Dass der europaweit geltende Schutz sogenannter nachgelassener Werke (Schutz der "Editio princeps", § 71 UrhG) für 25 Jahre völlig verfehlt ist, habe ich bereits früher begründet:
http://archiv.twoday.net/stories/3620318/
Das Landgericht Magdeburg ging zu weit, indem es das Schutzrecht gegen die Intentionen des Gesetzgebers dem Auffinder wegnahm und dem Eigentümer zusprach. Wenn der Gesetzgeber das Wort "erlaubterweise" in dieser weitreichenden Weise verstanden wissen wollte, hätte er dies sagen müssen.
In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Beweisproblematik diskutiert, wie man zeigen könne, dass ein Werk bislang nie erschienen sei. Wer den Schutz beansprucht, muss eine negative Tatsache, nämlich das Nicht-Erscheinen, beweisen. "Wer als Herausgeber eines nachgelassenen Werkes Leistungsschutz in Anspruch nimmt, muss beweisen, dass das Werk zuvor nicht erschienen war", befand das OLG Düsseldorf 2005.
Bei handschriftlich mehrfach überlieferten Werken ist die klare Aussage des Düsseldorfer Urteils zu beachten: "Es soll aber nicht unausgesprochen bleiben, dass mit der Hinnahme handschriftlicher Abschriften als Grundlage eines früheren Erscheinens von Werken gerade auch die erstmalige gedruckte Ausgabe von in der Antike und im Mittelalter nur durch Handschriften verbreiteter Literatur kein Leistungsschutzrecht gem. § 71 UrhG nach sich zieht. Hinsichtlich der großen Literatur der Antike und des Mittelalters ist ohne Weiteres anzunehmen, dass sie vor der Erfindung des Buchdrucks durch die Verbreitung von Handschriften unter Berücksichtigung der hier nicht näher zu untersuchenden Umstände der damaligen Literaturveröffentlichung i.S. des jetzigen § 6 II Satz 1 UrhG erschienen ist. Ein beträchtlicher Teil der Literatur der Antike ist heute verloren, ihre Existenz aber durch andere Quellen überliefert und ihr Erscheinen aus der Überlieferung sicher zu erschließen. So unterliegt es zum Beispiel keinem Zweifel, dass das Geschichtswerk „Ab urbe condita“ des Titus Livius in der Antike mit seinen 142 Büchern erschienen ist und nicht nur mit den heute erhaltenen 35."
Offen ist die Frage, ob die Ausgabe einer bestimmten Fassung eines Werks an der Ausgabe einer anderen Fassung hindert. § 71 UrhG bezieht sich anders als § 70 UrhG (Schutz wissenschaftlicher Ausgaben) auf das Werk und nicht die jeweilige Ausgabe. Weicht eine andere Fassung nur leicht ab, kann man eine Blockade-Wirkung des § 71 UrhG womöglich annehmen. Je mehr die Fassung aber eigenständigen Charakter hat, um so weniger ist ein Monopol des Ersteditors anzuerkennen, einem anderen die Ausgabe zu untersagen.
Erhebliche praktische Relevanz kommt der ebenfalls offenen Frage zu, ob eine Teilausgabe eine spätere Gesamtausgabe für 25 Jahre blockieren kann.
Soweit mir bekannt, hat die juristische Literatur zu diesem Problem nicht Stellung genommen. Bei dem "normalen" Urheberrechtsschutz stellt sich das Problem ja nicht: Das Urheberrecht entsteht beim Urheber, der selbst (oder seine Erben) entscheidet, welche Teile seines Oeuvres er ans Licht der Öffentlichkeit gelangen lässt.
Beispiele:
Aus einer unveröffentlichten Autobiographie wird nur ein Teil abgedruckt.
Zu einer handschriftlichen Gedichtsammlung werden nachträglich einige weitere Gedichte aufgefunden, die auf verloren gegalubten Blättern stehen.
