Tradieren, Vermitteln, Anwenden. Zum Umgang mit
Wissensbeständen in spätmittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Städten, hg. von Jörg ROGGE (Beiträge zu
den Historischen Kulturwissenschaften 6.) Akademie Verlag,
Berlin 2008. 309 S., Abbildungen.
Der vorliegende Ergebnisband einer Mainzer Tagung “Wissen
in der Stadt - Mainz und Erfurt im späten Mittelalter und
früher Neuzeit” vom Oktober 2006 ist gewiss nicht erheblich
schlechter als die vielen vergleichbaren
hochsubventionierten Verlagsprodukte, die disparate
Wissensbestände zwischen zwei Buchdeckeln vereinen. Aber
wenn im Reihenvorwort vollmundig die Transdisziplinarität
beschworen wird, die “nicht eine additive Reihung von
Disziplinen, sondern eine integrative Forschungshaltung”
meine, und der Band diesen Anspruch nicht im mindesten
einlöst, so darf das nicht verschwiegen werden.
Das Thema Wissen wird mit irritierender Beliebigkeit
behandelt, und man fühlt sich an eine jener vormodernen
Schutzmanteldarstellungen erinnert, bei denen die gesamte
Ständewelt unter dem weiten Umhang Mariens Platz fand. Gut
könnte man den Begriff Wissen gegen eines der der anderen
modernen Theorie-Versatzstücke wie Erfahrung oder
Erinnerung oder Kommunikation austauschen.
Zwei stadtgeschichtliche Darstellungen von den
Stadtarchivaren Wolfgang Dobras (Mainz) und Rudolf Benl
(Erfurt) stellen die Hauptschauplätze vor. Statt aber eine
Fallstudie zu einer der beiden Städte anzuschließen,
widmet sich Gerd Schwerhoff in seinem durchaus lesenswerten
Beitrag den bekanntlich außerordentlich ergiebigen
Schriften des Kölner Ratsherrn Hermann von Weinsberg
(1518-1597). Es geht in dieser Sektion aber um “Wissen und
politisches Handeln”, also um vortheoretische
Wissensbestände der Alltags- und politischen Kultur.
Schwerhoff ist ein zu kluger Autor, als dass er nur über
sein Dresdener Projekt über öffentliche Räume schreiben
würde und bemüht sich auf Schritt und Tritt, die
wissenssoziologische Dimension einzubringen, aber er ist
doch weit mehr an Räumen als an Wissensbeständen
interessiert, wenn er die Bedeutung von Haus, Kirche und
Rathaus für seinen Protagonisten schildert. Der Bezug auf
den nicht-operationalisierbaren Wissensbegriff der
Phänomenologen Berger und Luckmann verstärkt den Eindruck,
dass das Thema Wissen den öffentlichen Räumen eher
aufgepfropft wird. “Eine historische Wissenssoziologie der
alteuropäischen Stadt”, betont Schwerhoff bereits im ersten
Satz, “ist tendenziell identisch mit ihrer
Universalgeschichte” (S. 61).
Der knappe Beitrag von Katharina Neugebauer über politische
Alltagskultur im Spiegel spätmittelalterlicher Chroniken
aus Erfurt und Hildesheim kann übergangen werden, denn was
die Autorin an Befunden aus Hartung Cammermeisters Erfurter
Chronik und dem “Diarium” des Hildesheimer Bürgermeisters
Henning Brandis erhebt, ist eher belanglos.
Theoretisch noch ambitionierter als Schwerhoffs
Ausführungen sind Jörg Rogges “Überlegungen zu
Raumkonzepten und deren heuristischen Nutzen für die
Stadtgeschichtsforschung (mit Beispielen aus Mainz und
Erfurt im späten Mittelalter”. Ausführlich wird das Thema
Raum in der Geschichtswissenschaft diskutiert, von den 40
Seiten des Aufsatzes entfallen ganze zwölf auf die
Exemplifizierung anhand von Mainz und Erfurt. Zerknirscht
muss ich gestehen, dass ich nicht alles verstanden habe,
und so recht leuchtet es mir nicht ein, wo der
Erkenntnisgewinn liegt, wenn sattsam Bekanntes im
“Raum-Speak” umformuliert wird. Gerhard Hard hat vor kurzem
darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Begriff “Raum”
ausgezeichnet eignet, in Trivialitäten eine pompöse
Bedeutsamkeit hineinzuraunen (in: Spatial Turn, Bielefeld
2008, S. 290f.). Ich zitiere aus Rogges Zusammenfassung
seines Beitrags in der Einleitung: “wenn sich eine
Protestversammlung auf einem Platz oder vor dem Rathaus
zusammenfand, entstanden politische Räume, die durch die
Körper der Menschen gebildet wurden” (S. 14). Das “Wissen”
bleibt jedenfalls ziemlich auf der Strecke.
