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Christian August Vulpius (1762 Weimar - 1827 Weimar) ist heute nur noch wenigen bekannt, vor allem als Schwager Goethes und Autor des trivialen Räuberromans "Rinaldo Rinaldini" (Erstausgabe 1799).

Bereits die fleißige Wikisource-Seite
http://de.wikisource.org/wiki/Christian_August_Vulpius
zeigt, dass der 1797 an der Weimarer Bibliothek tätige Autor ein "Vielschreiber" war.

Das Urteil über Vulpius ist im Lauf der Zeit milder geworden. Roberto Simanowski widmete ihm 1998 eine moderne Monographie
http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0004/bsb00040532/images/index.html
und Dieter und Sylke Kaufmann entwarfen 2001 ein positives Bild von Vulpius als Altertumsforscher
http://www.libreka.de/9783930036516/147 (Auszüge, Widerspruch kam von Karl Peschel in der Praehistorischen Zeitschrift 78, 2003, S. 218-225).

[Zusammenfassend zu Vulpius siehe zuletzt den Artikel von Ines Köhler-Zülch in der Enzyklopädie des Märchens 14 Lief. 1 (2011), Sp. 381-386]

Der neueren Vulpius-Forschung unbekannt geblieben sind ältere Nachweise, dass Vulpius in seiner angesehenen Zeitschrift "Curiositäten der physikalisch-literarisch-artistisch-historischen Vor- und Mitwelt" (10 Jahrgänge 1811-1825) Quellen aus Mittelalter und Renaissance gefälscht hat.

Digitalisat der Zeitschrift:
http://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jpjournal_00000039

Wenn kleine Geister sich über andere erheben wollen, eignet sich der Nachweis, dass die anderen auf Fälschungen hereingefallen sind, dafür vorzüglich.

Eckehard Simon, Germanist in Harvard, und der renommierte Mainzer Buchwissenschaftler Stefan Füssel sind nur die beiden prominentesten Autoren, die sich von den von Vulpius erfundenen Selbstzeugnissen eines angeblichen Nürnberger Handlungsgehilfen Ulrich Wirschung täuschen ließen. Und das, obwohl an verschiedenen Stellen in der älteren Literatur darauf aufmerksam gemacht worden war, dass es sich um Fälschungen handelt!

Im fünften Stück des zehnten Bandes der Curiositäten erschien 1825 ein nicht namentlich gezeichneter, also vom Herausgeber Vulpius stammender Artikel "Schwank aus dem Fastnachtswesen in der Vorzeit zu Nürnberg. (Nach einer alten Handschrift.)" (S. 390-407).

http://books.google.de/books?id=P2swAAAAYAAJ&pg=PA390

Vulpius will das auf dem Titelblatt 1588 datierte Nürnberger Manuskript im Makulatur-Magazin eines ignoranten Gewürzkrämers gefunden haben. Er gibt an, er habe das überwiegend in Versen nach der Meistersänger-Manier geschriebene Werk für den Druck bearbeiten müssen, also in Prosa umgesetzt. Wer den Text aufmerksam liest, sollte eigentlich ziemlich schnell stutzig werden. Der damalige Nürnberger Stadtarchivar Emil Reicke (1865-1950) publizierte an kaum zugänglichem Orte 1904 im Unterhaltungsblatt des Fränkischen Kuriers Nr. 21 und 23 (laut ZDB nur in der Stadtibliothek Nürnberg vorhanden) eine ausführliche Kritik der Mystifikation, aus der im Fränkischen Kurier Nr. 68 und 86 Mitteilungen erfolgt waren.

