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Das folgende ist eine durch Zurverfügungstellung eines kostenfreien Rezensionsexemplars gekaufte Rezension von:

Günter Schuler, Wikipedia inside. Die Online-Enzyklopädie und ihre Community. UNRAST-Verlag Münster 2007. 280 S. 18 Euro
http://www.unrast-verlag.de/unrast,2,248,7.html

Ein Wikipedia-Benutzer regt sich auf seiner Benutzerseite kräftig auf über diese Neuerscheinung: "In eigener Sache: Das gerade erschienene Buch "Wikipedia Inside" (2007) von Günter Schuler halte ich für überaus schlecht recherchiert, ideologisch verblendet, denunziatorisch und letztlich beleidigend gegenüber zahlreichen Wikipedia-Benutzern."

Auch die Kommentare in Finanzers Blog sind sich weitgehend einig:
http://www.finanzer.org/blog/index.php/2007/09/12/wikipedia-inside/#comments

Als Wikipedia-Renegat bzw. als jemand, der seine Mitarbeit aufs Eis gelegt hat (und meist nur noch als IP in kleinem Umfang mitarbeitet), bin ich genauso befangen wie die Gegenseite, deren Bunkermentalität (die Wikipedia gegen den Rest der Welt) nicht zum ersten Mal zutagetritt.

Ich habe das Buch überraschend gern gelesen. Es ist verständlich und locker geschrieben und vermittelt Außenstehenden eine Menge zutreffender Einblicke in eines der wichtigsten Medienprojekte.

Natürlich hat es auch (vermeidbare) Mängel.

Wenn schon auf der zweiten Seite des Vorworts ein das/dass-Fehler vorkommt, bin ich gewarnt. Kleinere Patzer häufen sich; da Schuler personalisiert und Namen nennt, will ich es auch tun: Willi Bischof, der im Vorwort gelobte Lektor, hätte seinen Job besser machen sollen. Die "Putztruppe" der Wikipedia hätte auch diesem Buch gut getan (zu ihr S. 17, weiter unten steht dann passend dazu: Erbenzählerei statt Erbsenzählerei). Viele Druck- und Ausdrucksfehler sprechen dafür, dass das Buch schnell geschrieben und auf den Markt geworfen wurde.

Das Buch ist über weite Strecken recht oberflächlich, was es aber auch sein muss, wenn es die Allgemeinheit auf mittlerem Sachbuchniveau informieren will. Jeder "Poweruser" der Wikipedia wird eine Menge spannender Aspekte benennen können, die entweder nicht oder nur unzulänglich beleuchtet werden.

Nennen könnte man etwa die Ausklammerung der englischsprachigen Wikipedia. Was läuft dort im Community-Bereich gleich, was ist anders? Spannend wäre dann auch das Eingehen auf die Frage gewesen, wie das mit der Finanzierung der Wikipedia ist. Die Server kosten aufgrund der Popularität ein Heiden-Geld, das ständig durch Spenden aufgebracht werden muss. Wie sieht das Verhältnis von Groß- und Einzelspenden aus? Was ist, wenn die Wikipedia nicht mehr immense Spendengelder mobilisieren kann?

Dicke inhaltliche Fehler sind selten. Kapitel 10 (Highway to Hell?) sollte ich vielleicht am besten beurteilen können. Es ist der vielleicht schwächste Abschnitt, besonders intensiv hat sich der Autor mit diesen juristischen Spitzfindigkeiten nicht beschäftigt. Falsch ist die Darstellung des Gentlemen-Agreement für Online-Publikationen (S. 190) Unsinn sind die Ausführungen zur Nutzung eigener Wikipedia-Beiträge (S. 197). Da hätte der Autor einfach die FAQ Rechtliches nachlesen können:
http://de.wikipedia.org/wiki/Hilfe:FAQ_Rechtliches#Kann_ich_einmal_der_Wikipedia_zur_Verf.C3.BCgung_gestellte_Inhalte_als_Urheber_anderweitig_verwenden.3F

