http://www.jungewelt.de/2007/03-08/021.php
Digital ist besser
Zerstörung im Namen der Innovation: Wie Bibliotheken ihre Archivbestände entsorgen
Von Thomas Ristow
Auch im Bibliotheks- und Archivwesen sind Schlagworte wie Effektivität, Innovation oder Wettbewerb seit langem beliebt. Das Alte wird mit ihnen als Hindernis bei der Entfaltung des Neuen begriffen, folglich entwertet, vernachlässigt oder zerstört. Die Innovation ist die Mutter der Wettbewerbsfähigkeit, auch die der herbeiphantasierten. Innovationen haben immer einen Preis, dieser Preis kann beschönigend mit dem Schumpeterschen Begriff der »schöpferischen Zerstörung« gefaßt werden.
Ein Beispiel: Im Jahre 2003 empfahl der sächsische Landesrechnungshof dem Freistaat, seine jahrhundertealten Archive zu digitalisieren und anschließend mehrheitlich zu entsorgen. Ein laut Prognose ständig wachsender Magazin- und Mittelbedarf der Staatsarchive war der Grund für diese Empfehlung. Von mehreren Seiten wurde daraufhin eingewandt, daß eine umfassende Digitalisierung keineswegs kostengünstiger, sondern teurer sein würde als die Originalbewahrung – vom Verlust der Originale ganz abgesehen. Wenn der Landesrechnungshof auf der Höhe der Zeit gewesen wäre, hätte er statt der Vermüllung die Versteigerung der Bestände vorgeschlagen.
Kein Tabu mehr
Im Herbst 1999 hat zum Beispiel die British Library eine umfangreiche Sammlung älterer ausländischer Zeitungen in einer Auktion verscherbelt. Wer in Nicholson Bakers kurzweiligem, gewissenhaft recherchierten Buch »Der Eckenknick« über die »Büchermassaker im elektronischen Zeitalter« blättert, wird feststellen: Die sächsischen Verwaltungsbeamten hätten sich auf renommierte in- und ausländische Vorreiter berufen können. 1996 trug Hartmut Weber, Präsident des Koblenzer Bundesarchivs, auf einer Konferenz mit dem Thema »Choosing of Preserve« vor, daß das Ziel konservatorischer Maßnahmen durchaus darin bestehe, die »langfristige Zugänglichkeit von Kulturgut« sicherzustellen. Weber erklärte aber auch, daß eine nachträgliche Kassation (Vernichtung von Unterlagen) übernommener Bestände »kein Tabu sein« darf.
Überall werden wertvolle Inkunabeln und einzigartige Drucke aus Kirchenbibliotheken und Landesarchiven veräußert. Ein beispielhafter Fall ist die hastig angeordnete Abwicklung von geringgeschätzten Beständen einer Klosterbibliothek, die der Bibliotheksleiterin Angelika Reich an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt überantwortet wurde. Flott landeten hier mehrere Tonnen Bücher aus Kapuziner-Archiven im Müll. Reich hatte schon früher, nach einem Verkauf von 3000 Schallplatten aus einem Nachlaß an ein Leipziger Antiquariat, extravagante Begründungen parat: »Geschenkt ist geschenkt, und mit Geschenken kann die Bibliothek machen, was sie will.« (Donaukurier vom 15. Februar)
Obwohl Universitätskanzler Gottfried Freiherr von der Heydte der Reich den Rücken freihielt, indem er die Vorwürfe als »gegenstandslos« zurückwies, hat der Stiftungsvorstand der Universität ihr die Verfügungsgewalt über die Kapuziner-Bestände mittlerweile entzogen. Gegen Reich und von der Heydte ist Strafanzeige erstattet worden (Donaukurier vom 23.Februar).
Daß die Vernichtung von rund 80 Tonnen Büchern aus Kapuziner-Archiven auch in überregionalen Medien Beachtung fand, ist der unterschiedlichen Bewertung dieser kirchenhistorischen Trouvaillen geschuldet. Es handelt sich dabei nur um die Spitze der allgemeinen Entsorgungsaktivitäten in der Bibliotheksszene.
Komplette Sammlungen
In Weblogs ist immer wieder zu lesen, daß vor Universitäten kurzfristig Papiercontainer gesichtet werden, die mit Monographien oder Zeitschriften gefüllt sind. Zum Beispiel im November 2005 vor der Bibliothek der Berliner Humboldt-Universität: In dem Entsorgungscontainer fanden sich etliche Monographien sowie komplette Sammlungen in- und ausländischer Zeitschriften mit nicht unbeträchtlichem antiquarischen Wert. Solche Aktionen werden ohne Scham durchgezogen und sind wohl eher die Regel als die Ausnahme. Im Namen von Innovation, Geld- oder Platzmangel ist das Recycling von Archivbeständen per Papiercontainer oder Auktionator salonfähig geworden.