Hat man die “innovativen” Beiträge hinter sich gebracht,
darf man sich bei solider Hausmannskost etwas ausruhen.
Rainer Christoph Schwinges erkundet die Wirkung
universitären Wissens, also von Universitätsabsolventen,
auf die spätmittelalterlichen Städte sowohl hinsichtlich
der Angebots- als auch der Nachfrageseite. Die Nachfrage
wird nicht etwa anhand von Erfurt oder Mainz, sondern am
Beispiel der Universitätsstadt Köln erörtert. Dann aber
geht es - man hätte fast nicht mehr damit gerechnet -
tatsächlich zentral um eine der beiden Beispielstädte.
Ulman Weiß stellt die Frühzeit der Stiftungsprofessur für
evangelische Theologie Augsburgischen Bekenntnisses an der
Erfurter Universität (1566-1632) dar, ein Aufsatz, der
sprachlich wie inhaltlich die anderen überragt.
Hervorzuheben ist, dass hier Wissensbestände, wie man sie
kennt, angemessen berücksichtigt werden: die gedruckte
Publizistik der Professoren.
An dieser Stelle hat man die Hoffnung bereits aufgegeben,
man würde über die reichen Wissens-Speicher in Mainz und
Erfurt, über die Archive und Bibliotheken oder die Bücher
der Bürger und Gelehrten (etwa die einzigartige Erfurter
“Amploniana”) ausführlich belehrt. Die nächsten beiden
Beiträge widmen sich - soviel Interdisziplinarität muss
sein! - musikwissenschaftlichen Spezialthemen. Welche Texte
der mittelalterlichen Musiktheorie in Erfurt überliefert
sind, fragt Peter Niedermüller. Dass jeder Leser weiß, wer
dieser Amplonius war, setzt er (wie die anderen Autoren)
einfach voraus. Nicht weniger spezialistisch traktiert
Christoph Hust die wohl im Benediktinerkloster St. Jakob
entstandene Musiktheorie-Handschrift II 375 der
Stadtbibliothek Mainz. Deren “restaurierende” Tendenz mit
der Forschung über die von der Wiederentdeckung “alter”
Texte geprägte monastische Erinnerungskultur der Zeit oder
über “retrospektive Tendenzen” um 1500 in Verbindung zu
setzen kommt ihm nicht in den Sinn.
Der letzte Beitrag setzt dem Band die Krone auf: “Legende
oder Wirklichkeit? Das Wissen um städtische
Klostergründungen in der Historiographie des Mittelalters
und der Frühen Neuzeit” von Anette Pelizaeus. Die
Kunsthistorikerin hat ein Buch über die Predigerkirche in
Erfurt geschrieben, und daher erfahren wir außerordentlich
viel über die Baugeschichte der Dominikanerklöster in
Eisenach und Erfurt sowie des Klosters Rupertsberg in
Bingerbrück, während die im Titel angekündigte
Traditionsbildung denkbar unverständig behandelt wird.
Jegliche quellenkritische Reflexion fehlt (ebenso wie eine
Interpretation der Zeugnisse); bei dem Eisenacher
Dominikanerkloster wird noch nicht einmal die Quelle des
Legendenberichts angegeben. Der Rupertsberger
Legendenbericht zu Hildegard von Bingen wird nach einer im
Literaturverzeichnis fehlenden Schrift “Como, Sagen und
Legenden” (einer lokalen Sagensammlung von 1919) referiert.
Dass Falckensteins Erfurter Historia als “Civitatis
Erfurtensis” im Text angeführt wird, stimmt bereits
bedenklich. Dass zweimal von “chronalischen Nachrichten”
die Rede ist, ist dann nur noch peinlich. Manche Aufsätze
sind schlicht und einfach nicht druckfähig.
Dankbar bin ich, dass dieses Buch mein Wissen um die
Unzulänglichkeiten unserer Wissenschaftskommunikation
bereichert hat.
Erschienen in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 118 (2010), S. 246-248
Das Buch gibts auch als Ebook bei Ciando für 54,80 Euro, womit man 5 Euro gegenüber der Buchhandelsausgabe sparen würde.
