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Die folgende Rezension erschien in der Zeitschrift für Volkskunde, Jahrgang 110, Heft 2, 2014, S. 344-346.

Nils Grosch: Lied und Medienwechsel im 16. Jahrhundert.
Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2013, 206 S., 56
Schwarzweißabb. (Populäre Kultur und Musik Bd. 6).

“Über das Alter der Populären Musik, die Erfindung des
‘Volkslieds’ und die Konstruktion von ‘Tenorliedern’”. Die
Überschrift des ersten Kapitels - eine Einleitung gibt es
nicht - zeigt die Richtung an, die diese Basler
musikwissenschaftliche Habilitationsschrift von 2009
einschlägt. Sie siedelt im Überschneidungsbereich von
Musikwissenschaft, Mediengeschichte, Volkskunde und
Literaturwissenschaft.

Während die Erforschung moderner Populärer Musik diese vor
allem als Industrieprodukt begreift, hat der - seit
längerem in Misskredit geratene - Volkslied-Begriff seinen
Gegenstand ahistorisch und ohne Bezug auf den
mediengeschichtlichen Kontext konstruiert. Herders
Volkslied war eine ästhetische Kategorie, die das gesamte
Volk als Kulturgemeinschaft meinte. Im 19. Jahrhundert
wurden die Volkslieder dann zu Liedern des einfachen Volks
umgewertet. Musikwissenschaftlich korrespondiert diesem
Prozess die Etablierung des sogenannten “Tenorlieds”, das
definiert wird als eine “umfassende Kategorie für die
überlieferten, mehrstimmigen Kompositionen über
deutschsprachige Texte von der Mitte des 15. bis zur Mitte
des 16. Jahrhunderts” (S. 23). Die Tenorstimme
mehrstimmiger Lieder hat man regelmäßig als Volksliedbeleg
gewertet (S. 27). Grosch lehnt die Tenorlied-Theorie (in
der NS-Zeit gern: “deutsches Tenorlied”) als “ideologisch
motiviertes Konstrukt” ab (S. 31) und betont die
industrielle Produktion und kommerzielle Distribution
populärer Musik.

Nach erfolgreicher Aufräumarbeit unternimmt es Grosch, im
zweiten Kapitel die Rolle des Lieds in der
‘Gutenberg-Galaxis’ (McLuhan) zu bestimmen. Da
Gattungsdifferenzierungen für das (weltliche) Lied wie
Volkslied, Gesellschaftslied, Kunstlied oder Hofweise die
Gefahr zirkulärer Argumentation mit sich bringen,
bezeichnet er die Gattung einfach als Lied. Er behandelt
Liederhandschriften, Liedflugschriften und überwiegend mit
Noten versehene gedruckte Liederbücher, die zunächst im
Mehrphasendruck vervielfältigt wurden. In den 1530er Jahren
setzte sich als technologische Innovation der
Einphasendruck mit beweglichen Lettern durch.

Um die Rezeption und den Gebrauch des Lieds geht es dem
dritten Kapitel, das auf die Erweiterung der Abnehmerkreise
ebenso aufmerksam macht wie auf den “Standortwechsel als
Medienwechsel” (vom Hof in die Stadt). Lieder spielten in
der Jugendkultur eine besondere Rolle und wurden als
Medienobjekte nicht nur als Vorlagen für das Singen
geschätzt.

In fünf detailreichen Fallstudien, allesamt
weitverbreiteten Liebesliedern gewidmet, wird jeweils nach
dem“konstruktiven Anteil der Medien an der Realität und
Praxis des Liedes” (S. 109) gefragt. Den Schlussabschnitt
(“Das Lied im intermedialen Transkriptionsprozess”) hätte
man wohl auch etwas weniger ambitioniert und wesentlich
konziser abfassen können.

