionen inspiriert haben? Wolfgang Speyer hat ja ein reiches Material zu antiken Buchfundberichten ausgebreitet. Bücher wurden vor allem in Gräbern gefunden, aber auch in Tempeln, Bibliotheken und Archiven. Vielleicht am wirkmächtigsten war die Version von der Auffindung der angeblichen Tagebücher des Kreters Diktys über den trojanischen Krieg in seinem Grab. Bekanntlich haben die in Latein verbreiteten Fälschungen des Diktys und seines Gegenstücks Dares außerordentlich großen Einfluss auf die europäische Trojaliteratur des Mittelalters und der Neuzeit ausgeübt.
Doch selbst wenn man solche Entlehnungen für plausibel hält, bleibt die Frage nach der Funktion der Quellenfiktionen. Es steht zu befürchten, dass auch eine umfassende Sichtung der hochmittelalterlichen lateinischen und volkssprachigen Überlieferung zu Quellenfiktionen, die noch aussteht, keine eindeutige Antwort wird geben können. Die Berufung auf ein altes Buch bleibt somit in der Schwebe zwischen fundierendem Codexmythos und spielerischer Codexphantasie.
II Die Renaissance - Zeitalter der Fälschungen?
Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zu seinem Tod im Jahr 1566 arbeitete Graf Froben Christoph von Zimmern an der Chronik seines Geschlechts, bekanntgeworden als Zimmerische Chronik. Als eine seiner Quellen nennt er das Geschichtswerk des Besenfelders, der nach Angaben des Zimmern-Chronisten um 1470 gestorben sein soll und im Raum des oberen Neckars als Amtmann gewirkt hat. An einer Stelle bemerkt er: “Das ich aber wider uf unsern Besenfelder kom, der die alten sachen so fleißig und mit allen notwendigen umbstenden beschriben, so ist zu wissen, das solch buch bei seinen nachkommen ein guete zeit hernach zu Horb bliben, und wiewol es noch heutigs tags ein gar groß, dicks buch und aller volgeschriben, so ist doch wol zu sehen, das man sein hievor nit vil geachtet, aller verpleteret und vil darauß verloren ist worden, wie dann bei den unverstendigen solche herliche monumenta laider gering geschetzt werden, das schad ist, das solch werk also imperfect verstrewet ist worden. Die fragmenta darvon sein bei unsern zeiten seiner nachkommen [einem], einem becken, worden, der wonet zu Schemberg, haist . . ., und wiewol der weder schreiben oder lesen, nochdann kan man solchs buch mit groser mühe und arbait von ime erlangen und zu wegen bringen, allain der ursach, seitmals man so grose nachfrag darnach, so went er, es sei naißwas anders, user grobem unverstandt.” (Karl August Barack (Hrsg.): Zimmerische Chronik, Bd. 4, Tübingen 1882, S. 145f.)
Der geschundene Codex ist ein altes Motiv. In der Remigiusvita des Hinkmar von Reims ist von einem großen Codex die Rede, der durch Feuchtigkeit, Mäusefraß und Ausreißen von Blättern zugrundegegangen sei - der Hagiograph erwähnt die Nachlässigkeit der Kleriker, die ihr im Handel erworbenes Geld in Bücherblätter einwickelten (Wilhelm, S. 307f. nach MGH Scr. rer. Merov. 3 (1896), S. 250-252).
An anderer Stelle reflektiert Froben Christoph von Zimmern über Überlieferungsverluste im Bereich der höfisch-ritterlichen Historiographie. Man finde zwar wenig über die Taten der Vorfahren aufgeschrieben und die Aufzeichnungen der Mönche seien unzuverlässig, aber vornehme Ritter und andere Hofleute und Persevanten (Unterherolde) hätten sich bemüht, die Begebenheiten ihrer Zeit mit Fleiß zu verzeichnen. Doch seien deren Schriften entweder verloren oder unzugänglich verborgen (Bd. 1, 1881, S. 257). So verhalte es sich mit den herrlichen Verzeichnissen des Ritters Konrad von Manspach.