Immer wieder wird gefragt: Warum nicht Fair use bei Bildern? So auch von Schuler (S. 200). Immer wieder wird (etwa auf WP:BR) - zunehmend unwirsch - geantwortet, dass deutsches Recht nun einmal nicht das flexible Instrument des Fair use kennt, sondern das restriktivere Zitatrecht und dass man freie Inhalte schaffen wolle, die kommerziell nachgenutzt und verändert werden können. Das nichtdeutsch-dominierte Commons-Projekt hat im übrigen die gleiche Einstellung, es liegt also nicht nur an einer "typisch deutschen Grundsatzentscheidung". Dass gleichwohl bei einem (nie umgesetzten) Meinungsbild eine hauchdünne Mehrheit für eine Liberalisierung des Bildrechte-Regimes war, hätte der Autor beim Durchforschen der einschlägigen Archiv-Labyrinthe durchaus herausfinden können.

Da der Autor mit Recht die völlig unpraktikablen Lizenzbedingungen für Druckmedien beklagt, ist es unverständlich, dass er sie nicht befolgt hat. Auch wenn einem die Spielregeln nicht gefallen, muss man sich an sie halten. Er hätte die GNU FDL abdrucken müssen bzw. er hätte bei den Bildern bei Doppellizensierung die CC wählen müssen. Das Gejaule der betroffenen Urheber, die nun URV schreien, ist aber doch eher als wohlfeile Retourkutsche zu sehen: Wenns darum geht, einen Kritiker zu ärgern, sind die sonst so monstranzhaft durch virtuelle Dorf getragenen "freien Inhalte" plötzlich ganz unwichtig. Der Bildnachweis nennt die Fotografen und die Lizenz (mit der falschen Abkürzung GNU) - so what?

Gegen die allgemeinen Ausführungen etwa zur Geschichte des Projekts, zu den Qualitätsmängeln und dem Qualitätsmanagement lässt sich wenig sagen. Das ist alles durchaus fair, sogar wohlwollend geschildert. Wie man in Wikipedia editiert, wird in einem eigenen Kapitel anschaulich erklärt.

Das sind nicht die Abschnitte, die die Wikipedianer auf die Palme bringen. Schuler hat einige Blicke hinter die Kulissen geworfen und Probleme aufgedeckt, die gern geleugnet werden. Es geht also um das "Innenleben", die Community-Seiten.

Ich kann die meisten Kritikpunkte voll und ganz bestätigen, in einigen schießt der Autor ersichtlich über das Ziel hinaus. Dazu gehören auch überfüssige Benutzer-Namensnennungen (zumal wenn es sich um Realnamen handelt, wie bei dem eingangs zitierten Wikipedianer, von dem ganz zu Unrecht der Eindruck erweckt wird, als sei er rechtslastig: S. 132). Die Community ist für Kritik von außen nicht sonderlich empfänglich, sie erregt sich, statt die Kritikpunkte und vor allem die Verbesserungsvorschläge sachlich zu werten.

NPOV, der neutrale Standpunkt, ist das Erfolgsrezept der Wikipedia und daher gegen Schuler, der S. 226 eine Modifizierung vorschlägt, in Schutz zu nehmen. Die Wikipedia funktioniert trotz der Editwars, weil am Ende doch der sachliche Konsens im Sinne der Neutralität als gemeinsamer Wert abrufbar ist.

Dies schließt nicht aus, dass es rechtslastige Edits und andere Merkwürdigkeiten in der Wikipedia gibt, die von Schuler zurecht angeprangert werden. Schuler sagt nicht: Die Wikipedia ist von rechts unterwandert, er insistiert aber zurecht darauf, dass es absurd wäre zu behaupten, in der Wikipedia gäbe es keine Rechten.

Da ich es (als Inklusionist) befremdlich finde, dass Waffenfreunde ihre Fetische in aller Breite darstellen können, während andere wertvolle Artikel der willkürlichen Relevanz-Klatsche zum Opfer fallen (in der Bibliotheks-Szene war der Bücherfrauen-Artikel ein prominentes Beispiel), finde ich es absolut in Ordnung, dass Schuler die "Hobbymilitaristen" (S. 135) kritisiert.