Aus einer ungedruckten Sagensammlung wird zunächst nur eine Auswahl veröffentlicht.
Es gibt zwei Möglichkeiten, das Verhältnis von Erst- und Zweitherausgeber zu bestimmen:
(i) Der Erstherausgeber erhält durch seine Teilausgabe das Recht am ganzen Werk. Er kann die Gesamtaufgabe aufgrund seines Schutzrechts für 25 Jahre blockieren.
(ii) Jeder Herausgeber erhält das Recht nur für die Teile, die er erstveröffentlicht. Eine Gesamtausgabe bedarf der Zustimmung aller Rechteinhaber.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist weder (i) noch (ii) akzeptabel.
Wer nur einen kleinen Teil eines unbekannten Werks erstmals abdruckt, kann gemäß (i) andere (insbesondere Wissenschaftler, die womöglich mehr Kompetenzen haben als der Erstherausgaber) daran hindern, ohne seine Zustimmung eine Gesamtausgabe zu veranstalten.
Der Gesetzgeber wollte die Herausgabe von unbekannten Werken und nicht etwa von Werkteilen fördern.
(ii) hätte zur Folge, dass der Zweiteditor keine Gesamtausgabe vorlegen dürfte, sondern nur den unveröffentlicht gebliebenen Rest herausgeben darf. Die Teilausgabe mag noch so fehlerhaft sein, er darf sie nicht durch Neudruck der bereits gedruckten Teile verbessern. Er darf allenfalls die richtigen Lesarten anführen.
Auf vernünftige Absprachen im Bereich des Urheberrechts und des wissenschaftlichen Editionswesens zu vertrauen, wäre zu optimistisch. Bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs ist jeder Rechteinhaber befugt, seinen Schutz voll auszuspielen.
Mit dem Wortlaut von § 71 ist am ehesten (ii) vereinbar. Zwar bleibt das Interesse der Öffentlichkeit an einer Gesamtausgabe des Werks auf der Strecke, aber kein Herausgeber kann den anderen behindern.
(iii) Erst wenn eine komplette Ausgabe eines Werks vorliegt, ist das Schutzrecht des § 71 UrhG gegeben, das dann dem Herausgeber der Gesamtausgabe zukommt.
Für diese Deutung gibt es in den Gesetzesmaterialien keine Anhaltspunkte. Der Herausgeber der Gesamtausgabe könnte den Herausgebern der Teilausgaben die Weiterverbreitung ihrer Ausgaben untersagen, was ihren Vertrauensschutz mit Füßen treten würde.
Was auf der Ebene des einfachen Rechts als eklatante Regelungslücke erscheint, kann vielleicht durch eine verfassungsrechtliche Argumentation einer Lösung zugeführt werden.
Um den Schutz der "Editio princeps" zu erlangen, braucht die Edition keinesfalls wissenschaftlichen Maßstäben zu genügen. Liegt aber eine wissenschaftliche Edition vor, so steht dem Herausgeber das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG) zur Seite, in dessen Licht das Urheberrecht auszulegen ist.
Eine wissenschaftliche Gesamtausgabe eines Werks, das in Form von nach § 71 UrhG geschützten Teilausgaben vorliegt, ist auch innerhalb der 25jährigen Schutzfrist möglich. Dies setzt voraus, dass bei einer Abwägung das Eigentumsgrundrecht des Leistungsschutzrechts-Inhabers, der ja bei einer Editio princeps eindeutig ein "Urheber zweiter Klasse" ist, da er keine schöpferische Leistung erbrachte, leichter wiegt als die Forschungsfreiheit, zu deren Schutzbereich die Mitteilung unbekannter Quellen gehört. Wenn aus wissenschaftlichen Gründen eine Gesamtausgabe einschließlich geschützter Teile geboten erscheint, muss das Recht der Inhaber des Rechts nach § 71 UrhG zurücktreten. Dies gilt insbesondere, wenn eine angemessene Einigung mit den Rechteinhabern nicht möglich war.
http://archiv.twoday.net/stories/3620318/
Das Landgericht Magdeburg ging zu weit, indem es das Schutzrecht gegen die Intentionen des Gesetzgebers dem Auffinder wegnahm und dem Eigentümer zusprach. Wenn der Gesetzgeber das Wort "erlaubterweise" in dieser weitreichenden Weise verstanden wissen wollte, hätte er dies sagen müssen.