Es ist anzunehmen, dass es weder die Chronik des tatsächlich in Horb als Berthold Besenfeld fassbaren Besenfelders (Hans Peter Müller: Der Chronist Berthold Besenfeld von Horn, in: Der Sülchgau 20 (1976), S. 27-34) noch die Verzeichnisse des Konrad von Manspach je gegeben hat. Quellenfiktionen waren für den exzellenten Erzähler Froben Christoph von Zimmern ein beliebtes Mittel, seine Erfindungen abzusichern.
Den Zimmern-Chronisten bewegten - dies geben verschiedene Bemerkungen deutlich zu erkennen (vgl. Beat Rudolf Jenny: Graf Froben Christoph von Zimmern. Geschichtschreiber, Erzähler, Landesherr. Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus in Schwaben, Lindau/Konstanz 1959, S. 123, 127, 130f., 148f., 178) - die Verluste historischer Überlieferung. Er beklagt die Ignoranz der Leute, die “herliche monumenta” verkommen ließen. Seine Quellenfiktionen antworteten - so meine These - auf die Erfahrung des Überlieferungsverlustes.
In einer noch zu schreibenden Geschichte der Kulturgutverluste gibt es eine Konstante, auf die sich auch der Zimmern-Chronist mit seinen abschätzigen Worten über den Schömberger Bäcker bezieht: das Auseinanderklaffen der Wertungen seitens der Eigentümer und Hüter des Kulturguts auf der einen Seite und der Kenner oder Experten auf der anderen Seite.
Für die Humanisten lag die antike Überlieferung in den Klöstern im “grab der unwissenheit” (Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991, S. 151 nach Sebastian Franck: Chronica [...], Straßburg 1531, Bl. 207r. Digitalisat). Sie jagten - etwa auf dem Konstanzer Konzil - nach alten Handschriften - “ad fontes” (Poggios Lukrez-Fund wurde jüngst gefeiert von Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann. München 2012)! Conrad Ferdinand Meyer hat dieser Suche der italienischen Humanisten nach antiken Texten seine Novelle “Plautus im Nonnenkloster” gewidmet.
Humanismus, Buchdruck und Reformation führten zu tiefgreifenden Umbrüchen im Überlieferungs- und Wissensbestand. Bislang hochgeschätzte Kulturgüter wurden wertlos, etwa die Hinterlassenschaft der monastischen Kultur in den reformierten Territorien.
Je mehr die alte Überlieferung in den Blick geriet, um so schmerzhafter empfand man es, dass man aus den verbliebenen Fragmenten keine angemessene Geschichtsdarstellung erarbeiten konnte. Die Renaissance war daher auch das Zeitalter berühmter historiographischer Fälschungen. Erinnern möchte ich an Annius von Viterbo mit seiner Berosus-Quelle und an den Benediktiner Johannes Trithemius, der Hunibald und Meginfried erfand. Dass Fälschungen in der deutschen Kultur und Kunst um 1500 eine besondere Rolle spielten, versucht das Buch des Kunsthistorikers Christopher S. Wood “Forgery, Replica, Fiction” aus dem Jahr 2008 zu belegen.
