Müll aus der Klosterbibliothek : Bücherschätze im Altpapier / SZ vom 23. Februar
Was ist ein wertvolles Buch? Angenommen, ein Buch ist ab 100 Euro wertvoll, dann hätten die Kapuziner ihre 300 000 Bücher für mindestens 30 Millionen Euro verkaufen können. Offensichtlich fand sich kein Käufer, und so wurden die Bücher 1999 der Universität Eichstätt geschenkt. Sieht man von einigen tausend Titeln ab, so dürfte die Masse dieser Bettelordensbibliothek wertlos gewesen sein: zerschlissene Gesangbücher, vergilbte Unterhaltungsliteratur.
Dass dieser Büchermüll dann von der Universität entsorgt wurde, ist eine bibliothekarische Selbstverständlichkeit. Schließlich kostet die Inventarisierung und Katalogisierung eines Titels durchschnittlich 20 Euro. Eine andere Frage ist allerdings, warum die Universität Eichstätt diesen "Bücherschatz" überhaupt angenommen hat. Der dafür zuständige frühere Bibliotheksdirektor behauptet nun, "jeder einzelne der 300 000 Bände sei erhaltungswürdig gewesen". Er habe sie vor dem Transport nach Eichstätt selber gesichtet. Wie das? Wenn der Bibliotheksdirektor jeden Band nur zehn Sekunden in die Hand nahm, dann musste er 833 Stunden, also ein halbes Arbeitsjahr, mit der Sichtung zubringen. Kurzum: eine dubiose Geschichte, die vermutlich mehr mit Personen zu tun hat als mit Büchern.
Prof. Helmut Berschin, Regensburg
Mit freundlicher Genehmigung Prof. Dr. Helmut Berschin
http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:Hungary_Eger_Library.jpg
Berschin braucht über 16 Minuten, um zu entscheiden, dass diese 100 Bücher nichts für den Mülleimer sind. Ich habe dafür 1 Sekunde gebraucht.
http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg32665.html
Zur aktuellen Diskussion über die Uni-Bibliothek:
Der Wellenschlag um die Geschichte von den entsorgten Büchern der Eichstätter Universitätsbibliothek hat nunmehr Dimensionen erreicht, die nicht nur das Interesse der überregionalen Medien erregen, sondern sogar staatsanwaltliche Ermittlungen ausgelöst haben.
Neben dem kulturhistorischen Aspekt der Affäre geht es allerdings auch um enorme Summen, und zwar am allerwenigsten um den antiquarischen Wert der Folianten, sondern vor allem um den gewaltigen Aufwand von Arbeitskraft qualifizierter Fachleuchte, die die Sichtung Katalogisierung und Archivierung tausender Bände erfordert – pro Band etwa 20 Euro, wie von kompetenter Seite angegeben wird. Hier darf sich der Steuerzahler durchaus fragen, ob die Acquisition von Wagenladungen skandinavischer medizinischer Dissertationen oder der Erbauungstraktate eines akademisch eher unambitionierten Bettelordens für die Forschung an der Universität Eichstätt unentbehrlich ist oder ob hier eventuell Bibliomanie das Konzept einer Forschungsbibliothek konterkariert und sie zum Archiv und Antiquariat umfunktioniert hat.
Dass es Einzelpersonen offenbar möglich ist, über den Sommer zu disponieren, was ansonsten Universitätsgremien semesterlang beschäftigt, ist erstaunlich.
Vorerst jedenfalls scheint das Endlager Eichstätt für schwach ausstrahlendes Material geschlossen zu sein.
Dr. Rainer Schmidt, Eichstätthält sich offenbar hartnäckig. Christian Schweizer, Provinzarchivar der Schweizer Kapuziner, schreibt uns in einer Mail vom 23.02.2007:
"Der Gehalt der Kapuzinerbibliotheken ist aber nicht so ausgerichtet, wie das bisher pauschalisiert wird. Die Bibliotheken der Minderbrüder Kapuziner, jedenfalls zumindest in der Schweiz, sind kompetente Aufbewahrungsorte von Expertenwissen, und zwar nicht nur von und über Aberglauben und Magie, sondern von Homiletik, Apologetik, Kirchengeschichte und “Naturgeschichte”, darunter sogar von Physiklehrbüchern aus dem eigenen Orden! Unter den Autoren des Franziskanerordens gibt es Bücher wie z.B. “Armamentarium Ecclesiasticum” eines P. Fr. Ubaldus Stoiber von Augsburg 1726, oder ein naturwissenschaftliches Elementarbuch mit Gebrauchsvermerken des Luzerner Kapuziners Clemens Prutschert (1762-1835), oder die auf dem Index gestandenen Naturalienbücher des Galileo Galilei mit Gebrauchsvermerken “ad usum scholae” der Kapuziner für deren Klosterschule in Stans etc. etc."
"Das Klischee des volkstümlich ungelehrten Kapuziners" werde durch ihre reichhaltigen Bibliotheken, ihre strenge Studienordnung und die fachliche Kompetenz vieler ihrer ortseigenen Professoren widerlegt, unterstrich auch Hanspeter Marti, Leiter der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Engi (Schweiz) und eine Autorität der Bibliotheksgeschichte der Schweiz und insbesondere der Kapuzinerbibliotheken, anläßlich der 400-Jahrfeier des Kloster Sursee. Er bearbeitet die Historischen Buchbestände der Deutschschweiz und hat auch die Surseer Klosterbibliothek inventarisiert (vgl. HBCH, Kapitel Sursee). Weiteres siehe unsere Bibliographie mit den bereits eingebauten Ergänzungen von Christian Schweizer.
Nochmals Christian Schweizer: "Dann gab es betreffend Kulturgüter Kapuziner zwei wissenschaftliche Workshops der Provinzarchivaren und Provinzbibliothekare der Kapuziner Deutschlands, Österreichs und der Schweiz mit Einbezug der Kapuziner Tschechien (ehemalige Böhmische Ordensprovinz, heute Tschechische Ordensprovinz), Frankreichs (Ordensprovinz Elsaß-Lothringen) 2003 in Luzern und 2005 in Innsbruck, darüber Dokumentation und Bericht von Manfred Massani und Christian Schweizer ...", online unter
http://www.kapuziner.at/zentralbibliothek/workshops.htm"Dies zeigt eine hohe Sensibilisierung der Kapuziner gegenüber ihren eigenen bzw. anvertrauten Kulturgütern und legt auch die Hoffnung an den Tag, daß die Öffentlichkeit sich des unbezahlbaren Erbes gehüteter Kulturgüter bewußt wird."
P.S.: Pater Dr. Leonhard Lehmann OFMCap (dessen Vortrag "Frömmigkeit und Wissen. Rheinisch-Westfälische Bibliotheken der Kapuziner vor der Säkularisation." zur Eröffnung der Münsteraner Wanderausstellung von 2003 online zu finden ist,
http://miami.uni-muenster.de/servlets/DocumentServlet?id=679 )
wurde übrigens soeben zum Ordentlichen Professor an der Theologischen Fakultät der Päpstlichen Universität Antonianum ernannt, wo er seit vielen Jahren lehrt.