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Per Mausklick zum Klassiker
Wer Zitate sucht oder Gedichtzeilen, der wird im Internet fündig. Und
das auch noch umsonst. Nur stecken viele dieser Texte voller
ärgerlicher Fehler.

Von Tilman Spreckelsen

Martina ist eine Frau für Spezialisten. Für Hugo von Langenstein etwa,
der das Leben der Märtyrerin aus dem dritten Jahrhundert gut tausend
Jahre später in einer üppigen mittelhochdeutschen Reimlegende
darstellte. Oder für Adelbert von Keller, den Präsidenten des
"Litterarischen Vereins in Stuttgart", der diese knapp 33 000 Verse im
Jahr 1856 erstmals edierte. Auch für Arno Schmidt, dessen Alterswerk
"Abend mit Goldrand" eine moderne Heldin namens Martina schildert, die
gern aus der alten Dichtung zitiert. Es gibt überhaupt nur noch ein
paar Mediävisten, die das Werk überhaupt kennen. Und natürlich Klaus Graf.

Der Historiker, der in Aachen als Geschäftsführer des Hochschularchivs
arbeitet, hat sich in den letzten Monaten liebevoll um Martina
gekümmert. Als Mitarbeiter der deutschen Sektion des 2003 gegründeten
Wikipedia-Ablegers Wikisource hat er dafür gesorgt, daß der
umfangreiche Text seit vergangener Woche komplett im Internet steht,
von der ersten Zeile "Diz ist sancte Martinun Buoch" bis zur
Selbstauskunft des Autors "Der dis buoch geschriben hat / Der heizit
von sant Gallen Cvonrat" am Schluß des eigentlichen Textes und dem
wissenschaftlichen Apparat Adelbert von Kellers.

Wikisource ist eine von vielen Organisationen, die sich dem Ziel
verschrieben haben, literarische, historische, theologische oder
wissenschaftliche Quellentexte digitalisiert zur Verfügung zu stellen.
Die Bandbreite reicht dabei von umstrittenen Projekten wie "Google
Search", wo bis zum Jahr 2015 insgesamt 15 Millionen Bücher online
zugänglich gemacht werden sollen, über ein Konkurrenzunternehmen des
deutschsprachigen Buchhandels, das der Börsenverein vor einem Jahr
gestartet hat, bis hin zu ähnlich gelagerten Plänen der europäischen
Nationalbibliotheken
.

Auch wenn mein Anteil an der "Martina" wesentlich bescheidener war als hier beschrieben, so ist der Artikel doch eine gute Werbung für die deutschsprachige Quellensammlung Wikisource.

Martina:
http://de.wikisource.org/wiki/Martina

Der Artikel geht auch auf die aufwendige Erstellung der E-Texte durch die Firma Directmedia, die in Rumänien Texte abtippen lässt, ein. Zur Sprache kommt auch das Projekt einer kommentierten, digitalen Gesamtausgabe der Werke
des deutschen Schriftstellers Karl Gutzkow (1811 bis 1878):

http://www.sml.ex.ac.uk/german/gutzkow/Gutzneu/gesamtausgabe/index.htm

Das ambitionierte Projekt zielt, ähnlich wie Wikipedia, auf eine
gemeinschaftliche "edition in progress", allerdings hören die
Wissenschaftler den Vergleich offenbar nicht gern. "Das Konzept der
benutzeroffenen Struktur läßt sich auf eine wissenschaftliche Ausgabe
nicht wirklich übertragen", meint Gert Vonhoff, einer der Initiatoren
der Gutzkow-Ausgabe. Es gehe vielmehr darum, "nicht bestehende, sehr
spezifische Inhalte zu erforschen und dann in wissenschaftlicher
Umgebung verfügbar zu machen. Das ist etwas anderes, als mal einige
Seiten Korrektur zu lesen oder an der Wikipedia mitzuschreiben."


Diese arrogante Abwertung anderer Projekte muss ja wohl nicht sein.

Zuletzt kommt Spreckelsen nochmals auf Wikisource zurück:

"Gutenberg.de" ist dann auch genau das, was die deutsche Wikisource
nicht sein will. Den zehn bis zwanzig ehrenamtlichen Mitarbeitern geht
es darum, das jeweils Beste aus den verschiedenen Modellen in das
eigene System zu integrieren. Dazu gehören sorgfältig erarbeitete
Texte, die allen Interessierten kostenlos offenstehen;
basisdemokratische Entscheidungen ohne die Aufweichung der einmal
beschlossenen Editionsrichtlinien; Transparenz bei der Erarbeitung der
Druckfassungen, die dennoch einmal als abgeschlossen gelten - und das
bei einer bislang höchst bescheidenen Zahl von Mitarbeitern.
Allerdings gibt es auch unter denen mitunter heftigen Streit über
einzelne Texte, besonders wenn es um das Löschen von solchen geht,
deren Herkunft nicht überprüft werden kann und somit auch nicht die
Frage, ob es sich um eine korrekte Fassung handelt.

Denn das ist der Punkt, an dem sich die Zukunft der einzelnen Projekte
entscheidet: Texte, denen man nicht vertrauen kann, werfen kein gutes
Licht auf die Plattform, auf der sie stehen. Und so ist "Wikisource"
gut beraten, Dateien zu entfernen, die keiner der wenigen Mitarbeiter
Korrektur lesen kann oder mag. Einen Experten für Mittelhochdeutsch
weiß das Projekt übrigens nicht in seinen Reihen, sagt Graf. Daß es
dennoch zu einer Edition wie der "Martina" kommen konnte, ist um so
erstaunlicher. Ein gutes Omen für künftige Projekte, wenn es nach der
Bauernregel zum 30. Januar geht: "Bringt Martina Sonnenschein, kommt
viel Korn und Wein".


Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.12.2006, Nr. 51 / Seite 62 (im WWW kostenpflichtig gegen 1,50 Euro abrufbar)
 

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