Neben den großen Namen gab es aber auch Kleinmeister der historiographischen Fälschung. Beispielsweise der Kemptener Stiftsschulmeister Johannes Birk, der um 1500 in mehreren Chroniken eine fiktive Frühgeschichte des Kemptener Raums präsentierte. Die Historia Caroli magni gibt er als Werk des karolingerzeitlichen Schreibers Gottfried von Marsilia aus, der es auf Birkenrinden niedergelegt habe (Franz Ludwig Baumann: Forschungen zur schwäbischen Geschichte, Kempten 1899, S. 5). Solche Angaben über archaische Beschreibstoffe findet man auch sonst. Der Schwankbuchdichter Michael Lindener erfand einen Welfen-Historiker Atranus Gebula, dessen auf Bast geschriebene Historia er gefunden und vor dem Vermodern gerettet haben will (Michael Lindener: Wunderbarliche Hystoria von dem Ursprunge und namen der Guelphen [...], ohne Ort und Jahr (ca. 1560), Bl. A2v. Digitalisat MDZ; Hinweis bei Jenny: Zimmern S. 166). Um 1600 verfasste der württembergische Chronist Jakob Beyrlin eine Reihe von “Lügenchroniken”, für deren Wahrheit er eine ganze Reihe erfundener Historiker ins Feld führte. Die frühesten dieser Quellen sollen “auf rinden” geschrieben gewesen sein (Michael Klein: Formen epigonaler Verwertung humanistischer Schriften und ihr Publikum. Die ‘Lügenchroniken’ des Jakob Beyrlin (1576 bis nach 1618), in: Kurt Andermann (Hrsg.): Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1988, S. 247-273, hier S. 266.). In Polen wollte man wissen, ein gewisser Zborowski habe im 16. Jahrhundert eine auf Birkenrinde geschriebene uralte Chronik in einer Säule gefunden (Alfred von Gutschmid: Über die Fragmente des Pompejus Trogus und die Glaubwürdigkeit ihrer Gewährsmänner, in: Jahrbücher für classische Philologie. Supplementbd. 2 (1856/57), S. 177-282, hier S. 280 nach Józef Maksymilian Ossoliński: Vincent Kadłubek, ein historisch-kritischer Beytrag zur slavischen Literatur. Aus dem Polnischen von Samuel Gottlieb Linde, Warschau 1822, S. 352, der aber keine Quelle angibt). Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg (1528-1589) schätzte Bücher auf Birkenfasern und -rinde als besonders wertvolle Antiquitäten (“alten monumentis”), denn er bat Albrecht Friedrich von Preußen um solche (Nadezka Shevchenko: Eine historische Anthropologie des Buches. Bücher in der preußischen Herzogsfamilie, Göttingen 2007, S. 131).
Keinen guten Namen haben die historiographischen Produkte des 1521 gestorbenen Zwickauer Humanisten Erasmus Stella. Er behauptete, man habe in einem Dorf bei Zwickau auf einer Bleitafel die Grabinschrift einer Schwanhildis gefunden, der angeblichen Tochter des von Stella erfundenden Zwickauer Gründers Cygnus, eines Sohns von Hercules. Die lateinische Grabinschrift sollte mit dunklen prophetischen Worten Eindruck machen (Hans Joachim Schoenborn: Lebensgeschichte und Geschichtsschreibung des Erasmus Stella. Ein Beitrag zur Geschichte des gelehrten Fälschertums im 16. Jahrhundert, Diss. Königsberg, Düsseldorf 1938, S. 45f.).
Die Verbindung von Bücherfund und Prophezeiung begegnet ebenfalls in Neapel am Ende des 15. Jahrhunderts (Speyer S. 103-105). Einem Priester sei der hl. Cataldus von Tarent erschienen und habe ihn aufgefordert, ein Buch mit Prophezeiungen, das er vergraben habe, auszugraben und dem König zu überbringen. Tatsächlich habe sich das mit Bleitafeln bedeckte und mit einem Schlüssel verschlossene Buch an dem genannten Versteck vorgefunden. Die Entlarvung der Affäre liefert der Humanist Giovanni Pontano, der eine abweichende Version der Geschichte berichtet. Da der König Ferdinand sich von einem ungebildeten Frater Franciscus Hispanus nicht zu Judenverfolgungen überreden ließ, habe dieser bei Tarent eine Bleitafel verborgen. Er sorgte dafür, dass die angebliche Cataldus-Tafel, auf der in dunkler Rede dazu aufgerufen worden sei, die Juden zu vertreiben, aufgefunden wurde. Aber der König habe den Trug durchschaut.
Die Auffindungsgeschichte folgt einem lokalen Muster, denn schon im 13. Jahrhundert hatte man nach dem Zeugnis von Gervasius von Tilbury bei Neapel das Grab Vergils samt einer darin verborgenen Schrift in ähnlicher Weise aufgefunden (Speyer S. 101f.).
