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Luwig Uhland. Tübinger, Linksradikaler, Nationaldichter. Hrsg. von Georg Braungart u.a. (Tübinger Kataloge 95). Tübingen: Stadtmuseum 2012. 256 S., zahlreiche Abbildungen. 19,80 EUR. Inhaltsverzeichnis

Kein anderer berühmter deutscher Dichter des 19. Jahrhunderts hat einen so tiefen Fall erlebt, was seine Wertschätzung angeht, wie Ludwig Uhland, zu dessen 150. Todestag 2012 das Tübinger Stadtmuseum, das Deutsche Literaturarchiv Marbach und das Deutsche Seminar der Tübinger Universität sich zusammengetan haben, um ihm eine Ausstellung zu widmen. Eine überaus verhaltene Würdigung für einen Poeten, der im 19. Jahrhundert stürmisch bejubelt wurde.

Neun Aufsätze und einen ausführlichen Katalogteil (S. 115-249) enthält die Begleitpublikation. Obwohl Uhland im Titel als Linksradikaler bezeichnet wird, erfährt man über den Politiker fast nur etwas von Joachim Knape, der Uhland als politischer Redner in den Blick nimmt. Wilfried Setzler geht in Tübingen auf Spurensuche, die Tübinger Universitätsjahre 1801-1810 stellt Johannes Michael Wischnath vor. Uhlands Rolle in der beginnenden Germanistik skizziert Stefan Knödler, während sich Dietmar Till der bemerkenswerten "Schreibwerkstatt" Uhlands widmet, die Uhland für seine Studenten in den vier Semestern ab 1830, in denen er bis zu seinem erzwungenen Abschied lehren durfte, anbot ("Stylisticum").

Ausgezeichnete Gedichtinterpretationen legt in zwei Beiträgen Georg Braungart vor. Während Goethe und Schiller an Lesebuchtauglichem auch Dramen und Prosa schufen, kommt bei Uhland nur die Lyrik in Betracht. "Uhlands Lyrik ist vergessen", konstatiert Braungart und verweist darauf, dass sie von der Literaturwissenschaft nicht mehr behandelt, an Schulen und Universitäten nicht mehr gelesen und auch nicht mehr verlegt werde (Ausnahmen: Hermann Bausinger und Hubert Klöpfer). Zugleich sei sie aber nicht vergessen, da sie "in vielen geflügelten Worten" überlebt habe (S. 31). Das ist grundfalsch, denn die buchzentrierten Autoren des Katalogs haben wie üblich das Internet nicht auf ihrer Rechnung. Gewohnt schäbig wird die Zusammenstellung von Wikisource übergangen, die mich viel Arbeit gekostet hat. Dort findet man nicht nur eine Transkription (samt Scan) der Gedichte-Erstausgabe von 1815, die Uhlands Ruhm begründete, sondern auch eine Wiedergabe des Dramenfragments Konradin aus dem sehr seltenen Taschenbuch von der Donau auf das Jahr 1824. Und es sind zahlreiche Digitalisate von Uhland-Werken und Sekundärliteratur nachgewiesen. Im Projekt Gutenberg gibt es eine kleine Gedichtauswahl und einige Prosaschriften, darunter die Rede über die Wahl des Reichsoberhauptes, die mit den berühmten Worten schließt: "Glauben Sie, meine Herren, es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen demokratischen Öls gesalbt ist!". Weiteres findet sich bei zeno.org und bei Harsch (wenn man von den vielen Digitalisaten absieht, die Wikisource listet). Man mag das als eher akademische Angebote ohne große Ausstrahlung abtun, doch stellt man mit Erstaunen fest, dass Uhlands anrührende Verse auf den Tod eines Kindes (Du kamst, du gingst mit leiser Spur, / Ein flücht'ger Gast im Erdenland; / Woher? Wohin? Wir wissen nur: / Aus Gottes Hand in Gottes Hand. - zitiert S. 41) sich im Internet als religiöses Trauergedicht sehr großer Beliebtheit erfreuen. Im Internet ist Uhlands Lyrik keineswegs vergessen, wie auch die nicht mehr aktuelle Zusammenstellung von Helmut Schulze zeigt.

