Allgemeines
Architekturarchive
Archivbau
Archivbibliotheken
Archive in der Zukunft
Archive von unten
Archivgeschichte
Archivpaedagogik
Archivrecht
Archivsoftware
Ausbildungsfragen
Bestandserhaltung
Bewertung
Bibliothekswesen
Bildquellen
Datenschutz
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
null

 
Es ist erbärmlich, wie wenig sich seit 2004 zum Guten gewendet hat ...

Klaus Graf: Was erwartet die Forschung vom digitalen Angebot der Bibliotheken?

Vortrag am 4. März 2004 im Rahmen des Workshops "Neue Wege zu alten Quellen"
http://www.ceec.uni-koeln.de/projekte/CEEC/project/workshopkoeln04.pdf

Der Untertitel meines Beitrags lautet: eine Philippika.
Daher beginne ich mit einer bewußt provozierenden These:

Digitalisierungsprojekte Alter Drucke sind zum derzeitigen
Zeitpunkt für die Wissenschaft weitgehend wertlos, da die
Digitalisierung an den Bedürfnissen der Forschung vorbei
erfolgt, da sie chaotisch-unkoordiniert, ohne hinreichende
Sacherschließung, in benutzerunfreundlicher Weise und
hinter dem Rücken der Wissenschaft, also ohne die gebotene
Information über die Resultate, betrieben wird.

Es versteht sich von selbst, dass diese Beurteilung
ungerecht, unbescheiden, undankbar und ungeduldig ist.
Ungeduldig deshalb, weil das Internet seit noch nicht
einmal zehn Jahren populär ist. Wir befinden uns also,
zumal vor dem Hintergrund jahrhundertealter Buchkultur,
immer noch in einer Experimentierphase.

Undankbar deshalb, weil ich bei meiner eigenen
wissenschaftlichen Arbeit als Historiker schon des öfteren
konkret von Digitalisierungsprojekten profitiert habe.

Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Die Bielefelder
Bereitstellung der Aufklärungszeitschriften macht einen
grandiosen Bestand an historischen Primärquellen verfügbar.

http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufklaerung/

Die Titel der einzelnen Aufsätze sind bequem suchbar und
durch eine Verschlagwortung angemessen erschlossen. In
einer dieser Zeitschriften traf ich auf ein anonymisiertes
Dokument zum Thema Hexenprozesse, das ich mit eigenem
Vorwissen als das bisher nicht bekannte Todesurteil der
1751 im Breisgauer Endingen als Hexe hingerichteten Anna
Trutt identifizieren konnte - eine echte Entdeckung für die
Hexenforschung.

Aber ich denke für die Projektjubelprosa sind hier andere
zuständig. Auch ich begrüße es, daß so viel digitalisiert
wird, aber ich finde dieses Geschäft sollte
verantwortungsbewußter und mit mehr Gespür für die
Bedürfnisse der potentiellen Nutzer betrieben werden. Es
sind oft Selbstverständlichkeiten, die vernachlässigt
werden und die man mit vergleichsweise geringem Aufwand
(und ohne jahrelangen Vorlauf bis zur Projektbewilligung)
realisieren könnte.

Natürlich kann ich hier nicht für DIE Wissenschaft
sprechen, noch nicht einmal für meine eigene Disziplin.
Meine subjektive Sicht auf Digitalisierungsprojekte ist die
eines eingefleischten Fans, der um so mehr an ihren
offenkundigen Mängeln, die aber kaum einmal öffentlich zur
Sprache kommen, leidet.

Ich wende mich im folgenden pauschal an die Bibliotheken,
obwohl ich weiß, daß es auch Museen und Archive gibt, die
Alte Drucke digitalisiert haben. Handschriften,
Archivalien, Bilder und Karten werfen eigene Probleme auf,
aber ich denke, vieles von dem, was ich im folgenden
ausführen will, läßt sich auch auf diese Dokumenttypen
übertragen.