Was über die Burschenschafts-Artikel S. 134 gesagt wird, ist ebenfalls völlig zutreffend. Hier hätte Schuler auch auf den "berühmten" Fall von Thomas7 hinweisen können:
http://www.netzthemen.de/sterz-wikipedia/5-1-4-troll-oder-nicht-troll-der-fall-thomas7

Es stimmt: Wikipedia ist anfällig für Seilschaften. Wer das leugnet, lügt sich in die Tasche. Manche Seilschaften (bei den Archivthemen etwa) sind nützlich und wertvoll, andere sind erheblich kritischer zu sehen. Das mag für viele Wikipedianer selbstverständlich sein, es ist aber für Menschen von Interesse, die verstehen wollen, was die Wikipedia im Innersten zusammenhält.

Bei den exzellenten und lesenswerten Artikeln hat Schuler zutreffend beobachtet, dass "die stärksten Bataillone auch die meisten Artikelauszeichnungen durchbringen" (S. 94).

Im Kern teile ich auch Schulers Kritik an der Admin-Mafia. Den Kritikern Schulers ist Recht zu geben, wenn sie darauf verweisen, dass es "die" Admins gar nicht gibt, dass das also ein sehr heterogener Haufen ist. Das ändert aber nichts daran, dass Machtmissbrauch an der Tagesordnung ist und der Nicht-Admin dem weitgehend ohnmächtig ausgeliefert ist. Wer nicht stromlinienförmig mitmarschiert und die Wikipedia-Lob-Rhetorik auf den Lippen hat, also auch mal ausfallend oder gar persönlich wird, erfährt über kurz oder lang die Strenge der Administratoren, die nach Gutdünken sperren dürfen. In Einzelfällen wird eine solche Sperre zwar von einem anderen Administrator aufgehoben, aber der Administrator, der aufhebt, überlegt es sich beim nächsten Mal zweimal, wenn er auf seiner Diskussion dann die empörten Äußerungen des Admin-Korpsgeistes vorfindet.

Gerade die Querköpfe bringen gute Ideen und Beiträge ein. Sie sind aber auch diejenigen, die dem Projekt häufig enttäuscht den Rücken zukehren.

"Mehr Demokratie wagen!" Für die Wikipedia gilt das nicht. Wer dort das große Wort führt, hat meist den Spruch "Wikipedia ist keine Demokratie" auf den Lippen. Schuler macht teilweise sehr vernünftige Vorschläge (S. 222-230). Ob man eine institutionelle Nutzervertretung "Betriebsrat" nennen muss, mag man dahingestellt lassen. Wichtig wäre es, wenn die Nutzer, die konstruktiv mitarbeiten wollen und können, aber zum Opfer der alltäglichen Unfreundlichkeiten, des Admin-Kasernenhoftons oder persönlich motivierter Sperrungen werden, tatsächlich eine starke Lobby hätten, die für sie eintritt. Aber man braucht sich nur einmal durchzulesen, wie unendlich albern das nun zu evaluierende "Schiedsgericht" sich als Strafgericht aufspielt, ohne die Lockerheit und die Verbindlichkeit des englischen Vorbilds zu erreichen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Schiedsgericht/Anfragen/Jahn_Henne
um zu wissen, dass wenig Hoffnung besteht, dass auch nur kleine sinnvolle Verbesserungen (wie z.B. Admins auf Zeit) mittelfristig zustandekommen.

Die entsprechenden Passagen Schulers sind hart, aber fair, was nicht heisst, dass er immer Recht hätte. Aber da die maßgeblichen Wikipedia-Seilschaften jegliche harte Kritik nicht akzeptieren, wird man die unbestreitbaren Schwächen dieses Buches aufspießen und die Kritik leider ad acta legen.

Wer auf den öffentlichen Diskussionsseiten der Wikipedia agiert, muss es hinnehmen, dass man dieses Verhalten (zumal als Administrator) kritisch würdigt. Dies gilt auch für die wiederholte Nennung von "Sebmol" (der den von Schuler angelegten Benutzer Roger Koslowski einmal gesperrt hat).