In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Beweisproblematik diskutiert, wie man zeigen könne, dass ein Werk bislang nie erschienen sei. Wer den Schutz beansprucht, muss eine negative Tatsache, nämlich das Nicht-Erscheinen, beweisen. "Wer als Herausgeber eines nachgelassenen Werkes Leistungsschutz in Anspruch nimmt, muss beweisen, dass das Werk zuvor nicht erschienen war", befand das OLG Düsseldorf 2005.
Bei handschriftlich mehrfach überlieferten Werken ist die klare Aussage des Düsseldorfer Urteils zu beachten: "Es soll aber nicht unausgesprochen bleiben, dass mit der Hinnahme handschriftlicher Abschriften als Grundlage eines früheren Erscheinens von Werken gerade auch die erstmalige gedruckte Ausgabe von in der Antike und im Mittelalter nur durch Handschriften verbreiteter Literatur kein Leistungsschutzrecht gem. § 71 UrhG nach sich zieht. Hinsichtlich der großen Literatur der Antike und des Mittelalters ist ohne Weiteres anzunehmen, dass sie vor der Erfindung des Buchdrucks durch die Verbreitung von Handschriften unter Berücksichtigung der hier nicht näher zu untersuchenden Umstände der damaligen Literaturveröffentlichung i.S. des jetzigen § 6 II Satz 1 UrhG erschienen ist. Ein beträchtlicher Teil der Literatur der Antike ist heute verloren, ihre Existenz aber durch andere Quellen überliefert und ihr Erscheinen aus der Überlieferung sicher zu erschließen. So unterliegt es zum Beispiel keinem Zweifel, dass das Geschichtswerk „Ab urbe condita“ des Titus Livius in der Antike mit seinen 142 Büchern erschienen ist und nicht nur mit den heute erhaltenen 35."
Offen ist die Frage, ob die Ausgabe einer bestimmten Fassung eines Werks an der Ausgabe einer anderen Fassung hindert. § 71 UrhG bezieht sich anders als § 70 UrhG (Schutz wissenschaftlicher Ausgaben) auf das Werk und nicht die jeweilige Ausgabe. Weicht eine andere Fassung nur leicht ab, kann man eine Blockade-Wirkung des § 71 UrhG womöglich annehmen. Je mehr die Fassung aber eigenständigen Charakter hat, um so weniger ist ein Monopol des Ersteditors anzuerkennen, einem anderen die Ausgabe zu untersagen.
Erhebliche praktische Relevanz kommt der ebenfalls offenen Frage zu, ob eine Teilausgabe eine spätere Gesamtausgabe für 25 Jahre blockieren kann.
Soweit mir bekannt, hat die juristische Literatur zu diesem Problem nicht Stellung genommen. Bei dem "normalen" Urheberrechtsschutz stellt sich das Problem ja nicht: Das Urheberrecht entsteht beim Urheber, der selbst (oder seine Erben) entscheidet, welche Teile seines Oeuvres er ans Licht der Öffentlichkeit gelangen lässt.
Beispiele:
Aus einer unveröffentlichten Autobiographie wird nur ein Teil abgedruckt.
Zu einer handschriftlichen Gedichtsammlung werden nachträglich einige weitere Gedichte aufgefunden, die auf verloren gegalubten Blättern stehen.
Aus einer ungedruckten Sagensammlung wird zunächst nur eine Auswahl veröffentlicht.