Wolfgang Speyer gibt dazu eine allgemeine Einordnung: “Man veranstaltete und erschwindelte Auffinden zunächst heiliger, später auch profaner Schriften, um dadurch bestimmte Wünsche und Absichten schnell und sicher durchzusetzen. So entstanden Fälschungen in Gestalt religiöser Urkunden” (S. 19). Diese Stiftungsurkunden sozialer Praktiken hat der Altphilologe G. S. Kirk, einer Begriffsbildung des Ethnologen Bronislaw Malinowski folgend, in seiner Mythendeutung als “Charter” bezeichnet (Geoffrey Stephen Kirk: Griechische Mythen. Ihre Bedeutung und Funktion. Aus dem Englischen von Renate Schein, Berlin 1980, S. 31 und 305 (Register)). Buchauffindungsgeschichten oder Codexmythen liefern also Begründungen, die von der Strahlkraft des Ursprungs zehren.
III Genealogische Fälschungen
Der Herold Georg Rüxner, den wir inzwischen auch als Jörg Rugen, Jörg Jerusalem und Jörg Brandenburg kennen (Klaus Graf: Herold mit vielen Namen. Neues zu Georg Rüxner alias Rugen alias Jerusalem alias Brandenburg alias ..., in: Ritterwelten im Spätmittelalter. Höfisch-ritterliche Kultur der Reichen Herzöge von Bayern-Landshut, Landshut 2009, S. 115-125 mit Belegen auch zum folgenden), war der vielleicht einflussreichste genealogische Fälscher aller Zeiten. Berüchtigt ist sein erstmals 1530 gedrucktes Turnierbuch, das dem Turnierwesen eine erfundene Ursprungsgeschichte verpasste und das mit seinen erfundenen Listen von Turnierteilnehmern zu einer genealogischen Bibel aristokratischer Kreise wurde.
In der Einleitung zu seinem Turnierbuch wendet sich Rüxner gegen den von Marx Würsung 1518 veranstalteten Druck der Turnierbuchchronik, dem er Fehler gegenüber dem ihm, Rüxner, allein bekannten, rechten Original vorwirft. Bereits im 16. Jahrhundert erregte die nun folgende Geschichte Anstoß: Er beruft sich auf einen Magdeburger Vikar Johann Kirchberger, der ihm dieses alte Buch ins Hochdeutsche übersetzt habe. Rüxner wollte nicht, dass jemand anderes Zugriff auf das Buch habe. Daher habe der Vikar es vor seinen Augen ins Feuer geworfen.
Rüxner, der als Genealoge auch sonst mit Quellenfiktionen arbeitete, beanspruchte also die exklusive Kenntnis des natürlich fiktiven Magdeburger Originals für sich. Er hoffte natürlich, mit der Verlustgeschichte lästigen Nachfragen nach den Quellen seiner Kenntnisse über die alten Turniere zu entgehen (so schon Aegidius Tschudi 1541, vgl. Schreiben des berühmten Gilg. Tschudis an Hrn. Nikl. Briefer, Decan zu St. Peter zu Basel, über Rüxners Turnierbuch, in: Der Schweizerische Geschichtsforscher 2 (1817), S. 419-424, hier S. 422).
Rüxner hatte durchaus Anlass, über das Würsungsche Turnierbuch verärgert zu sein, denn was über einen Salzburger Adeligen in die Augsburger Druckerpresse gelangt war, war sein eigenes Werk, die Turnierchronik, die er unter dem Namen Jörg Rugen spätestens 1494 verfasst hatte.