http://archive.org/details/ZuDemAltnuernbergerFaschingsleben

Reicke meinte, derjenige, der nur ein wenig mit "Sitte und Schriftum" jener Tage vertraut sei, könne keinen Zweifel daran haben, dass es sich um eine Mystifikation handelt, ein Urteil, dem ich mich ungeachtet der Tatsache, dass nicht wenige die Quelle ernstgenommen haben, voll und ganz anschließen möchte. Ein Hauptverdachtsmoment ist schlicht und einfach, dass es sich um eine viel zu "schöne Quelle" handelt, deren Aussagereichtum von den anderen Quellen jener Zeit absticht. Reicke überprüft etliche tatsächliche Angaben und kommt zu dem Schluss, dass der angebliche Zeitgenosse Wirschung Falschangaben über Dinge macht, über die er bestens informiert sein müsste, beispielsweise über die Namen der Kinder seines Chefs Viatis. Reickes Aufsatz ist durchaus lesenswert und zeigt schlüssig, dass Vulpius sich das Ganze aus den Fingern gesogen und nicht einmal die Andeutung einer Vorlage gehabt hat. Noch unglaubwürdiger als die Beschreibung des Nürnberger Karnevals kam Reicke die Beschreibung des Karnevals zu Venedig vor, die Vulpius, nachdem seine Nürnberger Ausführungen offenbar großen Beifall gefunden hatten, im folgenden Stück präsentierte: "Ulrich Wirschung's Ausfahrt nach Venedig, in die fremde Welt" (S. 531-545).

http://books.google.de/books?id=P2swAAAAYAAJ&pg=PA533

Er hat also eine Fortsetzung zu seiner Quellenfälschung erfunden.

Offenkundig war Reicke nicht bekannt, dass bereits Johannes Bolte - freilich viel zu zurückhaltend - zu dem Text in der Zeitschrift für deutsches Altertum 32 (1888), S. 21-23 Stellung bezogen hatte.

http://archive.org/stream/zeitschriftfrd32wiesuoft#page/n29/mode/2up

Dass das angebliche Faust-Zeugnis mit Erwähnung des "Gretle" eindeutig anachronistisch ist, hätte der bedeutende Erzählforscher sehr viel deutlicher sagen können, auch wenn der Abschnitt "Moderne Fälschungen" überschrieben ist. Bolte beruft sich auf eine Auskunft aus Weimar von dem Bibliothekar Reinhold Köhler, dort sei keine Wirschung-Handschrift bekannt. "Vielleicht" handle es sich um eine Fiktion des Vulpius.

Otto Höfler bezieht sich in seinen Geheimbünden I, 1934, S. 19 auf eine Auskunft von Julius Petersen, die Schilderung der Fastnachtslustbarkeiten (mit Erwähnung der Frau Holda) sei eine Fälschung.

http://books.google.de/books?id=YcAoAAAAYAAJ&q=vulpius+fälscher

1965 widmete Hans-Ulrich Roller in seinem Buch "Der Nürnberger Schembartlauf" der Quelle nur eine kurze Notiz (S. 56 Anm. 157): Leider habe die Schilderung des Fastnachtstreibens durch Wirschung den Mangel, "dass sie sehr wahrscheinlich erfunden ist; das verraten schon Inhalt und Stil des Berichts".

Werner Lühmann: St. Urban, 1968, S. 123f. verwies zustimmend auf den Artikel von Reicke 1904 und stellte fest: "Teil eines Fastnachtsaufzuges ist das Urbanibrauchtum in Nürnberg niemals gewesen."

http://books.google.de/books?id=ASbkAAAAMAAJ&%22&q=vulpius

Damit ist das mir bekannte Material an kritischen Stellungnahmen erschöpft. Reicher ist die Ausbeute an Autoren, die Vulpius geglaubt haben.