Viele Akademiker nutzen das Internet dilettantisch und
unprofessionell, wenn sie es denn überhaupt nutzen. Bereits
jetzt liegt ein riesiger Quellenfundus an Alten Drucken
weltweit vor, der auch in der Lehre nutzbringend eingesetzt
werden könnte, aber selbst Nutzer, die das Stadium des
digitalen Analphabeten und Google-Einwortsuchers hinter
sich gelassen haben, sind mit dem Aufspüren dieser
verborgenen digitalen Schätze überfordert. Aus der Sicht
des Nutzers ist dies das Hauptproblem: Es gibt keine
einfache Suchstrategie, um die für ihn wissenschaftlich
einschlägigen digitalen Inhalte aufzufinden. Bevor man
weiter wild vor sich hin digitalisiert, sollte man erst
einmal dafür sorgen, daß das bereits Digitalisierte
überhaupt zur Kenntnis genommen wird.

Daher betrifft mein erster Punkt die mangelhafte
Information der Wissenschaft.

Das dringendste Desiderat ist eine einfach benutzbare
Datenbank der weltweit bereits frei verfügbaren
Digitalisate und eine ergänzende Dokumentation auf
suchmaschinenfreundlichen HTML-Seiten.

Die Datenbank sollte als reine Datenbank von
Online-Ressourcen wie die GBV-Online-Ressourcen organisiert
und via KVK abfragbar sein, also nicht nur wie die
GBV-Online-Ressourcen über den Karlsruher Virtuellen
Volltextkatalog, der nun OASE heißt.

http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvvk.html

Eine solche Datenbank könnte in vielen Fällen die
Fremddaten des Digitalisierungsprojekts, die etwa in MARC
vorliegen, nach Absprache mit dem Projektträger nutzen.
Wenn man in ein kooperatives Projekt allein die Zeit, die
für das Erstellen dämlicher und überflüssiger allgemeiner
Linkkataloge durch Fachreferenten vertan wird, einbringt
und sich international geschickt vernetzt, könnte eine
solche Datenbank kostengünstig und ziemlich schnell
realisiert werden.

Es ist aber noch nicht einmal selbstverständlich, daß
Bibliotheken ihre Digitalisate in den eigenen
Bibliothekskatalog aufnehmen und vom digitalisierten Werk
auf das Digitalisat verweisen (MIAMI Münster). Natürlich
sollten alle Digitalisate auch im Verbundkatalog
recherchierbar sein.

Zugleich sollten auch Repositorien Alter Drucke die
Standards der Open Access Initiative erfüllen, also über
entsprechende Harvester - am wichtigsten ist der OAIster -
genauso wie moderne Publikationen abfragbar sein.

http://oaister.umdl.umich.edu/

Es ist ein klassisches Eigentor, daß die Verantwortlichen
von Münsters MIAMI nur die Dissertationen OAI-compliant
verfügbar gemacht haben, nicht aber die derzeit an die 500
Alten Drucke aus der Barockbibliothek Nünning, von deren
Existenz die wenigsten Fachwissenschaftler Kenntnis haben
dürften.

http://miami.uni-muenster.de/

Warum daneben die suchmaschinenfreundlichen HTML-Seiten?
Weil die meisten, auch akademischen Internetnutzer nun
einmal Suchmaschinen und vor allem Google anwerfen, wenn
sie etwas im Internet finden wollen.
Suchmaschinenfreundlich heißt: Seiten unter 101 KB mit
einfachen Adressen, die hierarchisch direkt unter der
Startseite angeordnet sind, auf denen die Titel samt
Sacherschließung aufgelistet sind.

Es ist einigermaßen kurios, daß die Suchmaschine von
Forschungsportal.net in öffentlicher Trägerschaft es nicht
geschafft hat, die digitalen Angebote der
Universitätsbibliotheken komplett aufzunehmen. Anders als
bei der kommerziellen Firma Google kann man dort ganz
einfach hinmailen und sicher sein, ein offenes Ohr für die
Berücksichtigung des eigenen Projekts zu finden.

http://forschungsportal.net/

Es schadet nichts, wenn man solche HTML-Listen auch den
offenbar unausrottbaren fachspezifischen Linksammlungen
beigibt, die jede einzelne Bibliothek bastelt.