Gemäß dem französischen Sprichwort “mentir comme un généalogiste” war die Genealogie (vgl. Gerrit Walther/Klaus Graf: Genealogie, in: Enzyklopädie der Neuzeit 4 (2006), Sp. 426-432) zu allen Zeiten eine Brutstätte von Fälschungen. Mein nächstes Beispiel zeigt, wie im 16. Jahrhundert eine mittelalterliche Handschrift zur größeren Ehre einer oberpfälzischen Adelsfamilie manipuliert wurde (der folgende Abschnitt stützt sich vor allem auf die Materialpräsentation von Ludwig Rockinger: [Zur Abfassungszeit des Schwabenspiegels], in: Sitzungsberichte der königl. bayer. Akademie der Wissenschaften zu München 1867, Bd. 2, S. 408-450; Derselbe: [Über die Familie von Präckendorf], in: ebenda 1868 Bd. 1, S. 152-197, besonders S. 168f. (Aufzeichnung zum 13. Jahrhundert aus dem Cgm 2298, Hundts Stammenbuch Bd. 3). Bereits Georg von Wyss: Rüdger Maness, ein Rechtskundiger, in: Anzeiger für Schweizerische Geschichte NF 1 (1870/73), S. 21-24, 49-53, hier S. 50 hielt die Erzählung “durchaus nicht für authentisch”. Zum Cgm 38: . Diese Handschrift liegt in einem mäßigen Schwarzweiß-Digitalisat vor: Kreuzigungsdarstellung. Elisabeth Wunderles Beschreibung des Cgm 5335 enthält ein ausführliches Zitat zur Besitz-Fiktion).
In eine Schwabenspiegelhandschrift des 15. Jahrhunderts (heute in der Bayerischen Staatsbibliothek: Cgm 5335) wurden Stellen einer verlorenen älteren Pergamenthandschrift aus dem 13. Jahrhundert eingetragen, die nach authentisch wiedergegebenen mittelhochdeutschen Versen dem bekannten Ritter Rüdiger Manesse von Zürich aus dem 13. Jahrhundert gehörte. Problematisch ist lediglich der ebenfalls kopierte Besitzvermerk, mit dem sich offenbar im 16. Jahrhundert die erst im 14. Jahrhundert urkundlich belegbaren Preckendorfer in die Geschichte des Pergamentcodex fiktiv einschmuggelten. In Ich-Form bezeugt ein Heinrich der Preckendorfer, das Buch von einem Züricher Ritter und Bürger erhalten zu haben, als er 1264 bis 1268 in Diensten Graf Rudolfs von Habsburg stand. Auf der Rückseite des betreffenden Blatts befand sich eine Miniatur dieses Heinrich mit seinem Wappen, die ihn in Rüstung vor einem Kruzifix kniend zeigt. Die darunter befindlichen Verse verweisen ebenfalls in Ich-Form auf Heinrichs Kriegstaten und berufen sich - wie schon der Besitzvermerk - abschließend auf ein von ihm verfaßtes "raysbuch", also eine Aufzeichnung über seine Kriegstaten. Genealogische Aufzeichnungen aus dem Ende des 16. Jahrhunderts über die Preckendorfer in einer anderen Handschrift (Band 3 von Wiguleus Hundts Stammen Buch, Cgm 2298) kennen die beiden angeblich auf Heinrich zurückgehenden Texte ebenfalls. Im Besitz der Preckendorfer war eine Handschrift mit Konrads von Megenberg "Buch der Natur" (Cgm 38), in die Familiennotizen des Geschlechts eingetragen wurden und die offenkundig das gleiche Bild wie die verlorene Pergamenthandschrift enthält, einen knieenden Ritter vor dem Kruzifix. Nur wird es in der Megenberg-Handschrift als Darstellung eines Stefan von Preckendorf mit beigegebener Jahreszahl 1389 ausgegeben.
In Frage steht für mich auch die Authentizität des sogenannten Familienbuchs der Herren von Eptingen (Ausgabe: Dorothea A. Christ: Das Familienbuch der Herren von Eptingen. Kommentar und Transkription, Liestal 1992), das in der neueren Forschung wiederholt als faszinierende und weitgehend singuläre Quelle zur spätmittelalterlichen Adelskultur, für Heraldik und Turnierwesen herangezogen wurde. Dass die reich illustrierte Handschrift aus dem Jahr 1627 aber tatsächlich auf einen einzigen spätmittelalterlichen Codex zurückgeht, erscheint mir höchst zweifelhaft.
