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Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), 27.09.2006, von Dr. Jutta Rateike

http://idw-online.de/pages/de/news177138

Bestände müssen für Wissenschaft zugänglich bleiben

Das Land Baden-Württemberg plant im Rahmen eines Vergleichs den Verkauf großer Teile des Handschriftenbestandes der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe. Bei diesen Schriften handelt es sich um fünf Prozent des gesamten deutschen Bestandes dieser einmaligen Schriftquellen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat die Erschließung und Katalogisierung der Handschriften mit rund 1,5 Millionen Euro gefördert und erwartet daher, dass diese Bestände dauerhaft für die Wissenschaft und Forschung zugänglich bleiben. Die DFG appelliert deshalb nachdrücklich an die baden-württembergische Landesregierung, diesen Zugang weiterhin sicherzustellen.

Mittelalterliche und frühneuzeitliche Handschriften bieten Einblicke in die geistige Welt einer vergangenen Epoche und sind daher einzigartige und unverzichtbare Quellen für die geisteswissenschaftliche Forschung. Die langjährige, stetige Förderung der DFG hat mit dazu beigetragen, dass die deutschen Bibliotheken bei der Erschließung von mittelalterlichen Handschriftenbeständen im internationalen Vergleich eine Spitzenstellung erlangen konnten. Diese führende Position ist unverzichtbar mit dem langfristig verlässlichen Zugang der Forschung zum gemeinsamen deutschen Kulturerbe verknüpft. Die DFG erwartet bei der Vergabe von Fördermitteln, dass die geförderten Bibliotheken als zuverlässige Partner ihre Handschriften und Originalquellen für Wissenschaft und Forschung zugänglich machen.

Die DFG fördert die Erstellung von Katalogen zu mittelalterlichen Handschriften im Programm "Kulturelle Überlieferung" seit 1960. Seitdem sind über 200 Kataloge zu thematisch, zeitlich und regional sehr unterschiedlich charakterisierten Beständen erarbeitet worden. Derzeit werden in Deutschland rund 30 Projekte dieser Art gefördert. Seit 1992 wurden die Kataloge auch maschinenlesbar erarbeitet, und ein großer Anteil ist heute im Internet im DFG-geförderten Handschriftenportal http://www.manuscripta-mediaevalia.de entgeltfrei recherchierbar.

Ansprechpartnerin für Fragen zur DFG-Förderung von Handschriftenerschließungen ist Dr. Eva Effertz, Tel. 0228 885-2101, E-Mail: Eva.Effertz@dfg.de .
FeliNo meinte am 2006/09/28 00:01:
Die Stellungnahme der DFG verweist höflich, aber bestimmt darauf, dass das Land Baden-Württemberg Fördermittel aus einer öffentlichen, und damit aus Steuergeldern finanzierten Einrichtung zwar gerne in Anspruch nimmt (hier: zur Erfassung und Veröffentlichung der Handschriftenbestände), gleichwohl bereit ist, eben den Gegenstand, dessen Bereitstellung gefördert wird, zu Geld zu machen - ein Widersinn besonders dreister Art.

In diesem Zusammenhang ist es womöglich nicht falsch darauf aufmerksam zu machen, dass es in Deutschland auch kleinere, gleichwohl als Kulturerbe außerordentlich wertvolle Sammlungen alter Drucke und Handschriften in Staatsbesitz gibt, die durchaus von Attacken, z.B. des internationalen Handels, auf ihre Spitzenstücke (auch einmalige Codizes) nicht ausgenommen sind, zum Beispiel die historischen Gymnasialbibliotheken. Diese nehmen zwar keine Mittel seitens der DFG in Anspruch, sorgen aber im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten nicht nur für die Bereitstellung ihrer Stücke für die Forschung, sondern auch dafür, das Bewusstsein für die Bedeutung der Sammlungen und ihrer Einzelstücke bei dem Nachwuchs, dem ihre Anstalten verpflichtet sind, zu wecken. Deshalb bedürfen diese Sammlungen und deren Beibehaltung an ihrem Ort s der Wahrnehmung (und damit des Schutzes) durch die eindeutige Haltung aller an der Sicherung des kulturellen Erbes verpflichteten Institutionen in diesem Land.

Es ist ein Verdienst dieses Site, den Fall in Baden-Württemberg prominent und kämpferisch aufbereitet zu haben; damit wird Zuversicht geschaffen. 
Ladislaus meinte am 2006/09/28 09:10:
Wenn – wie z. B. in Ravensburg gerade geschehen – sogar ein humanistisches Gymnasium eine vollständig erhaltene Lehrerbibliothek aus der Entstehungszeit der Schule (hier nur um 1900, aber das macht dann auch keinen Unterschied mehr) ohne jedes Gefühl für die gesellschaftliche Verantwortung und das anvertraute Eigentum verschleudern, verschenken und auf den Müll tragen kann, nur weil man das Lehrerzimmer erweitern will und die Bücher von irgendwelchen Fachlehrern als "für den Unterricht unbrauchbar" klassifiziert werden – dann braucht man sich nicht wundern, wenn der Nachwuchs von solchen Lehrern keinerlei Gefühl mehr für die Überlieferung von Kulturgut vermittelt bekommt.