Vulpius' Beitrag wurde im Nürnberger Alterthumsfreund 1842 nochmals abgedruckt:
http://books.google.de/books?id=CmJEAAAAcAAJ&pg=PT44

Ebenso von Friedrich Nick 1861
http://books.google.de/books?id=CmJEAAAAcAAJ&pg=PT44

Karl Ueberhorst verwertete die Fastnachts-Schilderung in der Gartenlaube 1879:
http://de.wikisource.org/wiki/Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_149.jpg

Ebenso Johannes Janssen in seiner nicht nur von Katholiken viel gelesenen Geschichte des deutschen Volkes 1894:

http://archive.org/stream/geschichtedesdeu08jansuoft#page/270/mode/2up

Der Kulturhistoriker Alwin Schultz verwies 1903 auf beide angeblichen Texte Wirschungs:

http://archive.org/stream/dashuslichelebe00schugoog#page/n398/mode/2up

Nach Lühmann hat Adolf Spamer in seinem Beitrag "Sitte und Brauch" (Handbuch der deutschen Volkskunde II, 1904) S. 76 ebenfalls die gefälschte Quelle als echt behandelt.

Auch Will Erich-Peuckert fiel nicht nur 1928 herein:

https://www.google.de/search?tbm=bks&q=peuckert+wirschung+kaufmannsdieners

Desgleichen Sumbergs Schembart-Monographie von 1941:

http://books.google.de/books?id=mXCBAAAAMAAJ&q=%22wirschung%22

1993 formulierte der bereits erwähnte Füssel in einem Aufsatz zu Faust-Zeugnissen (MVGN 1993) zwar durchaus vorsichtig, hielt aber am Quellenwert des Berichts unverständlicherweise fest:

http://periodika.digitale-sammlungen.de/mvgn/Blatt_bsb00000994,00209.html?prozent=1

Immerhin erfahren wir, dass das Manuskript, das es ja nie gegeben hat, weder im Stadtarchiv noch im Staatsarchiv Nürnberg aufgefunden werden konnte.

Weitere unkritische Rezeption im Kontext der Faust-Forschung ist in Google Book Search nachweisbar:

https://www.google.de/search?tbm=bks&q=%22wirschung%22+faust
http://books.google.de/books?id=CJpAAQAAIAAJ&q=wirschung
https://www.google.de/search?tbm=bks&q=faust+1588+n%C3%BCrnberg+vulpius
https://www.google.de/search?tbm=bks&q=%22German+Faust+play+of%22+1588

John A. Walz: A German Faust play of the sixteenth century. In: The Germanic review 3 (1928), S. 1-22 hatte dem Wirschung-Text sogar einen eigenen Aufsatz gewidmet, wobei es ihm vor allem um den angeblich sicheren Nachweis eines deutschen Faust-Theaterstücks 1588 geht. An der Authentizität seiner Quelle zweifelt Walz überhaupt nicht. Dagegen vermutete Hans Albert Maier in den Monatsheften 1953, S. 407 zurecht, Vulpius habe den Namen des Gretchens eingeschmuggelt (Toll Access: http://www.jstor.org/stable/30165987).

Simons "Die Anfänge des weltlichen Deutschen Schauspiels 1370-1530" erschien 2003 in der angesehensten altgermanistischen Schriftenreihe (MTU), und trotzdem verwertete Autor im Abschnitt zum Nürnberger Schembartlauf (S. 333-343, hier S. 343 mit Hinweis auf Füssel) das angebliche Wirschungsche Manuskript ohne Vorbehalt.

Auf einer Friesacher Tagung 2007 zitierte Horst Kaufmann von der Schembart-Gesellschaft Nürnberg die vermeintliche Quelle sogar wörtlich. Sein Text steht als Volltext im Netz:

http://www.schembart.de/media/2007__Kaufmann-Friesach-Schembart-06Feb08.pdf

Ist einmal eine literarische Fälschung in der Welt, ist sie offenbar kaum auszurotten, selbst wenn es - wie hier - nur eines sehr geringen quellenkritischen Gespürs bedarf, um sie zu erkennen. Als nachteilig erweist sich auch die Tatsache, dass die Widerlegungen in der Literatur verstreut sind, während die unkritische Rezeption an durchaus prominenten Stellen erfolgte. Nach der Zwergen-Riesen-Metapher ist es erst durch die Retrodigitalisierung und insbesondere durch Google Book Search möglich geworden, sich sehr rasch einen Überblick über die "Wirschung-Rezeption" zu verschaffen. Dies muss zwar den früheren Autoren, die Vulpius geglaubt haben, zugutegehalten werden, trotzdem bleibt der irritierende Befund, dass die Fälschungs-Diagnose eigentlich von jedem gefällt werden könnte, der sich intensiver mit Texten des 16. Jahrhunderts beschäftigt.

Den zitierten Kritikern ist es verborgen geblieben, dass am Ende des 19. Jahrhunderts zwei weitere Quellenerfindungen von Vulpius namhaft gemacht werden konnten.

In der Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 4 (1881) hatte Wilhelm Erman "Zwei angebliche deutsche Pilgerschriften des 15. Jahrhunderts" als Fälschungen des Vulpius erwiesen - auch sie sind den "Curiositäten" entnommen:

http://archive.org/stream/zeitschriftdesde03deut#page/200/mode/2up

Kurz zuvor hatten die damaligen beiden Koryphäen der Pilgerreise-Forschung Reinhold Röhricht und Reinhold Meisner in ihrem Standard-Werk Auszüge aus den Fälschungen geboten, obwohl Erman bereits nach kurzer Lektüre Zweifel an der Authentizität bekommen hatte.

Vulpius gab in Bd. 2, 1812 den Pilgerbericht eines Just Artus aus Bebenhausen (Link zum Jenaer Digitalisat mit viel zu langem Permanentlink.

Vulpius will den Text in einem Archive halb vermodert aufgefunden zu haben - bereits dies erregt Verdacht! Der Name des Wundscherers Artus - hier bereichert um den Vornamen Just und um den Herkunftsort Bebenhausen - ist der bekannten Reisebeschreibung von Felix Fabri (via Feyerabends Reyßbuch) entnommen, und der Artus-Text konnte von Erman als dürftiges "Cento" aus Fabri erwiesen werden.

Auch hier überwiegen die unkritischen Stellungnahmen zu dem mehrfach nachgedruckten Pilgerbericht vom Ende des 15. Jahrhunderts:

https://www.google.de/search?tbm=bks&q=%22jost+artus%22

Zur Kritik:

http://www.digiberichte.de/Hirschbiegel&Kraack_2000_Niederlaendische_Reiseberichte.pdf (S. 96f.)
http://archive.org/stream/fratrispauliwal01waltgoog#page/n170/mode/2up

Literaturgeschichtlich einflussreich ist die Fälschung geworden, da Mörike von den Abenteuern des Artus fasziniert war und sie in eine geplante Veröffentlichung integrieren wollte. 1846 schrieb er den Text eigenhändig ab:

http://books.google.de/books?id=_xej-qj60hIC&pg=PA326

1875 hatte Titus Tobler dem angeblichen Reiseschriftsteller Jost Artus einen ADB-Artikel gewidmet, und obwohl Erman wenige Jahre später die Fälschung erwies, was Röhricht/Meisner 1900 anerkannten, gelangte Artus als Reiseschriftsteller ohne ein Wort der Distanzierung ins digitale ADB-NDB-Register und die PND der Deutschen Nationalbibliothek! [DNB weist jetzt auf die Fälschung hin: http://d-nb.info/gnd/135746051 ]

http://de.wikisource.org/wiki/ADB:Artus,_Jost

Auch Hans Raininger aus Buchhorn, dessen Bericht Vulpius aus dem ebenfalls im Feyerabendschen "Reyßbuch" stehenden Breidenbach-Bericht zusammenstoppelte

http://books.google.de/books?id=EAsJAAAAQAAJ&pg=PA323 (Curiositäten 6, 1817, S. 323-324),

hat es nie gegeben. Unkritisch behaupten Röhrich/Meisner 1900, S. 82 Anm. 375

http://archive.org/stream/deutschepilgerr00rhgoog#page/n94/mode/2up

er sei eine historische Persönlichkeit. Die angeführten Sprüche im Cgm 270 stammen aber von Hans Raminger!