Wichtiger ist freilich, daß man mit zentralen externen
Linksammlungen aktiv kooperiert. Hier ist für die
wichtigste Wissenschaftssprache der frühen Neuzeit, das
Lateinische, die vortreffliche Online-Bibliographie
"Neolatin Texts" von Dana Sutton zu nennen, die mit derzeit
an die 9000 Texten - nicht nur Bücher, sondern auch
unselbständige Texte - so ziemlich vollständig sein dürfte.

http://eee.uci.edu/~papyri/bibliography/

Was hier ein Einzelner neben seinen akademischen
Verpflichtungen als Professor leistet, ist unbeschreiblich.
Freilich gilt es zu berücksichtigen, daß antike und
mittelalterliche Texte vor der Renaissance (ca. 1350) von
ihm ausgeklammert werden. Obwohl Digitalisierungsprojekte
das Rad schon sehr oft neu erfunden haben, könnte man bei
Suttons Liste anknüpfen und versuchen, gezielt die anderen
Sprachen abzudecken. Ich selbst habe als Privatmann im
Rahmen meines Weblogs ARCHIVALIA im Dezember letzten Jahres
ein Verzeichnis der deutschsprachigen als Faksimile
digitalisierten Drucke des 16. Jahrhunderts außerhalb der
großen Sammlungen von Wolfenbüttel, Wittenberg und
Augsburg, also des Streuguts, angelegt.

http://archiv.twoday.net/stories/113113/

Ich finde es fürchterlich, wie wenig Werbung Bibliotheken
für ihre Digitalisate machen. So versteht es die UB
Freiburg, ihre beachtlichen digitalen Sammlungen auf ihrer
Website geschickt zu verstecken.

http://www.ub.uni-freiburg.de/dipro/index.html

Allzu oft möchte man ausrufen: Stellt doch um Himmels
willen Eure beachtlichen Leistungen nicht so unter den
Scheffel!

Öffentlichkeitsarbeit ist also angesagt und auch
Pressearbeit und zwar nicht nur einmal, wenn das Projekt
eröffnet wird. Warum nicht ein "featured item of the month"
herausstellen, das ausführlich erläutert wird?

Warum liest man unter den Bibliotheks-News fast nur von den
neuesten lizenzierten Datenbanken kommerzieller Anbieter,
aber so gut wie nie von den digitalen Schmuckstücken, die
man neu anzubieten hat?

Überfällig ist ein kooperativer Neuigkeitendienst, der neu
digitalisierte Stücke etwa in Weblogform präsentiert und
natürlich einen RSS-Feed aufweisen sollte. Ich kenne nur
ein polnisches Unternehmen in Posen, das einen RSS-Feed für
seine News anbietet. Wem das zu fortschrittlich ist, darf
gern an einen Mail-Newsletter denken.

http://www.wbc.poznan.pl/dlibra

Werbung sollte aber nicht nur in digitalen Medien, sondern
auch in gedruckten Fachpublikationen gemacht werden. So hat
die ZfdA eine eigene Rubrik "Mittelalalter-Philologie im
Internet" eingerichtet.

http://www.uni-marburg.de/hosting/zfda/beitr.html

Ich komme nun zu meinem zweiten Punkt, die unzulängliche
Sacherschließung betreffend.

Das beginnt schon mit fehlenden Referenzen. Wer als
Bibliothekar einen deutschen Druck des 16. Jahrhunderts
digitalisiert, ohne in den Metadaten die VD 16-Nummer
anzugeben, hat nach meinem bescheidenen Dafürhalten
wesentliche Inhalte seines Berufs vergessen. Daß in der
neuen Verteilten Inkunabelbibliothek im OPAC die
Inkunabelbibliographien nicht genannt werden, ist für mich
unfaßbar.

Bei der Barockbibliothek Nünning in MIAMI ist die
Sacherschließung absolut unbrauchbar, es wird ein viel zu
weites, nichtssagendes Schlagwort gewählt. In Wolfenbüttel
sind viele Digitalisate überhaupt nicht verschlagwortet
worden.

Es fehlt an fachspezifischen, feingegliederten Übersichten,
die man hochtrabend auch Thesauri nennen mag, mit denen
sich der Forscher einen Überblick über vertretenen
Sachbereiche verschaffen könnte, wenn es sich nicht um ein
fachlich ohnehin eng begrenztes Projekt handelt.