Ähnlich verhält es sich auch mit den Aufzeichnungen eines Wenzel Gruber, angeblich Diener der Herren von Trenbach (auch als Trenbecken bekannt) und später Benediktiner in Scheyern aus dem 15. Jahrhundert. Auszüge sind überliefert in einer prächtig ausgestatteten Familienchronik, die auf den Passauer Bischof Urban, selbst ein Angehöriger des Geschlechts, zurückgeht. Dort wird auch wörtlich die Vorrede des Wenzel Gruber wiedergegeben (Abdruck der Vorrede: Chronik der Herren Trenbeckhen von Trennbach, in: Heraldisch-genealogische Zeitschrift. Organ des [...] Adler in Wien 2 (1872), S. 74-76 (und weitere), hier S. 74f. Zur angeblichen Chronik Wenzel Grubers vgl. auch Hans-Dieter Mück: Zur Verfasserschaft der sog. “Greisenklage”, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 3 (1984/85), S. 267-278. Für leider vergebliche Versuche, ein nach Auskunft des Archivs 2006 bereits angefertigtes Digitalisat der Chronik - Niederösterreichisches Landesarchiv F-2-5 - zu beschaffen, möchte ich Volkhard Huth danken). Bereits die Quellenliste des antiquarischen Typs - genannt werden versiegelte Briefe, alte Register, Totenbücher, alte und neue Grabsteine sowie ein altes Pergamentbüchlein - zeigt, dass ein Anachronismus vorliegt. Wenn es zutrifft, was Wiguleus Hund aus Wenzel Gruber - ich habe die Handschrift der Trenbecken-Chronik im niederösterreichischen Landesarchiv nicht eingesehen - zur Teilnahme eines Familienmitglieds auf dem Zürcher Turnier 1165 referiert, so ist der Fälschungsnachweis geführt, denn dieses Turnier hat erst Rüxner erfunden.
Bezeichnend ist, dass die fingierte Vorrede des Wenzel Gruber ihrerseits eine Quellenfiktion aufweist: das alte Pergamentbüchlein, das der Autor von einem Schwaben erhalten haben will und das nach seinen eigenen Angaben höchst inhaltsreich gewesen ist. Also ein Codexmythos in einem Codexmythos.
Für Genealogen war es besonders wichtig, Lücken zu füllen und mit ihren Stammtafeln möglichst weit zurückzukommen. Mit ihren Codexmythen entsprachen sie der Erwartung, dass historische Erkentnisse sich auf zuverlässige Quellen zu stützen hatten. Im Fall der Preckendorfer und der Eptinger kam noch hinzu, dass man sich greifbare ritterliche Altertümer wünschte. Während die Preckendorfer eine alte Handschrift ergänzten, fabrizierten die Eptinger im 17. Jahrhundert ein spätmittelalterliches Familienbuch in Kopie.
IV Kloster Lorch, Hort geheimnisumwitterter Handschriften
Alte Klosterbibliotheken eigneten sich vorzüglich, wenn es galt alte Manuskripte zu fingieren (und zwar schon lange vor Umberto Ecos “Name der Rose”). So wurden in der Chronik der Truchsessen von Waldburg zwei erfundene frühmittelalterliche Adelslisten auf eine alte Chronik in St. Emmeram zu Regensburg und ein altes Messbuch im Kloster Murrhardt zurückgeführt (Baumann: Forschungen S. 95, 99).
Bei der Aufarbeitung der Staufer-Überlieferungen des Klosters Lorch bei Schwäbisch Gmünd konnte ich feststellen, dass historische Traditionsbildung und der Bewertungsprozess der Kulturgutbewahrung eng korreliert waren (Klaus Graf: Staufer-Überlieferungen aus Kloster Lorch, in: Sönke Lorenz u. a. (Hrsg.): Von Schwaben bis Jerusalem. Facetten staufischer Geschichte, Sigmaringen 1995, S. 209 - 240). Und ich traf dort eine ganze Reihe frühneuzeitlicher Spekulationen über alte Lorcher Quellen an. Uns bereits bekannt ist Froben Christoph von Zimmern, zu dessen Quellenfiktionen auch ein Lorcher Mönch Gregor von Lustnau gehört. Der Literat Jakob Frischlin, Bruder des berühmten Nikodemus Frischlin, berief sich in einer 1612 gedruckten Komödie auf eine offenbar fingierte Chronik eines Lorcher Mönchs und bei der Beschreibung der Hochzeit Herzog Ulrichs ebenfalls auf einen Frater Janus von Lorch. Nach dem lateinischen Widmungsbrief könnte Janus Name eines poetischen Rollen-Ichs von Frischlin sein (Graf: Staufertraditionen, S. 170. Auch hier möchte ich Felix Heinzer für seine Hilfe danken).