Es gibt zwei Möglichkeiten, das Verhältnis von Erst- und Zweitherausgeber zu bestimmen:
(i) Der Erstherausgeber erhält durch seine Teilausgabe das Recht am ganzen Werk. Er kann die Gesamtaufgabe aufgrund seines Schutzrechts für 25 Jahre blockieren.
(ii) Jeder Herausgeber erhält das Recht nur für die Teile, die er erstveröffentlicht. Eine Gesamtausgabe bedarf der Zustimmung aller Rechteinhaber.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist weder (i) noch (ii) akzeptabel.
Wer nur einen kleinen Teil eines unbekannten Werks erstmals abdruckt, kann gemäß (i) andere (insbesondere Wissenschaftler, die womöglich mehr Kompetenzen haben als der Erstherausgaber) daran hindern, ohne seine Zustimmung eine Gesamtausgabe zu veranstalten.
Der Gesetzgeber wollte die Herausgabe von unbekannten Werken und nicht etwa von Werkteilen fördern.
(ii) hätte zur Folge, dass der Zweiteditor keine Gesamtausgabe vorlegen dürfte, sondern nur den unveröffentlicht gebliebenen Rest herausgeben darf. Die Teilausgabe mag noch so fehlerhaft sein, er darf sie nicht durch Neudruck der bereits gedruckten Teile verbessern. Er darf allenfalls die richtigen Lesarten anführen.
Auf vernünftige Absprachen im Bereich des Urheberrechts und des wissenschaftlichen Editionswesens zu vertrauen, wäre zu optimistisch. Bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs ist jeder Rechteinhaber befugt, seinen Schutz voll auszuspielen.
Mit dem Wortlaut von § 71 ist am ehesten (ii) vereinbar. Zwar bleibt das Interesse der Öffentlichkeit an einer Gesamtausgabe des Werks auf der Strecke, aber kein Herausgeber kann den anderen behindern.
(iii) Erst wenn eine komplette Ausgabe eines Werks vorliegt, ist das Schutzrecht des § 71 UrhG gegeben, das dann dem Herausgeber der Gesamtausgabe zukommt.
Für diese Deutung gibt es in den Gesetzesmaterialien keine Anhaltspunkte. Der Herausgeber der Gesamtausgabe könnte den Herausgebern der Teilausgaben die Weiterverbreitung ihrer Ausgaben untersagen, was ihren Vertrauensschutz mit Füßen treten würde.
Was auf der Ebene des einfachen Rechts als eklatante Regelungslücke erscheint, kann vielleicht durch eine verfassungsrechtliche Argumentation einer Lösung zugeführt werden.
Um den Schutz der "Editio princeps" zu erlangen, braucht die Edition keinesfalls wissenschaftlichen Maßstäben zu genügen. Liegt aber eine wissenschaftliche Edition vor, so steht dem Herausgeber das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG) zur Seite, in dessen Licht das Urheberrecht auszulegen ist.
Eine wissenschaftliche Gesamtausgabe eines Werks, das in Form von nach § 71 UrhG geschützten Teilausgaben vorliegt, ist auch innerhalb der 25jährigen Schutzfrist möglich. Dies setzt voraus, dass bei einer Abwägung das Eigentumsgrundrecht des Leistungsschutzrechts-Inhabers, der ja bei einer Editio princeps eindeutig ein "Urheber zweiter Klasse" ist, da er keine schöpferische Leistung erbrachte, leichter wiegt als die Forschungsfreiheit, zu deren Schutzbereich die Mitteilung unbekannter Quellen gehört. Wenn aus wissenschaftlichen Gründen eine Gesamtausgabe einschließlich geschützter Teile geboten erscheint, muss das Recht der Inhaber des Rechts nach § 71 UrhG zurücktreten. Dies gilt insbesondere, wenn eine angemessene Einigung mit den Rechteinhabern nicht möglich war.
KlausGraf - am Sonntag, 23. März 2008, 17:19 - Rubrik: Archivrecht