Es trifft zu, dass die Wikipedianer allergisch reagieren, wenn Kritik an der Wikipedia - womöglich von Wikipedianern oder Ex-Wikipedianern - in Formen außerhalb der Wikipedia wie z.B. Weblogs geübt wird. Gewünscht wird Hofberichterstattung (oder "Selbstbeweihräucherung" S. 98), wie sie die Wikipedianer-Blogs ja durchaus bieten.

Ebenso stimmt, dass sehr häufig Fakten, die die Wikipedia betreffen, als irrelevant wegzensiert werden (S. 70f.). Der Grund dafür dürfte weniger sein, dass man unliebsame Kritik nicht im Artikelnamensraum lesen will, sondern eher, dass man derlei als Selbstbespiegelung sieht, die es auch beim Brockhaus nicht gibt.

Fazit: Schulers Buch ist kein großer Wurf geworden. Es bietet überwiegend anspruchslose, aber gut verdauliche Hausmannskost, und es legt wiederholt den Finger in die richtige Wunde. So schlecht, wie die sich öffentlich äußernden Wikipedianer glauben machen wollen, ist es nicht.
Cherubinos meinte am 2007/09/21 21:54:
Wikipedia:Pressespiegel
Ich habe die Rezension im Wikipedia:Pressespiegel verlinkt 
AndreasP meinte am 2007/09/22 12:04:
Wer auf Archivalia z. B. Kritik am Grundkonzept "Pro Open Access" äußert, wird ebenfalls hinauskomplimentiert (und das ebenfalls extrem unfreundlich), und das zurecht. Eine Website ist kein Staat. Es muss dort keine vollumfängliche Meinungsfreiheit geben, keine Website (und auch keine Tageszeitung) muss alles veröffentlichen, was ihr zugesandt wird. Das hat Schuler wie so viele Trolle vor ihm nicht verstanden. Eine implizite Grundprämisse des Buchs ist also falsch. Und die wirklich mangelhafte Recherche (ja, ich fühle mich wirklich persönlich beleidigt) macht es noch schlimmer. Gerade die von KlausGraf hier pauschal als Jubelperser beschimpften Wikipedia-Blogger unter den Administratoren gehören übrigens meiner Erfahrung zu den Benutzern, die gegenüber dem Projekt "Wikipedia" grundsätzlich wohlwollend, aber auch sehr kritisch eingestellt sind. Ein Blogverhalten, das jeden kleinen und kleinsten Wikipedia-Konflikt gleich durchs gesamte virtuelle Dorf treibt, ist jedenfalls auch nicht besser, und dafür ließen sich auch hier viele Beispiele finden.

Die meiner Erfahrung nach völlig alberne Verschwörungstheorie von der Admin-Mafia lässt sich wohl letztlich nur dadurch abschaffen, dass man die unsäglichen "Wahlen" und "Deadministrierungen" und die ganzen Schlammschlachten darum endlich abschafft und die "Administratoren"-Rechte endlich als das sieht, was sie sein sollten: jedem schreibenden Benutzer nach einer gewissen Zeit mit sinnvollen Beiträgen freigeschaltete Rechte. 
KlausGraf antwortete am 2007/09/22 19:48:
Die Wikipedia ist nicht ein x-beliebiges Medienprojekt
Ob ich persönlich Open-Access-Gegner achtkantig hinauswerfe oder die Wikipedianer ein Klima schaffen, das freie Meinungsäußerungen nicht gerade fördert, ist schon ein Unterschied.

Kleine und kleinste Wikipedia-Konflikte werden hier aufgespießt, weil sie etwas Typisches zeigen, weil sie einer breiteren Öffentlichkeit punktuelle Einblicke in das Narrenhaus Wikipedia geben.

Öffentlich Wissen bereitzustellen und Freiwillige aus der Öffentlichkeit anheuern, aber sich zugleich der öffentlichen kritik entziehen zu wollen, ist intransparent. Auf Transparenz hat aber bei allen NGOs nicht nur die Öffentlichkeit einen Anspruch, sondern auch die vielen Spender, die das Projekt ermöglichen.

Übrigens: Die Heilige Katholische Kirche ist auch keine Demokratie. 
KlausGraf meinte am 2007/09/22 19:40:
Das Blog zum Buch
wird angezeigt unter:
http://archiv.twoday.net/stories/4283918/ 
 

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