Es sollte selbstverständlich sein, ist es aber leider
nicht, daß das Inhaltsverzeichnis des alten Drucks komplett
als E-Text digitalisiert vorliegt und dort die einzelnen
Kapitel mit den entsprechenden Links versehen sind. Wenn
man das als Pflicht bezeichnet, wird man als Kür die
Erfassung des jeweiligen Registers (ebenfalls mit
Verlinkung) oder sogar die Beigabe eines schmutzigen, also
unkorrigierten OCR-Textes bei Antiquaschriften bezeichnen
dürfen.

In der Digital Library of India, die auch einige
englischsprachige Veröffentlichungen des 19. Jahrhunderts
enthält, kann man jedenfalls in diesem OCR-Text suchen.

http://www.dli.gov.in/home.htm

Sacherschließung heißt auch, daß man so weit wie möglich
versucht, Angaben zum einzelnen Werk verfügbar zu machen,
wie sie etwa in Ausstellungs- oder Antiquariatskatalogen
erscheinen, also eine mehr oder minder ausführliche
Würdigung. Inhalte von Digitalisierungsprojekten sind ja
auch so etwas wie eine virtuelle Ausstellung. Bei solchen
Ausstellungen wünsche ich mir übrigens, daß man häufiger
ganze Werke - insbesondere geringeren Umfangs - komplett
ins Netz stellt und nicht immer nur die Titelseiten.

Wichtig wären auch Literaturangaben zum Werk oder seinem
Autor, wobei zum jeweiligen Autor auf andere seriöse
Internetinhalte - etwa die Digitalisierung der ADB -
verlinkt werden sollte. Jeder Autor sollte mit seinen
Lebensdaten, besser mit einem Biogramm vertreten sein.

Ein Wort zu den Illustrationen: Hier sollte dringend die
Zusammenarbeiten mit Projekten wie PROMETHEUS gesucht
werden, die Bilder kooperativ verfügbar machen.
Druckillustrationen sind wichtige Quellen der
Kunstgeschichte, die man spezifisch - etwa mit ICONCLASS -
erschließen sollte.

http://www.prometheus-bildarchiv.de/

Der dritte Punkt betrifft die fehlende
Benutzerfreundlichkeit.

Von der Beachtung so fundamentaler Grundsätze wie
barrierefreier Benutzung oder Usability sind nicht wenige
Digitalisierungsunternehmen weit entfernt. Ich sehe nicht
ein, wieso es nicht möglich ist, für ein so simples Produkt
wie die Digitalisierung eines Buchs, in dem einfach die
Bildseiten aufeinanderfolgen, eine spartanische Textversion
zu realisieren, die mit allen Browsern, auch den älteren,
betrachtet werden kann. Bei Kenntnis der
Benennungskonvention der Dateinamen oder einer
entsprechenden Liste sollte jeder Benutzer die Möglichkeit
haben, die Imagedateien mit einem eigenen Viewer zu sehen,
der als Freeware verfügbar sein sollte. Jedes Projekt hat
seine eigenen Navigationskonventionen und intuitiv
eingängig sind die allerwenigsten.

Ich habe neulich ziemlich viel Zeit bei der Benutzung eines
brasilianischen Digitalisierungsprojekts in Sao Paulo, das
unter anderem Schedels Weltchronik von 1493 anbietet,
vertan, bis mir aufging, daß dieses vermutlich für Netscape
7 optimiert ist und mit dem Internet Explorer nicht
ordnungsgemäß funktioniert.

http://www.obrasraras.usp.br/

Wer lästige Plugins wie DjVu einsetzt, sollte auch
alternative Formen der Ansicht realisieren.

Ein trivialer Punkt: Die Scans sollten gut lesbar sein. So
ärgert man sich bei Gallica meist über die miserable
Qualität. Man sollte sie bequem vergrößern können.