Dies deutet darauf hin, dass ein literarisches Spiel, also eine Codexphantasie vorliegt. Es spricht aber vieles dafür, den Begriff Phantasie weiter zu fassen und die ohnehin problematische Trennung von Codexmythen und Codexphantasien aufzuheben. In einem Beitrag über Ursprungserzählungen habe ich vorgeschlagen, die Narrativität dieser Überlieferung ernstzunehmen und das “kreative Spiel mit Erzählschemata und Erzählmotiven” als Ursprungsphantasie zu bezeichnen (Klaus Graf: Ursprung und Herkommen. Funktionen vormoderner Gründungserzählungen, in: Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.): Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg 2001, S. 23-36, hier S. 28f.). Das erscheint mir auch hier sachgerecht. Während der Begriff Mythos den fundierenden Charakter der Quellenfiktionen und Fundgeschichten unterstreicht, hebt der Begriff Phantasie auf das kreative und narrative Potential der Geschichten ab. Es geht nicht darum, unreflektiert einen modernen Unterhaltungsbegriff zurückzuprojizieren, aber wer die unterhaltsamen Aspekte historiographischer Fiktionen, also das intellektuelle Vergnügen, das die Lektüre narrativ ambitionierter Texte mit sich brachte, vernachlässigt und ihren Legitimations-Charakter in den Mittelpunkt stellt, interpretiert die Zeugnisse allzu einseitig.
Ohnehin ist es schwer, das Augenzwinkern des Erzählers, der einen ebenso souveränen Leser voraussetzt, der in der Lage ist, die Quellenfiktion zu durchschauen, methodisch plausibel zu belegen. Wo verläuft die Grenze zwischen fiktionalen literarischen Texten, in denen die beglaubigende Quellenberufung Teil des Spiels ist, und der Historiographie mit ihrem strikten Wahrheitsanspruch?
Die um 1500 fassbare lateinische Gründungserzählung des schwäbischen Dorfs Dagersheim beruft sich auf eine Quelle: “ex libro quod in vulgari dicitur das Salbuoch aller teutscher Landen” (Roman Janssen: “Der Sinn ist funden”. Anmerkungen zur Dagersheimer Gründungssage oder wie sich Legenden bilden, in: Roman Janssen (Hrsg.): “Der Sinn ist funden”. Neue Entdeckungen und Darstellungen zur Herrenberger Geschichte, Sigmaringen 1997, S. 47-62, hier S. 49). Roman Janssen hält den Text für eine Humoreske und einen Gelehrtenscherz, bei dem Hinweise für “Kundige” eingebaut worden seien. Das mysteriöse Salbuch aller deutschen Lande wäre demnach mehr Codexphantasie als Codexmythos. Ich bin zwar nicht völlig überzeugt, aber das Beispiel verdeutlicht das methodische Problem.