Wer im Buch blättern möchte: http://www.libreka.de/9783050045580
Wissensbeständen in spätmittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Städten, hg. von Jörg ROGGE (Beiträge zu
den Historischen Kulturwissenschaften 6.) Akademie Verlag,
Berlin 2008. 309 S., Abbildungen.
Der vorliegende Ergebnisband einer Mainzer Tagung “Wissen
in der Stadt - Mainz und Erfurt im späten Mittelalter und
früher Neuzeit” vom Oktober 2006 ist gewiss nicht erheblich
schlechter als die vielen vergleichbaren
hochsubventionierten Verlagsprodukte, die disparate
Wissensbestände zwischen zwei Buchdeckeln vereinen. Aber
wenn im Reihenvorwort vollmundig die Transdisziplinarität
beschworen wird, die “nicht eine additive Reihung von
Disziplinen, sondern eine integrative Forschungshaltung”
meine, und der Band diesen Anspruch nicht im mindesten
einlöst, so darf das nicht verschwiegen werden.
Das Thema Wissen wird mit irritierender Beliebigkeit
behandelt, und man fühlt sich an eine jener vormodernen
Schutzmanteldarstellungen erinnert, bei denen die gesamte
Ständewelt unter dem weiten Umhang Mariens Platz fand. Gut
könnte man den Begriff Wissen gegen eines der der anderen
modernen Theorie-Versatzstücke wie Erfahrung oder
Erinnerung oder Kommunikation austauschen.
Zwei stadtgeschichtliche Darstellungen von den
Stadtarchivaren Wolfgang Dobras (Mainz) und Rudolf Benl
(Erfurt) stellen die Hauptschauplätze vor. Statt aber eine
Fallstudie zu einer der beiden Städte anzuschließen,
widmet sich Gerd Schwerhoff in seinem durchaus lesenswerten
Beitrag den bekanntlich außerordentlich ergiebigen
Schriften des Kölner Ratsherrn Hermann von Weinsberg
(1518-1597). Es geht in dieser Sektion aber um “Wissen und
politisches Handeln”, also um vortheoretische
Wissensbestände der Alltags- und politischen Kultur.
Schwerhoff ist ein zu kluger Autor, als dass er nur über
sein Dresdener Projekt über öffentliche Räume schreiben
würde und bemüht sich auf Schritt und Tritt, die
wissenssoziologische Dimension einzubringen, aber er ist
doch weit mehr an Räumen als an Wissensbeständen
interessiert, wenn er die Bedeutung von Haus, Kirche und
Rathaus für seinen Protagonisten schildert. Der Bezug auf
den nicht-operationalisierbaren Wissensbegriff der
Phänomenologen Berger und Luckmann verstärkt den Eindruck,
dass das Thema Wissen den öffentlichen Räumen eher
aufgepfropft wird. “Eine historische Wissenssoziologie der
alteuropäischen Stadt”, betont Schwerhoff bereits im ersten
Satz, “ist tendenziell identisch mit ihrer
Universalgeschichte” (S. 61).
Der knappe Beitrag von Katharina Neugebauer über politische
Alltagskultur im Spiegel spätmittelalterlicher Chroniken
aus Erfurt und Hildesheim kann übergangen werden, denn was
die Autorin an Befunden aus Hartung Cammermeisters Erfurter
Chronik und dem “Diarium” des Hildesheimer Bürgermeisters
Henning Brandis erhebt, ist eher belanglos.
Theoretisch noch ambitionierter als Schwerhoffs
Ausführungen sind Jörg Rogges “Überlegungen zu
Raumkonzepten und deren heuristischen Nutzen für die
Stadtgeschichtsforschung (mit Beispielen aus Mainz und
Erfurt im späten Mittelalter”. Ausführlich wird das Thema
Raum in der Geschichtswissenschaft diskutiert, von den 40
Seiten des Aufsatzes entfallen ganze zwölf auf die
Exemplifizierung anhand von Mainz und Erfurt. Zerknirscht
muss ich gestehen, dass ich nicht alles verstanden habe,
und so recht leuchtet es mir nicht ein, wo der
Erkenntnisgewinn liegt, wenn sattsam Bekanntes im
“Raum-Speak” umformuliert wird. Gerhard Hard hat vor kurzem
darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Begriff “Raum”
ausgezeichnet eignet, in Trivialitäten eine pompöse
Bedeutsamkeit hineinzuraunen (in: Spatial Turn, Bielefeld
2008, S. 290f.). Ich zitiere aus Rogges Zusammenfassung
seines Beitrags in der Einleitung: “wenn sich eine
Protestversammlung auf einem Platz oder vor dem Rathaus
zusammenfand, entstanden politische Räume, die durch die
Körper der Menschen gebildet wurden” (S. 14). Das “Wissen”
bleibt jedenfalls ziemlich auf der Strecke.