Wer nicht über eine schnelle universitäre Internetanbindung
verfügt, ist darauf angewiesen, daß er die Werke offline in
Ruhe betrachten kann. Neben dem Einsatz eines
Offlinereaders ist da die Erstellung eines PDF, wie es von
Gallica angeboten wird, höchst willkommen. Daß diese
Möglichkeit bewußt nicht angeboten wird, da man Mißbrauch
befürchtet, ist schlicht und einfach ärgerlich - mehr dazu
unten beim Punkt "Open Access".

http://gallica.bnf.fr/

Alle Digitalisate sollten eine kurze Internetadresse, die
man auch in gedruckten Publikationen zitieren kann, haben,
am besten als Persistant Identifier (PURL oder URN).
Vorbildlich die Portugiesische Nationalbibliothek, die
einen alten Druck mit dem folgenden URL zugänglich macht:

http://purl.pt/360/

Auch sollte für Zitatzwecke die einzelne Seite des Werks
bequem verlinkbar sein.

Hinsichtlich der Suchmöglichkeiten habe ich oben schon
einiges gesagt. Auf jeden Fall sollte eine Möglichkeit des
Browsings gegeben sein, wie es ärgerlicherweise von der
Lutherhalle Wittenberg nicht angeboten wird. Dort kann noch
nicht einmal in der Suche nach digitalisierten Inhalten
gefiltert werden, was es beispielsweise Mr. Sutton
außerordentlich erschwert hat, die lateinischen Drucke
dieses riesigen Angebots einer Institution, die sich als
Museum versteht, in seine Bibliographie aufzunehmen.

http://luther.hki.uni-koeln.de/luther/pages/sucheDrucke.html

Neben simplen sollten auch ausgefeilte Suchmöglichkeiten
angeboten werden, also etwa die Suche nach Werken, die
innerhalb eines zeitlichen Intervalls erschienen sind.

Standardmäßig sollten alle Digitalisierungsprojekte
alternativ mit englischer Benutzungsoberfläche angeboten
werden. Dies betrifft nicht nur unsere eigenen deutschen
Unternehmungen, sondern auch solche in Japan, wobei hier
sicher freundliche kollegiale Kommunikation Wunder bewirken
könnte.

Mein nächstes Monitum - Punkt 4 - ist überschrieben mit "An
den Bedürfnissen der Nutzer vorbei" und thematisiert die
Auswahl der Werke.

Für den Nutzer ist es prima facie irrelevant, wenn Alciatos
Emblembuch oder Vesalius mehrfach im Web vertreten ist,
oder wenn das Innsbrucker Projekt ALO und die Wittenberger
Lutherhalle das gleiche seltene Werk von Abt Trithemius
anbieten. Den Malleus maleficarum gibt es in Ausgaben des
16. Jahrhunderts dreifach, zweimal in Spanien, einmal in
Cornell, aber die maßgebliche Inkunabelausgabe, die als
Faksimile in den Bibliotheken steht, ist meines Wissens
nirgends einsehbar.

Das meine ich mit "chaotisch-unkoordiniert": Man
digitalisiert Alte Drucke, wobei die Überschneidungen bei
der frühneuzeitlichen Wissenschaftssprache Latein am
größten sein dürften, ohne Kenntnis anderer
Digitalisierungen und ohne internationale Koordination -
und ohne hinreichende Mitwirkung der potentiellen
wissenschaftlichen Nutzer. Statt Lücken zu schließen,
handelt man nach der Devise "Mehr desselben", einem, wie
wir von Paul Watzlawick wissen, verhängnisvollen Motto.

Es gibt eine Reihe größerer Unternehmungen, die hierzulande
völlig unbekannt zu sein scheinen, aber mehrere hundert, ja
sogar über tausend digitalisierte Alte Drucke, darunter
auch Inkunabeln, umfassen. Im Bereich der Medizingeschichte
sind ein Pariser Projekt und das Madrider Angebot
Dioscurides zu nennen. Andere Fachbereiche werden von der
UB Sevilla, dem Gemeinschaftsprojekt der andalusischen
Bibliotheken (mit knapp hundert Inkunabeln) und einer
baskischen Bibliothek abgedeckt.