Befremdlich ist auch die von ihnen gewählte Formulierung zur Erzählung über Franz von Brünn aus dem Artus-Text (dasselbe, nämlich dass es sich um einen modernen Roman handle, "dürfte" auch für die von Hormayr 1837 mitgeteilte Erzählung gelten):

http://archive.org/stream/deutschepilgerr00rhgoog#page/n92/mode/2up

Dass man dort vielerlei Neues über den Bartscherer Artus lesen könne, erklärt sich einfach so, dass die Episode über Franz von Brünn erzählerisch ausgesponnen wurde:

http://books.google.de/books?id=Q6K6AAAAIAAJ&pg=PA117

Zur Rezeption der Erzählung "Der schöne Franz von Brünn":

https://www.google.de/search?&q=%22sch%C3%B6ne%20franz%20von%20br%C3%BCnn%22&tbm=bks

Das Bild unten ist eine Illustration aus der Zeitschrift "Haus-Chronik"
http://books.google.de/books?id=NItEAAAAcAAJ&pg=PA336

Neben der auf Nürnberg und Venedig bezüglichen Wirschung-Fälschung hat Vulpius also auch zwei spätmittelalterliche Pilgerschriften erfunden. Ansonsten kann ich aus PBB 1937 S. 176 beibringen: Die Curiositäten 2, 472f. mitgeteilten Verschen seien nach Böhme, Kinderlied und Kinderspiel, 1924, S. 393 “moderne Machwerke”.
[ http://archive.org/stream/DeutschesKinderliedUndKinderspiel#page/n469/mode/2up ]

Schaut man sich die angegebene Stelle aus einem Aufsatz "Mancherlei Kirchen-Feierlichkeiten und Volksgebräuche im XVI. Jahrhundert" (Digitalisat Jena) näher an (anscheinend stimmen die Seitenzahlen nicht, da Kinderverse etwas später erscheinen), so stellt man erstaunt fest, dass Ulrich Wirschung, angeblich ein Zeitgenosse des 16. Jahrhunderts, sich wörtlich an den Text des offenbar von Vulpius verfassten Aufsatzes bei der Beschreibung des wütenden Heers anlehnt (man vergleiche Bd. 2, S. 472 mit Bd. 10, S. 397) - ein wohl ziemlich schlagendes Fälschungs-Indiz.

Vulpius mischt in dem soeben genannten Aufsatz geschickt Zitate authentischer alter Quellen mit Erfundenem. Bereits Reicke hat aus seinen beobachtungen zur Wirschung-Fälschung die Konsequenz gezogen und vor der Verwertung solcher Angaben von Vulpius gewarnt, die nicht anderweitig belegbar sind. Dem ist zuzustimmen. Man müsste die umfangreichen Curiositäten auf weitere Fälschungen durchgehen (was ich nicht getan habe [inzwischen aber doch!]). Aber auch wenn diese undankbare quellenkritische Arbeit noch zu leisten bleibt, sollte man dringend davon absehen, Quellen aus Vulpius zu zitieren. Wenn sie anderweitig nicht nachweisbar sind, könnte es sich um Fälschungen handeln; sind sie dagegen auffindbar, versteht es sich ja wohl von selbst, dass man nach der Vorlage und nicht nach dem Weimarer Vielschreiber zitiert.

