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Kassationsentscheidungen der Archive werden leider so gut wie nie öffentlich diskutiert.

Ich erinnere mich an einen Artikel der ZEIT wohl aus den 1990ern, bei dem es um die Vernichtung von ästhetisch wertvollen Firmenbriefköpfen durch das Hamburger Staatsarchiv ging.

Ob es zu dem mit beträchtlichem öffentlichen Wirbel verbundenen Fall der Vernichtung von NS-Gerichtsakten außer anmerkungsweiser Erwähnung durch Robert Kretzschmar eine publizierte archivfachliche Debatte gab, ist mir nicht bekannt. Ich möchte es eher kategorisch verneinen.

Auf den Casus spielt Lorenzen-Schmidt in einem Interview an:
"Die Übervorsichtigkeit im Hause wurde noch gesteigert durch den nicht ganz archivgerechten Umgang mit Gerichtsüberlieferungen aus der Nazizeit, die von einem Nicht-Archivar nach groben Vorgaben des Staatsarchivs auf Archivwürdigkeit überprüft wurden. Die Kassationsentscheidung wurde ruchbar und gelangte auch an die Öffentlichkeit." Inzwischen aber herrsche ein "positives Klima" in Hamburg für Kassationen und Nachkassionen.
http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/25/transf_hanke.pdf

Einige Zitate aus Presseveröffentlichungen:

Hamburger Abendblatt 28. Juli 2006
"Rosenkranz möchte, daß die Menschen mehr über das Schicksal der homosexuellen Opfer erfahren. [...] Ende der 80er Jahre wurden zwar 100 000 NS-Akten freigegeben, doch dem damaligen Leiter des Hamburger Staatsarchivs waren die Schwulenakten zuviel, und er ließ 1996 Tausende davon vernichten, was ihm nicht einmal eine Rüge einbrachte, obwohl der skandalöse Fall den sogar Rechtsausschuß der Bürgerschaft beschäftigte. "Durch diesen unbedachten oder beabsichtigten Ordnungsakt wurden die Opfer ein zweites Mal vernichtet", meint Rosenkranz. Er wird nicht lockerlassen. Ende der achtziger Jahre wurden viele Akten von schwulen NS-Opfern weggeworfen - angeblich hatte das Archiv keinen Platz."

taz, die tageszeitung Mai 22, 1996

NS-Justizgeschichte im Reisswolf
Von Silke Mertins

Nicht archivwuerdig: NS-Strafakten ueber Schwule werden teilweise vernichtet

"Ein Sturm der Empoerung von WissenschaftlerInnen und Homosexuellenverbaenden ist ueber das Hamburgische Staatsarchiv und die Justizbehoerde hereingebrochen: Wie kann man ueberhaupt nur in Erwaegung ziehen, den einmaligen Hamburger Gluecksfall eines fast vollstaendigen NS-Strafaktenbestands zerstoeren zu wollen? Der Senat konnte und wollte. Im Rahmen der Ueberfuehrung der NS-Akten in den Bestand des Staatsarchivs - die Aufbewahrungspflicht war abgelaufen - wurde nach Pruefung der "Archivwuerdigkeit" aussortiert und bei Bedarf dem Reisswolf uebergeben. Betroffen sind vor allem Verfahren nach Paragraph 175: Verfolgung von Schwulen. Sie machen den groessten Teil des Aktenbestandes aus.

Nur "Bagatell-Delikte" und Verfahren, in denen keine politische oder Minderheitenverfolgung erkennbar seien, wuerden nach Einzelfallpruefung vernichtet, hiess es. "Das hat sich als Luege entpuppt", so GALierin Sabine Boehlich. Denn jetzt, so geht aus der Antowrt auf eine GAL-Anfrage hervor, gibt der Senat doch zu, dass auch andere Akten, naemlich strafrechtliche Verfolgung nach Paragraph 175, nicht weiter aufbewahrt werden und somit fuer die wissenschaftliche Forschung fuer immer verloren sind.

"Die Aussagekraft der Akten ist sehr unterschiedlich: Viele lassen nur ein routinemaessiges Verfahren erkennen", heisst es in der Senatsantwort. Wo Tatbestand und Urteil stark verkuerzt seien, reiche eine beispielhafte Aufbewahrung. Soll heissen: Der Rest wird vernichtet.

Ein Teil der historisch bedeutsamen Akten schwuler Geschichte geht verloren. Gleichzeitig wird ein einzigartig komplettes NS-Justizarchiv zerstoert, obwohl heute gar nicht absehbar ist, welchen Erkenntnisinteressen diese Dokumente, selbst "Bagatell-Delikte", fuer ForscherInnen des 21. Jahrhunderts haben koennten. Schliesslich, so die KritikerInnen, habe sich vor 15 Jahren auch noch niemand fuer das heute zentrale Thema Alltagsgeschichte interessiert."

Süddeutsche Zeitung 4. April 1996
Leserbrief von Sabine Boehlich
"In seiner Antwort auf eine von meinen drei Kleinen Anfragen hat der Senat selber zugegeben, dass auch Strafakten ueber Verfahren nach Paragraphen 175 und 175a vernichtet wurden. Dies kann nur bedeuten, dass das Hamburger Staatsarchiv die Paragraphen nicht fuer typisches NS-Recht haelt oder aber den u. a. mit der Justizbehoerde und der Forschungsstelle fuer die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg verabredeten Kriterien fuer die Aufbewahrung von Akten bei der tatsaechlichen Bearbeitung nicht gefolgt ist."

