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Heimo Reinitzer widmete der mutmaßlichen Schreiberin der Hamburger Handschrift Cod. 105 in scrinio, Gertrud von Büren, einen Artikel in der zweiten Auflage des Verfasserlexikons (²VL). Bisherige Versuche, diese Person zu identifizieren, waren erfolglos.

2009 stieß ich bei der Durchsicht des Linzer Handschriftenkatalogs von Konrad Schiffmann (maschinenschriftlich 1935), der im Netz als PDF einsehbar ist, zur Handschrift 224 der Oberösterreichischen Landesbibliothek in Linz auf einen identischen Schreiberinnenvermerk: Bitte vor die arme schrieberynne (daneben nachträglich: Gertrut von Buren). Dr. Rudolf Lindpointner (Oö. LB) versorgte mich kostenlos mit zwei Digitalfotos der Handschrift und stellte in Aussicht, dass Linzer Handschriften in naher Zukunft digitalisiert würden, was ich damals eher als Zukunftsmusik abtat. Als ich einige Zeit später mit Gisela Kornrumpf telefonierte, stellten wir fest, dass wir beide die gleiche Identifizierung vorgenommen hatten. Übrigens hatte schon Sigrid Krämer in ihren "Scriptores" (Datenbank) die Hamburger und die Linzer Handschrift zusammengeführt.

Inzwischen sind aus dem 9. bis 16. Jahrhundert 12 Linzer Handschriften in guter Qualität digitalisiert, darunter auch Hs. 224:

http://digi.landesbibliothek.at/viewer/image/224/1/LOG_0000/

Eine moderne Gesamtbeschreibung existiert nicht, laut Handschriftencensus hat sich nur Niedema mit den aufschlussreichen Texten des Bandes befasst:

http://www.handschriftencensus.de/12589

Ich ergänze im folgenden den Text des Schiffmann-Katalogs, soweit ich zusätzliche Informationen beibringen kann.

1. Bl. 1r-94v Mechthildenbuch, deutsch. – Bl. 94v: Hie endet sich sant Mechtildis leben. Geschrieben in dem jare unsers herren MDXXIX und geendet an sant Marien Magdalena
abent. Bitte vor die arme schrieberynne (daneben nachträglich: Gertrut von Buren).


Es handelt sich um Mechthild von Hackeborn: 'Liber specialis gratiae', dt.
http://www.handschriftencensus.de/werke/5035 (ohne diese Hs.)

Eine nähere Bestimmung mit zumutbarem Aufwand ist aussichtslos, da die textgeschichtlichen Untersuchungen von M. Zieger, auf die sich Margot Schmidt im ²VL 6 (1987), Sp. 256f. bezieht, leider nie erschienen sind.

Die von Marcus von Weida herausgebrachte Übersetzung Leipzig 1503 ist in München online.

2. Bl. 95r-124r Buchlyn der Verglichung der jungfrauwen und des Martyrers, deutsch. – Bl. 95r: Den wirdigen und andechtigen jungfrauwen, der mater und gemeynen versamelunge zu Fischbach wunscht her Just Kleyn gnade und friede von got dem vatter und heil von Christo Ihesu unserm herren. Am Schl.: Datum Keysersluttern den XII. tag Augusti MCCCCCXXIX. –
Bl. 96v: Erasmus von Roterdam wunscht heil in Christo Jesu der ... und aller junfrauwen cron der versammlunge der jungfrauwen zum Machabeer zu Cöln. – Bl. 124r: Hie hat ein end des buchlyn der verglichung der jungfrauwen und des Martyrers. – Hierauf die Namen der sieben Makkabäer Brüder.


Jost Klein übersetzte den Sendbrief des Erasmus von Rotterdam 'Virginis et martyris comparatio' an die Benediktinerinnen des Kölner Makkabäer-Klosters (erweiterte Fassung 1524, zum Text siehe etwa hier oder hier). Digitalisat einer Ausgabe von 1529:
http://www.erasmus.org/index.cfm?fuseaction=eol.detailfacsimile&field1=id&value1=3326&djvupage=279

Die Übersetzung ist wie zu erwarten nicht mit der des Georg Carpentarius identisch (Digitalisat der Ausgabe Basel 1525).

3. Bl. 124v-130r Den jungen menschen in Christo von der demudigkeit, deutsch.

Nicht identifiziert.