Nachdem es nun mehrere hundert lateinische Inkunabeln,
verteilt auf verschiedene Server frei zugänglich online
gibt, habe ich nicht begriffen, wieso die deutsche
Verteilte Inkunabelbibliothek mit Beständen aus Köln und
Wolfenbüttel ausgerechnet mit 50 lateinischen
Allerweltsinkunabeln startete.

http://www.hab.de/forschung/projekte/incunabula.htm

Mir ist eigentlich auch rätselhaft, wer mit diesen Büchern
arbeiten soll. Es gibt ja nur ganz wenige
hardcore-Inkunabelforscher, also Druckhistoriker, und die
blättern natürlich am liebsten in den erlesenen Drucken
selbst, abgesehen davon, daß Provenienzforschungen zum
individuellen Exemplar, worauf ich noch zu sprechen komme,
von den bestehenden Digitalisierungsprojekten keineswegs
gefördert werden.

Hier rächt sich die unzureichende Sacherschließung bzw.
Erläuterung. Natürlich weiß der absolute Experte, welcher
Druck als Primärquelle wissenschaftlich zitierfähig ist und
wann er nach einer maßgeblichen gedruckten Edition zu
zitieren hat. Aber das ist doch nur eine vieler möglichen
Benutzungskonstellationen. Wenn ich aus dem
Verfasserlexikon weiß, daß die Traktate von Felix Hemmerli
in zwei etwa gleichwertigen Ausgaben um 1500 vorliegen,
brauche ich mich nicht auf die Auszüge in Hansens Quellen
zu den Hexenprozessen zu verlassen, sondern kann mit dem
Digitalisat der Johannes a Lasco Bibliothek zu Emden
arbeiten.

http://www.jalb.de/agora/html/7606BIBLIOGRAPHIC_DESCRIPTION.html

Warum sollte dann aber eine solche Information, die ja nun
wirklich vergleichsweise einfach zu beschaffen ist, auch
wenn die historische Ausbildung und Bildung heutiger
Bibliothekare nicht mehr das ist, was sie einmal war, nicht
auch den Weg in die Metadaten, also die Erläuterung des
Stücks finden. Es ist daher generell zu fordern: Bei
Digitalisaten alter Drucke ist anzugeben, welche anderen
Ausgaben existieren, sei es frühere Erstausgaben, sei es
moderne Editionen, damit eine inhaltliche Benutzung auch
für diejenigen Wissenschaftler erleichtert wird, die ohne
Vorwissen und auch ohne textkritische Absichten mit den
Werken arbeiten möchten.

Es ist vielleicht sogar sinnvoll, daß man im universitären
Intranet bei patristischen Texten einen Link auf den
entsprechenden Text der elektronischen Edition der
Patrologia Latina legt, die ja von größeren
Universitätsbibliotheken auf Lizenzbasis bereitgestellt
wird.

Es gilt also, neues Publikum für die alten Werke zu
erschließen - vielleicht sogar den interessierten
Internetnutzer ohne Vorbildung, der gern in einer
illustrierten deutschsprachigen Inkunabel virtuell
blättert. Vor allem aber natürlich die Akademiker, die
vielleicht noch nicht viel Erfahrung mit Alten Drucken
haben.

Die mangelnde Vernetzung der Projekte, der sich aus meiner
ungerechten Außenperspektive als unbegreifbarer Egoismus
darstellt, zeigt sich auch daran, daß ich in den
Präsentationen nie Hinweise auf anderweitig digitalisierte
Werke gefunden habe. Jedes Unternehmen tut so als sei es
das einzige, das auf die Idee kommt, Schedels Weltchronik
zu digitalisieren (ich kenne 3 Digitalisate). Warum nicht
die anderen Exemplare verlinken wie es bei der
Gutenberg-Bibel ja der Fall ist? Warum kommt eine
bildungsgeschichtliche Bibliothek nicht auf die Idee, die
von der Tsukuba-Universität in Japan zugänglich gemachten
Alten Drucke zur Bildungsgeschichte (Comenius, französische
Texte, Pestalozzi) den Benutzern der eigenen Digitalen
Bibliothek detailliert mit einer Werkliste und nicht nur
durch pauschalen Hinweis ergänzend zu empfehlen?

http://www.tulips.tsukuba.ac.jp/pub/tree/kichosho.eng.html

Vorbildlich ist hier das Deutsche Rechtswörterbuch, das
anderweitig digitalisierte Wörterbuchquellen in einer
eigenen Linkliste nachweist.