SZ 30. März 1996
Leserbrief
"Dass der in seiner Vollstaendigkeit einmalige Hamburger Bestand an NS -Strafjustizakten geschlossen haette erhalten werden muessen, ist nicht nur Prof. Dr. Finzschs Ansicht. Zahlreiche renommierte deutsche und internationale Zeithistoriker haben inzwischen entsprechende Protestbriefe an den Hamburger Buergermeister gerichtet. Norbert Finzsch hat nie behauptet, dass die meisten der NS-Strafakten gegen Homosexuelle in Hamburg vernichtet worden seien. Streitpunkt ist vielmehr, dass selbst nach den Kriterien, die vom Staatsarchiv fuer die Aussortierung formuliert worden waren, keine Akte haette vernichtet werden duerfen, in der Angehoerige verfolgter Minderheiten als Taeter oder Opfer auftauchen, also auch keine einzige Akte nach Paragraphen 175, 175a.

Diese Kriterien sind jedoch nicht eingehalten worden: Wie bereits in den Antworten auf drei Kleine Anfragen der GAL in der Buergerschaft im Sommer 1995 zugegeben werden musste und auch anderweitig nachweisbar ist, wurden Akten, die sogenannte vergessene NS-Opfergruppen betreffen, dem Reisswolf uebergeben. Dennoch verbreiten Archivleiter Loose und sein zustaendiger Abteilungsleiter, Hans-Wilhelm Eckardt, in oeffentlichen AEusserungen hierzu bis heute die Unwahrheit.

Hinzu kommt, dass nicht einmal die Anzahl und Art der vernichteten Akten dokumentiert wurde, was allen archivarischen Gepflogenheiten - auch bei Massenakten - widerspricht und somit als aeusserst unprofessionelles Vorgehen zu bezeichnen ist. Worauf sich also das blinde Vertrauen des SPD -Kulturpolitikers Kopitzsch (obendrein Historiker von Beruf!) gruendet, er traue dem Staatsarchiv nichts Boeses zu, bleibt sein Geheimnis."

SZ 12. März 1996
Schwere Vorwuerfe gegen Hamburger Staatsarchiv Wichtige Akten ueber Nazi -Opfer vernichtet?. Historiker spricht von wissenschaftlicher Katastrophe - nach Ansicht der Behoerden zu Unrecht

taz 21. Oktober 1995

"Seit 1987 sortiert und katalogisiert eine Arbeitsgruppe der Hamburger Justizbehoerde den insgesamt 100.000 Faelle umfassenden Bestand an Sondergerichts-, Land- und Amtsgerichtsakten, der in einzelnen Jahrgaengen ueber 90 Prozent der gesamten Justizakten der Zeit repraesentiert. Nach und nach sollen die Akten in das Hamburger Staatsarchiv ueberfuehrt werden. Bis heute wurden von 72.100 bewerteten Akten nur 13.600 als bewahrenswert eingeschaetzt. Der Leiter des Hamburger Staatsarchivs, Hans-Dieter Loose, haelt die Angst, Wichtiges koenne verlorengehen, fuer unbegruendet: "Homosexuelle gehoeren wie Juden und Sinti zu den Opfern des Nationalsozialismus. Diese Faelle erhalten wir komplett."

Dieser Darstellung widerspricht der Jurist Klaus Baestlein. Nach seinen Angaben wurden zwar bis vor anderthalb Jahren die Landgerichtsfaelle zum Paragraphen 175 vollstaendig erhalten, bei den Akten des Amtsgerichts hingegen wurde nur eine von drei Akten fuer archivwuerdig befunden. Baestlein muss es wissen: Er leitete bis zum Fruehjahr 1994 die Arbeitsgruppe, die die Archivierung des Aktenbestandes vorbereitete.

Nur "Bagatellfaelle", versichert Baestlein, wuerden aussortiert. Doch gerade sie koennten Aufschluesse ueber das Leben unter nationalsozialistischen Vorzeichen geben - ueber den Alltag. Genau hier liegt auch das Interesse von Sexualwissenschaftlern und Historikern wie Ruediger Lautmann, Martin Dannecker, Hans-Georg Stuemke oder Volkmar Sigusch, deren Appelle, den Aktenbestand einsehen und fuer die sozialhistorische Forschung nutzen zu koennen, bislang ungehoert blieben. Anders als im Falle von Juden oder Roma gibt es bis dato keine umfassenden Studien zum gewoehnlichen Alltag gewoehnlicher Homosexueller unter dem Hakenkreuz: Gab es Lokale? Wie schuetzte man sich vor Razzien? Gab es Solidaritaet untereinander? Oder Denunziatonen? Oder auch: Welche Richter taten sich besonders hervor, pikante Details zu erfragen? Wessen Urteile fielen drakonisch aus, wer hingegen liess ab und an Milde walten?

Vielleicht ruehren diese Fragen auch an ein Tabu der westdeutschen Erfolgsgeschichte nach dem 8. Mai 1945: Ueber die Rechtsprechung gegen Homosexuelle durch die NS-Justiz zu reden hiesse zugleich, ueber die juristische Verfolgung Schwuler durch die Nachkriegsbehoerden bis 1969 nicht schweigen zu koennen. Bekanntlich sind nur wenige Homosexuelle, die in Konzentrationslagern den Rosa Winkel tragen mussten, entschaedigt worden."

Siehe auch:
taz 13. Juli 1995, 10. August 1995.

Weitere Informationen aus dem Lager der Gegner der Kassationen (mit Replik des Staatsarchivs):
http://www.stefanmicheler.de/wissenschaft/art_archiventsorgung_1997.html

Detaillierte Kritik der Kassationen (1999):
http://www.stefanmicheler.de/wissenschaft/art_aktenvernichtung_1999.html
 

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