4. Bl. 130r-142 v Der geistliche mynnen brieff, den Jhesus Christus konig der glorien sendet zu seiner brut, der mynnenden selen, deutsch. – Bl. 142v: Bittet got vor die arme schriberyn.
In anno Dom. MCCCCCXXXIX.


Es handelt sich offenbar um eine hochdeutsche Übersetzung des mittelniederländischen geistlichen Minnebriefs, von dem sieben Inkunabelausgaben ab ca. 1491 bezeugt sind (GW, Nachweis einer Ausgabe Antwerpen 1530 hier; handschriftlich (wohl Druckabschrift) in Edinburgh, UB, Ms. 65 von ca. 1530/40
Katalog). Zur Identifizierung lagen mir nur die kurzen Angaben von Willem Moll 1867 vor.

5. Bl. 143r-174r Hie begynnet Nicodemus ewangelium von der passien unsers herren Jhesu Christi, deutsch. – Bl. 174: Hie endet sich Nicodemus ewengelium, geschrieben anno Dom. MDX [X] IX. Bit got vor arme schriberynne umb die lieb Jhesu. Bl. 174v leer.

Die einschlägige Sekundärliteratur zum 'Evangelium Nicodemi', die wohl eine nähere Einordnung erlaubt hätte, habe ich nicht eingesehen, daher nur Hinweis auf

http://www.handschriftencensus.de/werke/2123 (ohne diese Hs.)

6. Bl. 175r-219r Hernach steit geschriben die gnade und ablass, auch das heilthum by den sieben haubtkirchen und allen kirchen zu Rom und vil wonderzeichen und geschicht zu Rom
ist, auch alle staciones in kirche uber jar, deutsch. – Bl. 219: Hie endet sich der ablass, geschriben uss dem druck, der zu Rom in der stat getrucket ist, und ist abgeschriben in dem jar unsers heren dusent D und XXIX und geendet an der heiligen jungfrauwen sancta Clara dag. – Bl. 200 ein Passus über die Päpstin Johanna.


Entgegen den Vorschlägen von Falk Eisermann hat der Handschriftencensus darauf verzichtet, die Druckabschrift ausdrücklich zu kennzeichnen. Ab ca. 1475 gab es über 50 deutsche Drucke von 'Historia et descriptio', so Nine Robijntje Miedema, Die 'Mirabilia Romae'. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung mit Edition der deutschen und niederländischen Texte (MTU 108), Tübingen 1996, S. 204. Nur für diesen Text der Handschrift liegt eine moderne Einordnung (eben durch Miedema 1996, S. 113f.) vor.

7. Bl. 219v-222r Von eyner andechtigen mollerin, deutsch. – Inc.: Zwen priester prediger ordens. Expl.: un eyn schopphe der heiligen drifoltigkeit.

'Von einer frommen (seligen) Müllerin'

http://www.handschriftencensus.de/werke/636 (ohne diese Hs.)

Zum Incipit siehe etwa hier.

8. Bl. 222r-223r Diss ist uss dem buch der geistlichen liebe. Merck es wol, deutsch. – Inc.:
Dieser brudigam, da er nicht die lufft. Expl.: und schicken myn hertze zu dem springen des
brudigams. Deo gracias. Hierauf vier Schreiberverse. Bl. 223v leer.


Nicht identifiziert.

Kodexbeschreibung:
Saec. XVI (Bl. 94v,96v,142v,174v,219r : 1529), Pap., 205x160, 223 Bll. – Lagen zu 8 (1-7,9-28) u. 6 (8) Bll. Am Schl. ein Bl. dazugeheftet. – Holzdeckel mit braunem Lederüberzug.
Blindpressung (französ. Lilien?), Rücken erneuert. Schliesse abgebrochen. Deckbll. aus einem theol. Traktat saec. XII. – Grössere Initialen in bunten Farben Bl. 1r, 3v, 22v, 95r, 96v,
124v, 130v, 143r, 175r, 193v. Ranverzierung Bl. 1r u. 143r. – Aus Gleink, Bl. 1r: Monasterii Glunicensis.


Konrad Schiffmann, Die Handschrift des Linzer Entechrist, in: ZfdA 59 (1922), S. 163f. archive.org meinte, er dürfte die hier besprochene Handschrift und vier weitere deutschsprachige Codices zu einer "landfremden" Gruppe des Gleinker Bestands zusammenstellen.