http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw/s/digital.htm

Nun zum Punkt der Mitwirkung der potentiellen Nutzer.
Bibliotheken sind wohl immer noch hierarchisch denkende
Anstalten, denen es nicht um Partizipation und Offenheit
geht, sondern primär um das eigene Prestige. Daher werden
fast alle Projekte den Wissenschaftlern nach dem Motto
"Vogel friß oder stirb" verordnet. Vielleicht gibt es ja
wissenschaftliche Beiräte, aber dann haben sie eher hinter
den Kulissen und wohl auch nicht sehr erfolgreich agiert.

Es ist ohne weiteres möglich, sich in einem informellen
Zirkel von Forschern zu erkundigen, welche
Digitalisierungsprioritäten gewünscht werden. So wäre es
auch denkbar gewesen, im Vorfeld der Planung der
Inkunabelbibliothek in der von der UB Tübingen angebotenen
Mailingliste INCUNABULA-L Laut zu geben. Das ist nicht
geschehen. Es ist aber auch möglich, wenn man sich nur
bemühen würde, Kontakte zu Lehrenden an der eigenen
Universität aufzunehmen, damit ein Seminar mit den
digitalisierten Quellen angeboten wird. Dessen Resultate
könnten dann online für das Projekt und seine Nutzung
werben.

Als Administrator der Mailingliste HEXENFORSCHUNG denke ich
an eine Verteilte Digitale Bibliothek der Hexenforschung,
die nach gemeinsamer Erstellung eines Kanons der
wichtigsten Quellenwerke Alte Drucke, die noch nicht
irgendwo digitalisiert vorliegen, bereitstellt und zwar
nicht als dubioses Großprojekt, sondern auf möglichst viele
Schultern verteilt, so daß jeder nach seinen Möglichkeiten
- inbesondere Zugang zu den Vorlagen - nicht mehr als
vielleicht fünf Quellenwerke digitalisieren muß. Daran
könnten sich durchaus auch Hobbyfotografen mit eigener
Digitalkamera beteiligen. Ich bin gespannt, ob etwas daraus
wird.

Wenig erfolgversprechend finde ich den Weg, den die
Lutherhalle Wittenberg mit der Digitalisierung on Demand
beschreitet: hier muß der Benutzer, der ein Werk
digitalisiert haben möchte, happige Kosten bezahlen, obwohl
eine solche Digitalisierung im öffentlichen Interesse ist.
Aber das liegt auf einer Linie mit der traditionellen
Praxis von Altbestandsbibliotheken, die ihre
wissenschaftlichen Benutzer mit prohibitiven Gebühren für
Reproduktionen dafür bestrafen, daß diese sich erdreisten,
über alte Drucke zu forschen.

Ganz wichtig ist mir der vorletzte Punkt 5, die mangelnde
Förderung der Provenienzforschung. Diese ist ohnehin ein
Stiefkind des derzeitigen Bibliothekswesens.
Digitalisierungsunternehmen sollten für die Alten Drucke
und ihre Erhaltung werben, sie sollten deutlich machen, daß
man diese nach Digitalisierung nicht wegwerfen oder
meistbietend auf Auktionen verscherbeln kann, damit man
vielleicht die nächste Phase des Projekts finanzieren kann.
Man muß ja heutzutage mit allem rechnen. Ich erinnere nur
an die Aufsehen erregenden, von Dr. Stüben verantworteten
Altbestandsverkäufe der Nordelbischen Kirchenbibliothek,
und die meiner Meinung nach nicht weniger skandalösen
sogenannten Dublettenverkäufe der Kapuzinerbibliotheken in
der UB Eichstätt, betrieben von Dr. Littger - beide
Bibliothekare sind nach wie vor hochangesehen Vertreter
ihres Berufsstandes, obwohl sie für mich eher Aussätzige
sind.