Hat man die “innovativen” Beiträge hinter sich gebracht,
darf man sich bei solider Hausmannskost etwas ausruhen.
Rainer Christoph Schwinges erkundet die Wirkung
universitären Wissens, also von Universitätsabsolventen,
auf die spätmittelalterlichen Städte sowohl hinsichtlich
der Angebots- als auch der Nachfrageseite. Die Nachfrage
wird nicht etwa anhand von Erfurt oder Mainz, sondern am
Beispiel der Universitätsstadt Köln erörtert. Dann aber
geht es - man hätte fast nicht mehr damit gerechnet -
tatsächlich zentral um eine der beiden Beispielstädte.
Ulman Weiß stellt die Frühzeit der Stiftungsprofessur für
evangelische Theologie Augsburgischen Bekenntnisses an der
Erfurter Universität (1566-1632) dar, ein Aufsatz, der
sprachlich wie inhaltlich die anderen überragt.
Hervorzuheben ist, dass hier Wissensbestände, wie man sie
kennt, angemessen berücksichtigt werden: die gedruckte
Publizistik der Professoren.
An dieser Stelle hat man die Hoffnung bereits aufgegeben,
man würde über die reichen Wissens-Speicher in Mainz und
Erfurt, über die Archive und Bibliotheken oder die Bücher
der Bürger und Gelehrten (etwa die einzigartige Erfurter
“Amploniana”) ausführlich belehrt. Die nächsten beiden
Beiträge widmen sich - soviel Interdisziplinarität muss
sein! - musikwissenschaftlichen Spezialthemen. Welche Texte
der mittelalterlichen Musiktheorie in Erfurt überliefert
sind, fragt Peter Niedermüller. Dass jeder Leser weiß, wer
dieser Amplonius war, setzt er (wie die anderen Autoren)
einfach voraus. Nicht weniger spezialistisch traktiert
Christoph Hust die wohl im Benediktinerkloster St. Jakob
entstandene Musiktheorie-Handschrift II 375 der
Stadtbibliothek Mainz. Deren “restaurierende” Tendenz mit
der Forschung über die von der Wiederentdeckung “alter”
Texte geprägte monastische Erinnerungskultur der Zeit oder
über “retrospektive Tendenzen” um 1500 in Verbindung zu
setzen kommt ihm nicht in den Sinn.
Der letzte Beitrag setzt dem Band die Krone auf: “Legende
oder Wirklichkeit? Das Wissen um städtische
Klostergründungen in der Historiographie des Mittelalters
und der Frühen Neuzeit” von Anette Pelizaeus. Die
Kunsthistorikerin hat ein Buch über die Predigerkirche in
Erfurt geschrieben, und daher erfahren wir außerordentlich
viel über die Baugeschichte der Dominikanerklöster in
Eisenach und Erfurt sowie des Klosters Rupertsberg in
Bingerbrück, während die im Titel angekündigte
Traditionsbildung denkbar unverständig behandelt wird.
Jegliche quellenkritische Reflexion fehlt (ebenso wie eine
Interpretation der Zeugnisse); bei dem Eisenacher
Dominikanerkloster wird noch nicht einmal die Quelle des
Legendenberichts angegeben. Der Rupertsberger
Legendenbericht zu Hildegard von Bingen wird nach einer im
Literaturverzeichnis fehlenden Schrift “Como, Sagen und
Legenden” (einer lokalen Sagensammlung von 1919) referiert.
Dass Falckensteins Erfurter Historia als “Civitatis
Erfurtensis” im Text angeführt wird, stimmt bereits
bedenklich. Dass zweimal von “chronalischen Nachrichten”
die Rede ist, ist dann nur noch peinlich. Manche Aufsätze
sind schlicht und einfach nicht druckfähig.
Dankbar bin ich, dass dieses Buch mein Wissen um die
Unzulänglichkeiten unserer Wissenschaftskommunikation
bereichert hat.
Erschienen in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 118 (2010), S. 246-248
Das Buch gibts auch als Ebook bei Ciando für 54,80 Euro, womit man 5 Euro gegenüber der Buchhandelsausgabe sparen würde.
Wer im Buch blättern möchte: http://www.libreka.de/9783050045580
KlausGraf - am Dienstag, 4. Mai 2010, 01:08 - Rubrik: Wissenschaftsbetrieb