1. unsere Handschrift

2. angebl. Historienbibel = Hs. 471 Lauber
http://www.handschriftencensus.de/12586

3. Brevier = Hs. 19
http://www.handschriftencensus.de/10465

4. Brevier = Hs. 116
http://www.handschriftencensus.de/12590

5. Entechrist = Hs. 33
http://www.mr1314.de/1546

Diese Hypothese bedarf der kritischen Überprüfung.

Den Datierungen in der Handschrift zufolge ist sie wohl vor allem im Lauf des Jahres 1529 niedergeschrieben worden. Miedema S. 113f. verweist auf einen Wasserzeichenbefund, der dazu passt (verschiedene Kronen u.a. Piccard III 24 von 1516/28).

Da Jost Klein (es gab in Kaiserslautern irgendwann anscheinend einen Pfarrherr dieses Namens, belehrt mich ein Google-Schnipsel) seine Übersetzung den Nonnen von Fischbach widmete, möchte ich Fischbach als Schreibort annehmen. Sonderlich viel Literatur gibt es über den 1471 von Höningen aus gegründeten Konvent der regulierten Chorfrauen nicht (Wendehorst/Benz JfL 1996; Remling, Abteien II, 1836). Er gilt aber als windesheimischer "Musterkonvent". Deute ich Google-Schnipsel aus Berigers Arbeit über Rutger Sycamber richtig, so lobte dieser die Frömmigkeit der Fischbacher Nonnen.

[Zum Windesheimer Musterkonvent Fischbach siehe Joachim Kemper, Klosterreformen 2005 S. 311ff.
http://www.mittelrheinische-kirchengeschichte.de/downloads/text.pdf ]

Während Forscher wie Werner Williams in der Linzer Handschrift vielleicht eine "Spätblüte" der Ordensreform manifestiert finden würden, wiederhole ich, was ich zu Thomas Finck ausführte: Handschriften aus den Jahrzehnten um 1500 müssen zuallererst als Kinder ihrer Entstehungszeit gesehen werden, was einen kurzschlüssigen Verweis auf die monastische Reformbewegung ausschließt. Nicht weniger wichtig waren das Aufkommen des Buchdrucks, die "Frömmigkeitstheologie" und der Humanismus. Der Kaiserslauterer Kleriker übersetzte eine Erasmus-Schrift für die Fischbacher Nonnen, der Mirabilia-Teil ist eine Druckabschrift, vermutlich ist das auch der geistliche Minnebrief.

Über die Hamburger Handschrift Cod. 105 in scrin. (Handschriftencensus) unterrichtet zusammenfassend der Katalog "Von Rittern, Bürgern und Gottes Wort" (Kiel 2002, PDF), in dem sich auch eine Farbabbildung auf S. 27 befindet. Die Hamburger Handschrift ist sorgfältiger geschrieben als die Linzer, trotzdem möchte ich nicht ausschließen, dass beide - mehrere Jahrzehnte auseinander - von der gleichen Hand stammen. Ich möchte mich dafür aber auch nicht verbürgen.

Derzeit befassen sich keine Forscher mit der Evangelienübersetzung. Nach dem Erscheinen des Kataloges "Von Rittern, Bürgern und von Gottes Wort" ist nicht mehr über den Codex gearbeitet worden. Lediglich Carola Redzich, die die Beschreibung seinerzeit erstellte, hat in ihrer Dissertation die Hs. nochmals herangezogen: Carola Redzich: Apocaypsis Joannis tot habet sacramenta quot verba. Studien zu Sprache, Überlieferung und Rezeption hochdeutscher Apokalypseübersetzungen im späten Mittelalter. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 137). München 2010. (Mitteilung der SUB vom November 2011).

Die Hamburger Handschrift nennt die Jahreszahl 1404, was man üblicherweise in 1504 korrigiert. Das älteste Papier ist nicht vor 1480 hergestellt worden. In beiden Handschriften wird der Schreiberinnenname gertrut von buren von anderer Hand nachgetragen. Die mittelrheinische Schreibsprache der Hamburger Handschrift würde gut zu einer Entstehung in Fischbach passen.

Daher erscheint es mir vorerst plausibel, die Hamburger und die Linzer Handschrift der Schreiberin Gertrud von Buren aus dem Windesheimer Chorfrauenstift Fischbach bei Kaiserslautern zuzuweisen, womit das Rätsel der Herkunft dieser Schreiberin gelöst wäre.

In jedem Fall haben wir aber mit der Linzer Handschrift ein kostbares, weil extrem seltenes Zeugnis zur Pflege deutschsprachiger Literatur in Pfälzer Frauenklöstern gewonnen.

Alle Türchen 2011

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