Mundus vult decipi! Auch wenn schon viel Kopfschütteln angebracht ist, was die unkritische Verwertung vergleichsweise einfach erkennbarer Fälschungen angeht, so ist das natürlich nicht der einzige Aspekt, unter dem man diese Texte betrachten kann. Auch als Falsifikate sind es kulturgeschichtliche Zeugnisse, nur eben nicht für das 15. und 16. Jahrhundert, sondern für die Mittelalter- und Renaissance-Rezeption der Goethe-Zeit, die sich gern mit kuriosen Altertümern aus alten Handschriften unterhalten ließ. Eine entsprechende unvoreingenommene Würdigung bleibt ebenfalls zu leisten, doch bereits jetzt darf darauf hingewiesen werden, dass Vulpius mit Eduard Mörike ja wahrlich kein literarisches Leichtgewicht zu beeindrucken imstande war. (Mörike war übrigens auch von den Fälschungen der Munderschen Stuttgarter Stadtglocke angetan, siehe Graf, Sagen rund um Stuttgart

http://books.google.de/books?id=DCbaAAAAMAAJ&pg=PA58&lpg=PA58 )

Man mag die Quellenfälschungen von Vulpius als Makel ansehen, der Autor Vulpius ist dadurch jedoch meines Erachtens eher noch interessanter geworden.

Fortsetzung: http://archiv.twoday.net/stories/96984948/ (von dort aus weitere erreichbar)

Zum Thema Fälschungen in Archivalia: http://archiv.twoday.net/stories/96987511/

Nachtrag: Erika Timm, Frau Hölle, 2003, S. 108: "Der im Wort- und Detailreichtum schwelgende Stil der Darstellung ist aber allzu klar Vulpius' eigenes Produkt und spricht jedem Gedanken an textliche Authentizität Hohn. (Ähnlich das Urteil von Roller 1965: 56 Anm. 157.)" Sie bezieht sich auf die Arbeit von Karl Meisen, der einen kurzen Auszug aus Vulpius in seinem Quellenbuch zum wütenden Heer publizierte (mir vorliegend in der italienischen Ausgabe von Sonia Maura Barillari, Allesandria 2001, S. 304-306).



#forschung
jw_fr (Gast) meinte am 2012/04/02 16:34:
der Basler Stadtschreiber Giselbert
Wie man solche Fälschungen für die Geschichtsvorstellungen des Urhebers und dessen Zeit schön nutzbar machen kann, hat Claudius Sieber-Lehmann anhand des von Rudolf Wackernagel erfundenen Tagebuch des Basler Stadtschreiber Giselberts (Rudolf Wackernagel, Hg.: Aus dem Tagebuch des Schreibers Giselbert 1376-1378, in: Basler Jahrbuch 6 (1886), S. 13-51) gezeigt (Claudius Sieber-Lehmann: Giselberts Tagebuch. Eine unterschätzte Quelle zur Basler Geschichte, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 105 [2005], S. 115-129).
Diese Fälschung wurde zwar in den Potthast aufgenommen, fand aber ansonsten nach Sieber-Lehmann keine weitere Verbreitung. Sieber-Lehmann sieht die erfundene Quelle viel mehr als Blaupause für Wackernagels spätere dreibändige Basler Stadtgeschichte und als aufschlussreich für das "Basler Geschichtsbild" dieser Jahre. 
KlausGraf antwortete am 2012/04/02 16:45:
Danke für den wichtigen Hinweis
Ich hatte den Aufsatz mal gesehen, dann aber wieder vergessen.

Sieber-Lehmann online:
http://dx.doi.org/10.5169/seals-118493

Leider nicht auch das Falsum, wenn ich recht sehe. 
KlausGraf antwortete am 2012/04/02 17:43:
War nicht ganz einfach zu finden und vorerst nur mit US-Proxy
Giselberts Tagebuch

http://books.google.de/books?id=iEQLAAAAIAAJ&pg=PA13 
KlausGraf antwortete am 2012/04/02 18:40:
Nun auch ohne Proxy
http://archive.org/details/BaslerStadtbuchJahrbuchFrKulturUndGeschichte1886 
 

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