Der ständige Verweis auf die mediengeschichtlichen
Rahmenbedingungen (prägend waren vor allem die Studien von
Michael Giesecke) ist vor dem Hintergrund ihrer
Vernachlässigung in der Forschungsgeschichte über lange
Zeit mehr als verständlich. Grosch ist davon überzeugt,
dass der “Medienapparat die kulturelle Kommunikation immens
prägte und dabei die Gattung Lied nicht nur selbst als
Medium nutzte, sondern sie auch in anderer Gestalt,
Erscheinungsform und Funktion entließ, als er sie
vorgefunden hatte” (S. 67). Eine bedeutende
Grundlagenarbeit für alle Beschäftigung mit dem weltlichen
Lied des 16. Jahrhunderts stellt die 1974/75 erschienene
zweibändige Monographie des Volkskundlers Rolf Wilhelm
Brednich zur Liedpublizistik dar, der im Jahrbuch für
Volksliedforschung 1974 “Das Lied als Ware” präsentierte.
Dass Grosch immer wieder die Einbindung in ein
“frühkapitalistischen Netzwerk” (S. 80) unterstreicht und
das Lied als kommerzielles Industrieprodukt bestimmt, wirkt
jedoch ein wenig einseitig.

Fundiertes über die Rolle der Mündlichkeit hat Grosch nicht
zu sagen, da er das Lied vor allem als Gegenstand medialer
Verbreitung in den Blick nimmt. Literaturwissenschaftliche
Studien wie die von ihm nicht rezipierten Arbeiten von
Harald Haferland haben sich aber durchaus zeitgemäß mit
mündlicher Varianz befasst.

Die Rolle des Performativen (also den Aufführungs-Aspekt
bzw. das gemeinschaftliche Singen) spielt Grosch herunter,
während er individuelle und private Nutzungen aufwertet.
Tabulaturdrucke sieht er als “Versuch interaktionsfreier
Kommunikation von Musik” (S. 71, vgl. auch S. 85), der das
Selbstlernen an die Stelle der persönlichen Unterweisung
durch einen Lehrer setzen wollte. Neben der Aufführung sind
auch “ganz andere Formen des Gebrauchs - Lesen, Kodieren,
Verschenken, Sammeln usw. - “ in Rechnung zu stellen (S.
103). Liederhandschriften dokumentierten die individuellen
Vorlieben der Besitzer. Angemerkt sei, dass sowohl das
Phänomen der “Liederstammbücher” (S. 47) als auch der
Erwerb von Lieder-Kleindrucken als Erinnerungsstücke, die
das “Habhaftwerden eines eigentlich flüchtigen
performativen Ereignisses und dessen Verlängerung in das
Privatleben hinein” ermöglichten (S. 51), eng mit der
Erinnerungskultur des 16. Jahrhunderts in Verbindung
stehen.

Offensichtlich sei, “dass der Zweck von Musikbüchern und
Flugschriften im Bereich der individuellen Adaption bis hin
zur Identifikation und Persönlichkeitsbildung liegt und
somit aufführungspraktische Zwecke im Sinne professioneller
Musikpraxis in den Hintergrund treten” (S. 91). In das
Gesamtbild des damaligen “populären” Musiklebens gehört
aber auch eine Erscheinung stadtbürgerlicher Provenienz,
die auf das Performative setzt und eben nicht von höfischen
Kreisen oder einem Patriziat getragen wird: der von
Handwerkern in Gesellschaften praktizierte Meistersang.

Für den Historiker spannend sind die Ausführungen zum “Sitz
im Leben” des Lieds. Im Rahmen einer “Geschichte der
Freizeit” ist der Befund zu beachten, dass Liedersingen als
hochwertige Alternative zu dem “grossen unfletigen
sewischem sauffen und zenckischem haderischen spilen” (so
Georg Forster 1549, zitiert S. 93) geschätzt wurde.
Mehrstimmige Liebeslieder hatten einen wichtigen Platz
schon in der damaligen Jugendkultur. Oberflächlich bleibt
Groschs Analyse hinsichtlich der “Propagierung einer neuen
Moral” (S. 96) - der Historiker war es lange gewohnt, an
dieser Stelle die (inzwischen doch recht umstrittene)
“Sozialdisziplinierung” als Trumpf-As aus dem Ärmel zu
ziehen. Überhaupt kommt die Reformation als
mediengeschichtlicher Faktor so gut wie nicht vor.