Digital ist besser
Zerstörung im Namen der Innovation: Wie Bibliotheken ihre Archivbestände entsorgen
Von Thomas Ristow
Auch im Bibliotheks- und Archivwesen sind Schlagworte wie Effektivität, Innovation oder Wettbewerb seit langem beliebt. Das Alte wird mit ihnen als Hindernis bei der Entfaltung des Neuen begriffen, folglich entwertet, vernachlässigt oder zerstört. Die Innovation ist die Mutter der Wettbewerbsfähigkeit, auch die der herbeiphantasierten. Innovationen haben immer einen Preis, dieser Preis kann beschönigend mit dem Schumpeterschen Begriff der »schöpferischen Zerstörung« gefaßt werden.
Ein Beispiel: Im Jahre 2003 empfahl der sächsische Landesrechnungshof dem Freistaat, seine jahrhundertealten Archive zu digitalisieren und anschließend mehrheitlich zu entsorgen. Ein laut Prognose ständig wachsender Magazin- und Mittelbedarf der Staatsarchive war der Grund für diese Empfehlung. Von mehreren Seiten wurde daraufhin eingewandt, daß eine umfassende Digitalisierung keineswegs kostengünstiger, sondern teurer sein würde als die Originalbewahrung – vom Verlust der Originale ganz abgesehen. Wenn der Landesrechnungshof auf der Höhe der Zeit gewesen wäre, hätte er statt der Vermüllung die Versteigerung der Bestände vorgeschlagen.
Kein Tabu mehr
Im Herbst 1999 hat zum Beispiel die British Library eine umfangreiche Sammlung älterer ausländischer Zeitungen in einer Auktion verscherbelt. Wer in Nicholson Bakers kurzweiligem, gewissenhaft recherchierten Buch »Der Eckenknick« über die »Büchermassaker im elektronischen Zeitalter« blättert, wird feststellen: Die sächsischen Verwaltungsbeamten hätten sich auf renommierte in- und ausländische Vorreiter berufen können. 1996 trug Hartmut Weber, Präsident des Koblenzer Bundesarchivs, auf einer Konferenz mit dem Thema »Choosing of Preserve« vor, daß das Ziel konservatorischer Maßnahmen durchaus darin bestehe, die »langfristige Zugänglichkeit von Kulturgut« sicherzustellen. Weber erklärte aber auch, daß eine nachträgliche Kassation (Vernichtung von Unterlagen) übernommener Bestände »kein Tabu sein« darf.
Überall werden wertvolle Inkunabeln und einzigartige Drucke aus Kirchenbibliotheken und Landesarchiven veräußert. Ein beispielhafter Fall ist die hastig angeordnete Abwicklung von geringgeschätzten Beständen einer Klosterbibliothek, die der Bibliotheksleiterin Angelika Reich an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt überantwortet wurde. Flott landeten hier mehrere Tonnen Bücher aus Kapuziner-Archiven im Müll. Reich hatte schon früher, nach einem Verkauf von 3000 Schallplatten aus einem Nachlaß an ein Leipziger Antiquariat, extravagante Begründungen parat: »Geschenkt ist geschenkt, und mit Geschenken kann die Bibliothek machen, was sie will.« (Donaukurier vom 15. Februar)
Obwohl Universitätskanzler Gottfried Freiherr von der Heydte der Reich den Rücken freihielt, indem er die Vorwürfe als »gegenstandslos« zurückwies, hat der Stiftungsvorstand der Universität ihr die Verfügungsgewalt über die Kapuziner-Bestände mittlerweile entzogen. Gegen Reich und von der Heydte ist Strafanzeige erstattet worden (Donaukurier vom 23.Februar).
Daß die Vernichtung von rund 80 Tonnen Büchern aus Kapuziner-Archiven auch in überregionalen Medien Beachtung fand, ist der unterschiedlichen Bewertung dieser kirchenhistorischen Trouvaillen geschuldet. Es handelt sich dabei nur um die Spitze der allgemeinen Entsorgungsaktivitäten in der Bibliotheksszene.