Aus solchen Schulen kann dann eigentlich nichts anderes herauskommen als Ignorantentum vom Schlage eines Günther H. Oettinger. Es wäre schön, wenn sich allgemein da ein anderes Bewusstsein durchsetzen würde. Vor den oft mehr oder wenig ehrenamtlich, gegen allerlei Widerstände tätigen und gegen das Unverständnis ganzer Kollegien und Schulträger ankämpfenden Bewahrer der historischen Gymnasialbibliotheken empfinde ich große Achtung. Ich appelliere an den Philologenverband und andere Verbände, aktiv das Bewusstsein für das an Schulen aufbewahrte Kulturgut zu stärken. 
FeliNo antwortete am 2006/09/28 21:55:
Ein Fall wie der oben geschilderte ist beklagenswert; gleichwohl ist nicht zu vergessen, wie verschieden die jeweiligen Historien der Anstalten und vor allem die gegenwärtige höchst angespannte Situation im Bildungsbereich sich in den Maßnahmen der Behörden in den einzelnen Ländern niederschlägt.

Einen Mangel an Bewußstsein zu beheben, wie oben gefordert, bedarf der Unterstützung von außen, von allen zuständigen Verbänden und Interessengruppen. Selbst für Anstalten mit einer Tradition von 250 Jahren und mehr ist es nicht ohne weiteres möglich, ein Bewußtsein für "das anvertraute Eigentum" mit den Mitteln derzeit obligater "evaluierbarer Zielvereinbarungen" zu schaffen, in denen alte Schriften und verstaubte Drucke nicht vorgesehen sind; das Bemühen erfordert Risikobereitschaft, Neugier und Frustrationstoleranz. Und einen langen Atem, selbst wenn Sie das Glück haben, nicht nur geduldet, sondern gefördert zu werden in Ihrem Bemühen.

Die Lehrpläne der Naturwissenschaften haben keineswegs überall auch deren Historie im Programm. Die Altphilologen lehren am Gymnasium "klassisches" Latein und Griechisch; Mittel- oder Neulatein sind der Luxus eines zufällig darin Bewanderten. Der Literaturunterricht klammert seit 30 Jahren Mittelalter und Renaissance aus; eine gute Antwort auf die Frage eines 9.-Klässlers angesichts einer Inkunabel mit der lateinischen Übersetzung von Brants "Narrenschiff", ob die auch Literatur verfasst hätten im 15. Jahrhundert, ist deshalb womöglich derzeit von einem Deutschlehrer selbst an einer Traditionsanstalt wohl kaum zu verlangen. Und wenn doch: von wem? Sind Sie sicher, dass die Kollegen in Ravensburg jemals Gelegenheit hatten zu lernen, die Fraktur der "für den Unterricht unbrauchbaren" Bücher aus dem 19. Jahrhundert überhaupt lesen zu können? 
Ladislaus antwortete am 2006/09/28 22:47:
Ich hab's sonst nicht so mit dem Kulturpessimismus, aber das alles stimmt mich doch traurig. Tatsächlich: meine Lehrer konnten in den 1990er Jahren kaum Fraktur lesen, und wohl kein einziger der nach 1950 geborenen die deutsche Schreibschrift. Ich konnte das damals schon halbwegs schreiben. Es ist wie so vieles eine Frage des Wollens. (Auch eine Bemerkung in der neuesten Nummer der regionalgeschichtlichen Zeitschrift "Im Oberland" lässt mich stutzen: da wird doch tatsächlich jemandem für die Transkription der Frakturschrift gedankt.) Aber das alles ist wohl wirklich zuviel verlangt: mein Deutschlehrer korrigierte "Etymologie" in "Ethymologie", und mein Mathelehrer – frisch von der Uni – hatte das Wort "Fraktal" noch nie gehört. Andererseites weiß ich von einem Lehrer, der im Fach Geschichte zuallererst die deutsche Schreibschrift lehrt, die dann begeistert als "Geheimschrift" beim Zettelchentauschen in anderen Fächern verwendet wird und andere Lehrer vor größere Entzifferungsschwierigkeiten stellt, was wiederum diebische Freude auslöst... ;-)

Aber mal ganz ehrlich: dass es jedem Menschen von Bildung einen Stich ins Herz geben muss, mehrere Regalmeter Bücher des 18. und 19. Jahrhunderts auf den Müll zu tragen, halte ich für unabdingbar. Wer das nicht fühlt, sollte jedenfalls außerhalb eines Gymnasiums sein berufliches Glück suchen. Und wenn die Ehefrau eines scheidenden Rektors einer humanistischen Lehranstalt auf die Frage nach einem Buchwunsch zur Verabschiedung nur "Lesen tut er eigentlich eher nicht" antworten kann (das wurde mir sehr glaubhaft von einem Elternvertreter erzählt), dann läuft etwas ganz grundlegendes falsch mit der gymnasialen Bildung in diesem Land.