Wenn ich recht sehe, liegt die Erforschung der Sozial- und
Kulturgeschichte der frühneuzeitlichen Musikpraxis fast
ausnahmslos in den Händen der Musikwissenschaftler, während
literarische Praktiken nicht selten auch aus
geschichtswissenschaftlicher Perspektive untersucht werden.
Groschs anregende Hinweise auf Freizeitverhalten und
Jugendkultur könnten solche musikhistorischen Studien
inspirieren.

Die großen Linien herauszuarbeiten ist wichtig. Trotzdem
möchte ich einige formale Mängel nicht unter den Tisch
fallen lassen. Im Literaturverzeichnis sind manche Lücken
und eine sehr selektive Berücksichtigung der nach 2009
erschienenen Arbeiten zu konstatieren. Dies betrifft
insbesondere den 2010 erschienenen wichtigen Sammelband
NiveauNischeNimbus, aus dem Grosch nur zwei Beiträge von
Andrea Lindmayr-Brandl und Nicole Schwindt ins
Literaturverzeichnis aufgenommen hat, nicht aber seinen
eigenen Aufsatz oder die buchgeschichtliche Studie von
Hans-Jörg Künast.

Ergänzend zu musikwissenschaftlichen Referenzwerken hätte
unbedingt das VD 16 zitiert werden müssen. Wenn häufig eine
unveröffentlichte Datenbank von Eberhard Nehlsen 2003 als
einziger bibliographischer Verweis angegeben wird (obwohl
manchmal “Nehlsen 2008f.” am Platz gewesen wäre), stellt
sich die Frage: Cui bono? Im Einzelfall hätte Grosch
gründlicher recherchieren müssen, was bei Nutzung von
Internetressourcen auch ohne weiteres möglich gewesen wäre.
Beispielsweise ist der älteste Einblattdruck von “Entlaubet
ist der Walde” (S. 156) ganz bestimmt kein Produkt von
Konrad Dinckmut (nicht: Dinckmuth) 1496. Der beigegebene
Holzschnitt wird von Matthäus Elchinger in Augsburg ca.
1523/30 verwendet, was einen Anhaltspunkt für die Datierung
liefert (vgl.
http://gesamtkatalogderwiegendrucke.de/docs/GWXI346A.htm ).
Seit 2002 liegt eine moderne Edition (Chronik der Bischöfe
von Würzburg Bd. 4, S. 280) der S. 49 nach Brednich
zitierten Chronik des Lorenz Fries vor.

Die mediengeschichtlich revolutionäre Ausweitung der
Quellenbasis durch Digitalisate - zu nennen sind vor allem
die Projekte der Bayerischen Staatsbibliothek (Musikdrucke)
und der Staatsbibliothek Berlin (Lieddrucke) - kommt bei
Grosch nicht vor. Er hat noch nicht einmal für die
Drucklegung die paar Internetadressen, die er nennt,
aktualisiert. Ein “Zugriff vom 24.10.2005" in einer 2013
gedruckten Publikation ist nicht gerade vorbildlich zu
nennen. Die schon etwas angejahrte Internet-Anthologie
http://www.lyrik-und-lied.de/, an der Grosch selbst
mitgearbeitet hat (auch in Bezug auf die Lieder seiner
Fallstudien), erwähnt er S. 108 nicht einmal. Schon
mindestens seit Ende 2009 steht ein Digitalisat von Hans
Judenkönigs Tabulaturbuch (1523) im Netz, das Grosch hätte
dazu verwenden können, die ungenaue Wiedergabe eines Zitats
(S. 74 nach Brown 1965) zu korrigieren.

Gleichwohl: ein wertvoller, angenehm straff geschriebener
Diskussionsbeitrag, der auch außerhalb der
Musikwissenschaft gelesen werden sollte.
 

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