Digitalisierungsunternehmen sollten bewußt individuelle
Stücke präsentieren, die mit Randbemerkungen und anderen
Benutzerspuren versehen sind. Mehr und mehr interessiert
sich auch die Forschung für solche Stücke. Es ist ein
Zeichen von Ignoranz, wenn Wolfenbüttel zwar einige
Schreibkalender aus der frühen Neuzeit digitalisiert hat,
man aber den Katalogisaten überhaupt nicht entnehmen kann,
ob die Kalender tatsächlich gebraucht, also mit
handschriftlichen Einträgen versehen wurden (was mindestens
in einem Fall so ist). Dabei hat die
Schriftlichkeitsforschung gerade diese Gattung der
Schreibkalender als spannendes Thema entdeckt.

http://archiv.twoday.net/stories/32777/

Digitalisierungsunternehmen sollten sich verstärkt der
virtuellen Rekonstruktion zerstörter Fonds annehmen. Ich
selbst sammle ja schon seit 1999 Material für ein Projekt
"Donaueschingen Digital", das die barbarisch zerschlagene
Fürstlich Fürstenbergische Hofbibliothek Donaueschingen
virtuell wieder zusammenführen soll. Das bisherige
Interesse an diesem Projekt war auch von Bibliotheksseite
mehr als bescheiden.

http://www.uni-freiburg.de/histsem/mertens/graf/dondig.htm

Zuletzt und sechstens: Open Access für Kulturgut!

Mit der Berliner Erklärung zum Open Access ist der Gedanke
des Open Access Movements, das sich den freien - also
sowohl den kostenfreien als auch den barriere- bzw.
lizenzfreien - Zugang zu wissenschaftlicher Fachliteratur
auf die Fahnen geschrieben hat, auf die
kulturgutverwahrenden Institutionen (heritage collections)
ausgeweitet worden - zu Recht!

http://archiv.twoday.net/topics/Open+Access/

Digitalisiertes Kulturgut in Form Alter Drucke ist ja aus
urheberrechtlicher Sicht gemeinfrei, denn seine Autoren
sind alle länger als 70 Jahre tot. Dieses kulturelle
Allgemeingut gehört als public domain der Öffentlichkeit
und nicht den Bibliotheken, obwohl diese sich als
Zwingherren des Kulturguts aufspielen, das sie eifersüchtig
bewachen und möglichst gewinnbringend via
Reproduktionsrechte kommerzialisieren möchten.

http://www.jurawiki.de/FotoRecht

Da besteht eine Schweizer Burgerbibliothek darauf, daß in
einem E-Journal Abbildungen aus einer altgermanistischen
Handschrift nur künstlich verzerrt erfolgen dürfen, und
eine der beiden berühmtesten englischen Universitäten
duldet keinerlei Abbildung der eigenen Handschriften
außerhalb des eigenen Servers.

Unerfreulicherweise hat sich das tschechische Projekt
Manuskriptorium, das schon viele Handschriften und Drucke
digitalisiert hat, entschieden, den Zugang nur auf
Lizenzbasis zu gewähren, was zur Folge hat, daß die meisten
westlichen Wissenschaftler, deren Institutionen es aus
begreifbaren Gründen ablehnen, die überteuerten Lizenzen zu
erwerben, keinen bequemen Zugang zu den nur mit
unleserlichen Thumbnails, die nur in verzerrter Form
vergrößert werden können, im Internet vertretenen Schätzen
haben. Hier wäre es sinnvoll, der Prager Nationalbibliothek
kollegiale Proteste zukommen zu lassen.

Digitalisierte Bestände sollten nach den Grundsätzen des
Open Access frei nutzbar sein, auch wenn dies zur
Konsequenz hat, daß ein aus dem Web kopiertes Bild auf
einer anderen Website oder in einer Verlagspublikation, sei
es wissenschaftlicher oder anderer Art landet. Digitalisate
sollten aus wissenschaftlichen Gründen immer mit
größtmöglicher Qualität angeboten werden - rechtliche
Vorbehalte verkennen den entscheidenden Punkt: daß es sich
um kulturelles Allgemeingut handelt. Digitalisierung ist
daher immer auch ein Stück dringend gebotener Bürgernähe.

Quelle:
http://www.listserv.dfn.de/cgi-bin/wa?A2=ind0403&L=hexenforschung&P=R1430&I=-3
 

twoday.net AGB

xml version of this page

powered by Antville powered by Helma