Historiker, die ihr Publikum mit staubtrockenen Fußnoten-Halden langweilen, geraten selten in Versuchung, zu fälschen. Begnadete Erzähler sind dagegen stets gefährdet, die Grenze zum historischen Roman zu überschreiten. Eine bemerkenswerte Quellenfälschung des späten 20. Jahrhunderts - man darf sie wohl in das Jahr 1977 datieren - stammt von einem solchen Ausnahmetalent. Pünktlich zur Stauferausstellung 1977 verblüffte mein Doktorvater Hansmartin Decker-Hauff die Fachwelt mit geretteten Exzerpten zur frühen staufischen Genealogie, die aus dem im zweiten Weltkrieg verschmorten Roten Buch des Klosters Lorch und dem sogenannten Codex Holtz stammen sollten (Hansmartin Decker-Hauff: Das staufische Haus, in: Die Zeit der Staufer, Bd. 3, Stuttgart 1977, S. 339-374. Zur Kritik: Graf: Staufertraditionen, S. 171; Derselbe: Staufer-Überlieferungen; Mythos Staufer; Gerhard Lubich: Auf dem Weg zur “Güldenen Freiheit”. Herrschaft und Raum in der Francia orientalis von der Karolinger- zur Stauferzeit, Husum 1996, S. 172f.). Damit griff Decker-Hauff auf die frühneuzeitlichen Lorcher Codex-Phantasien zurück, denn im 17. und 18. Jahrhundert zitierten württembergische Historiographen ein altes Manuskript, verfasst von einem Lorcher Prior, das sich im Besitz des Generals von Holtz befunden haben soll. Nach Decker-Hauff fertigte sein Vorfahr, der Schorndorfer Burgvogt Hans Hauff Auszüge daraus an. Dieser ist übrigens auch einer der Urheber des Hauffschen Epitaphienbüchleins, einer ominösen Quelle im Familienarchiv Decker-Hauff, die freilich nie jemand zu Gesicht bekommen hat. Sehr wohl einsehbar ist das Lorcher Rote Buch, ein um 1500 angelegtes Kopialbuch, nach sorgfältiger Restaurierung wiedererstanden wie Phoenix aus der Asche. Obwohl schmerzhafte Textverluste zu beklagen sind, kann man ausschließen, dass die von Decker-Hauff angeblich aus ihm exzerpierten Texte jemals in ihm eingetragen waren.
Da Decker-Hauffs Lorcher Quellenfälschung seine genealogischen Aufstellungen absichern sollten, ist er ein später Nachfahre der genealogischen Fälscher der frühen Neuzeit. Hätten wir Aufzeichnungen seiner unzähligen Vorträge und Vorlesungen, in denen er immer wieder die Grenzen der nüchternen Faktendarstellung zugunsten phantasievoller Ausschmückungen überschritt und die wundersame Rettung alter Überlieferungen inszenierte, könnte man den historiographischen Codexphantasien ein farbiges Kapitel aus der Gegenwart hinzufügen.
#forschung
Zitierempfehlung: Klaus Graf: Codexmythen und Codexphantasien. In: Archivalia vom 31. März 2013. Online: http://archiv.twoday.net/stories/326528152/ (Archivversion: http://www.webcitation.org/6FYhKFmwH )
Druckfassung: Klaus Graf: Codexmythen und Codexphantasien. In: Codex und Geltung. Hrsg. von Felix Heinzer/Hans-Peter Schmit (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 30). Wiesbaden 2015, S. 15-28. Zitiert werden kann auch obige Fassung, da sie alle Nachweise enthält und durch die Links einen Mehrwert bietet. Zu Wenzel Gruber: In Fußnote 37 ist der Dank an Huth ersetzt worden durch den Nachtrag: Klaus Graf: Fiktion und Geschichte: Die angebliche Chronik Wenzel Grubers, Greisenklage, Johann Hollands Turnierreime und eine Zweitüberlieferung von Jakob Püterichs Ehrenbrief in der Trenbach-Chronik (1590). In: Frühneuzeit-Blog der
RWTH vom 10. Februar 2015
http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1847
KlausGraf - am Sonntag, 31. März 2013, 01:50 - Rubrik: Geschichtswissenschaft
KlausGraf meinte am 2014/05/12 23:12:
Ergänzung zum Motiv der alten Handschrift
http://archiv.twoday.net/stories/876866365/
KlausGraf meinte am 2015/01/26 23:04:
Ergänzung zum Beschreibstoff Birkenrinde
http://archiv.twoday.net/stories/565871824/
KlausGraf meinte am 2015/01/26 23:06:
Ergänzung zu den Handschriften der Preckendorfer
Gotha Chart. A 689 hat ebenfalls einen Preckendorfer-Eintraghttp://www.manuscripta-mediaevalia.de/hs/projekt-Gotha-pdfs/Chart_A_689.pdf