Dass die Geschichte der Naturwissenschaften nicht gelehrt und nicht gekannt wird, halte auch ich für einen riesigen Fehler, und vor allem für einen didaktischen Fehler. Ein Beispiel: die spezielle Relativitätstheorie ist nicht so einfach zu verstehen, und ihre Bedeutung für die meisten wohl nur zu erahnen. Aber wenn David Bodanis in seinem Buch "Bis Einstein kam" zu jedem einzelnen Bestandteil der berühmten Gleichung (zu E, m, c, dem "Quadrat" und dem Gleichheitszeichen) ein Kapitel über den geschichtlichen Weg zu der jeweiligen Erkenntnis schreibt, werden die drögen Formeln lebendig und verstehbar. Irgendwelche Enzym-Namen im Fach Biologie auswendig zu lernen, war außer den Bundesjugendspielen die größte Verschwendung von Lebenszeit, die mir je zugemutet wurde. Sowas vergisst der effiziente Schüler spätestens 5 Minuten nach der letzten Klassearbeit. Die Geschichte der Entdeckung der Evolution: das wäre etwas gewesen, das ich mir gemerkt hätte. Ein letztes Beispiel: "Die Vermessung der Welt" belegt seit Wochen Platz 1 der Bestsellerlisten. In dem Buch zeigt sich, dass Wissenschaft viel mit Begeisterung zu tun hat. Kein deutsches Schulbuch konnte mir das je vermitteln. 
FeliNo antwortete am 2006/09/29 01:27:
Lieber Ladislaus, nein: traurig stimmen wollte ich Sie nicht, im Gegenteil: denn ganz zweifellos gibt es überall in diesem Land Schulen, die sich dreist mal über das von der Kultusbürokratie Gedröhnte hinwegsetzen und auch in den Lehrplänen nicht Gefordertes dem ihnen anbefohlenen Nachwuchs nicht vorenthalten. Das Bildungsproblem in diesem Land ist auch nicht das Gymnasium, das Ihnen ja, wie es scheint, zumindest nicht das Denken verleidet hat, sondern die skandalöse Schere zwischen dem Zufall der Geburt, die in D größer ist als in ganz Europa und darüber hinaus.

Worauf ich aufmerksam machen wollte in meiner Antwort ist, dass die Lehrpläne sich auf Ideenlosigkeit zubewegen, die der Kultusbürokratie die Zahlen liefert, die sie braucht für eine Politik, die aus Stundenplänen längst "Einsatzpläne" gemacht hat. Der über eben diese hinaus gebildete Lehrer ist unerwünscht angesichts einer "Erziehungswissenschaft", die allen Ernstes den idealen Lehrer als einen sieht, der wenig weiß (weil er dann nachfühlen kann, wie es einem Schüler geht) und überdies deshalb auch überall "einsatz"-fähig ist; seit Jahren wird beklagt, dass Staatsexamenskandidaten an der Universität mit viel zu viel Sachen überfrachtet seien, die sie hernach gar nicht gebrauchen könnten. Die Begriffe haben Sie doch genannt: "Effizienz" statt "Begeisterung".

Vielleicht - um auf das Thema alter Schriften und Drucke zurückzukommen - hebt es Ihre Laune, wenn ich Sie versichere, dass ich den "Harry-Potter-Effekt" eines alten Kettenbuchs gnadenlos ausnutze, um pubertierende Wüstlinge nicht nur ruhig zu stellen, sondern ihnen auch beweise, dass man statt Fäusten seine Hände auch dazu benutzen kann, so ein altes Ding vorsichtigst so lange umzublättern, bis man das Brandloch gefunden hat :-); wenn die lange genug blättern, fangen die an, den lateinischen Text zu lesen und zu übersetzen. Mit nem "Theuerdank" (1519; Neudruck von 1670) in einer Vertretungsstunde bin ich mal ganz gut angekommen; ein ähnliches Experiment mit dem "Heldenbuch" (letzte Auflage 16. Jh.), in dem bei den Kloppereien vor Jerusalem immerhin überaus plastisch das Blut durch die Ritzen der Rüstungen spritzt, war irgendwie weniger erfolgreich; vielleicht war meine Show mit dem alten Ding auch einfach nicht gut genug.

Der Ausgangspunkt war doch der geplante Verkauf der Handschriften der BLB. Ich finde, dass die Reaktion, die sich die Landesregierung von B-W da bislang eingehandelt hat, eigentlich ganz ermutigend ist. Es geht ja nicht darum, alle Bürger dazu zu bringen, alte Schwarten zu wälzen und auch noch davon begeistert zu sein (ich persönlich schätze durchaus die Weltliteratur meiner Gegenwart). Und wenn "Newton" wenigstens ein Name ist, ist es auch schon gut. Atemberaubend ist doch lediglich, dass sich demokratisch gewählte Herrschaften der "Wirtschaftsseite" von Pappkrönchen beeindrucken lassen und sich bereit zeigen, Einmaligkeiten von Schriften und Schlössern gegeneinander aufzurechnen. 
 

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