Komplette Sammlungen
In Weblogs ist immer wieder zu lesen, daß vor Universitäten kurzfristig Papiercontainer gesichtet werden, die mit Monographien oder Zeitschriften gefüllt sind. Zum Beispiel im November 2005 vor der Bibliothek der Berliner Humboldt-Universität: In dem Entsorgungscontainer fanden sich etliche Monographien sowie komplette Sammlungen in- und ausländischer Zeitschriften mit nicht unbeträchtlichem antiquarischen Wert. Solche Aktionen werden ohne Scham durchgezogen und sind wohl eher die Regel als die Ausnahme. Im Namen von Innovation, Geld- oder Platzmangel ist das Recycling von Archivbeständen per Papiercontainer oder Auktionator salonfähig geworden.
graupner meinte am 2007/03/09 09:30:
Nachkassation ist etwas anderes
Ich denke, man tut Herrn Weber unrecht, wenn man die von ihm in Erwägung gezogenen „Nachkassationen“ mit dem Entsorgen an sich wertvoller Bestände gleichsetzt. Im Fall der Nachkassation geht es um eine neue Bewertungsentscheidung darüber, ob bestimmte Unterlagen überhaupt und an sich archivwürdig, d.h. bewahrenswert sind; hier würden dann bei negativer Entscheidung auch nicht ersatzweise Digitalisatie angefertigt. So eine Neubewertung darf in der Tat kein Tabu sein (zu verschiedenen Aspekten sind via Archivschule Marburg zwei Transferarbeiten gefertigt worden), genausowenig wie natürlich das Aussondern aus Bibliotheksbeständen ein Tabu sein kann. Was hier angeprangert wird, ist ja das Digitalisieren von wertvollen Beständen, die dann dem Reißwolf übergeben werden sollen, bzw., im Fall Eichstätt, anscheinend das Wegwerfen ohne vorherige sorgfältige Bewertung); das aber hat mit Nachkassation im archivischen Sinne nichts zu tun – auch wenn unter Umständen angesichts eines miserablen Erhaltungszustandes des Originals dieses dem Verfall preisgegeben werden kann, falls die Restaurierung zu teuer ist. Letzteres wiederum ist eine „Ersatzverfilmung“ und (richtige) archivische Praxis.
KlausGraf antwortete am 2007/03/09 11:34:
Natürlich müssen Nachkassationen ein Tabu bleiben
Transferarbeiten stammen von Berufsanfängern und haben nicht die geringste Autorität.Angesichts des weiten Beurteilungsspielraums der Archivare bei Bewertungsentscheidungen ist es grundverfehlt, jeder Archivarsgeneration aufs neue die Entscheidung zu überlassen, was überlieferungswürdig ist.
Genau so verhielt es sich ja in Eichstätt. Die neue Bibliotheksdirektorin hat die Bewertungsentscheidung des Amtsvorgängers nicht im geringsten respektiert. Was er dankbar entgegengenommen hat, hat sie im Antiquariat oder im Altpapier entsorgt.
Für Nachkassationen gibt es im geltenden Archivgesetz keinerlei Rechtsgrundlage. Ist eine Bewertungsentscheidung - und sei es auch nur konkludent durch Bereitstellung zur Benutzung - gefallen, so ist damit ein Rechtsakt gesetzt, eine Widmung zur öffentlichen Sache ausgesprochen, die nicht zurückgenommen werden kann. Von einer förmlichen Übernahme geht auch das OVG MV in seinem im übrigen verfehlten Urteil aus, unkorrigierter E-Text vorläufig unter
http://de.wikisource.org/wiki/Benutzer:Joergens.mi/test/t8
graupner meinte am 2007/03/09 12:20:
Nachkassationen
Transferarbeiten stammen von erwachsenen und wissenschaftlich ausgebildeten Leuten; wie alle anderen wissenschaftlichen Schriften beziehen sie Autorität nur aus der Schlüssigkeit ihrer Argumentation, nicht aus dem Status ihrer Verfasser (an der Universität wird das manchmal vergessen). Die eine Arbeit ist zu finden unter: http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/detail.php?template=hp_artikel&id=6327&id2=4956&sprache=de.Angesichts dessen, was von Archiven oft aus Faulheit zur Bewertung und aus großzügiger „wir nehmen alles“- und „je mehr desto wichtiger sind wir“-Mentalität übernommen wurde, ist Nachkassation im Einzelfall durchaus geboten. Auch die Archivgesetze stehen dem nicht überall entgegen (s. die Arbeit von Hanke, S. 19 f., mit Verweis auf Polley), genausowenig wie der Status der „öffentlichen Sache“; natürlich darf eine öffentliche Sache unter Umständen veräußert oder vernichtet werden.
KlausGraf antwortete am 2007/03/09 12:38:
Fragwürdige Gesetzesauslegung
Es ist reine juristische Akrobatik, aus dem Gesetzeswortlaut der Archivgesetze eine Haltung der Gesetzgeber zur Nachkassation herauslesen zu wollen. Und die Arbeit von Hanke kannte ich bereits vor Ihrem belehrenden Hinweis sehr gut. Sie ist nicht im geringsten überzeugend. Erwachsene und wissenschaftlich ausgebildete Leute werden nicht von ungefähr nochmals einer wissenschaftlichen Ausbildung unterzogen, sie bleiben Berufsanfänger.