Beziehungen zwischen Uhland und Heine beleuchtet Helmuth Mojem, setzt jedoch zu viel voraus. Ist es wirklich zuviel verlangt, in der Einleitung eines solchen Aufsatzes den Leser mit Heines Äußerungen zu Uhland vertraut zu machen, bevor man sich schöngeistigen Gedichtinterpretationen hingibt?

Das Versagen der Tübinger Universitätsbibliothekare beim Umgang mit Uhlands Bibliothek geht aus dem Beitrag von Wilfried Lagler deutlich hervor. Unsinniges Dublettendenken verhinderte, dass die Bibliothek, geleitet damals vom Indologen Rudolf von Roth, die ihr 1871 als Schenkung von der Witwe angetragene Bibliothek Uhlands in toto übernahm. Sie nahmen nur etwa die Hälfte und teilten den Bestand auf anstatt ihn geschlossen aufzustellen. Eine wichtige gedruckte Quelle ist das Zuwachsverzeichnis 1870/71 (Digitalisat), das 1497 Werke aus Uhlands Bibliothek zählt (S. 107). Manuskripte kamen von den Erben Wilhelm Hollands (1822-1891) in die Bibliothek. 1872 bot das Tübinger Antiquariat Heckenhauer 1565 Nummern überwiegend aus Uhlands Bibliothek an (Digitalisat), darunter 126 mit Uhlands eigenhändigem Namenszug und 71 Widmungsexemplare. 111 bisher identifizierte Bände gelangten in die 1871 neu gegründete Straßburger Universitäts- und Landesbibliothek. 153 Bände schenkte Uhlands Witwe der Königlichen Bibliothek in Stuttgart. Auch wenn Uhlands Bücher kaum Arbeitsspuren aufweisen, ist die von den Tübinger Bibliothekaren zu verantwortende Zerstückelung von Uhlands Bibliothek ein großer Verlust für die Wissenschaftsgeschichte.

Der Katalogteil bringt manches Interessante, seien es Uhland-Memorabilien wie die nach Marbach gelangte Taufgarnitur (S. 122) und Taschentücher (S. 202), sei es die Wiedergabe eines bislang unbekannten Gedichts (S. 166). Auch kann man im Faksimile den perfiden Satz des Königs Wilhelm I. von Württemberg nachlesen, der 1833 "sehr gerne" die Entlassung Uhlands aus dem Staatsdienst bewilligte, "da er als Professor ganz unnüz war" (S. 175).

Ein großer Pluspunkt des Katalogs sind die großformatigen Farbabbildungen. Das Marbacher Magazin Nr. 42 von 1987 wirkt mit seinen Schwarzweißabbildungen demgegenüber geradezu ärmlich.

Ein großer Minuspunkt des Katalogs ist der weitgehende Verzicht auf einen wissenschaftlichen Apparat. An wen außer an Bildungsbürger, die mit Fußnoten oder Literaturangaben umgehen können oder sie wenigstens tolerieren, richtet sich denn ein solches Werk? Da Studierende im Rahmen von Lehrveranstaltungen an dem Katalog mitgearbeitet haben, ist es ganz und gar unverzeihlich, dass aus Gründen der "Übersichtlichkeit" (S. 251) auf Literaturnachweise im Katalogteil verzichtet wurde. Als ob eine Seite kleingedruckte Nachweise, die Uhland-Stellen anzugeben und den nach Maßstäben wissenschaftlicher Redlichkeit geschuldeten Tribut an die Autoren der verwendeten Sekundärliteratur zu zollen hätten, gestört hätte! Unbelegtes Wissen ist wertloses Wissen, das sollte man an den Hochschulen tagaus tagein vermitteln.

Inhaltlich vermisse ich Ausführungen zu Uhlands Verhältnis zur Volksüberlieferung. Mein Beitrag dazu in der Enzyklopädie des Märchens (Bd. 13, 2010) wird nicht zitiert.

***

Soweit die Besprechung. Ergänzend dokumentiere ich meine Manuskriptfassung (eingereicht am 4. November 2008) von

Klaus Graf: Johann Ludwig Uhland, in: Enzyklopädie des Märchens 13 [Lief. 3] (2010), Sp. 1128-1134
Online (Amazon; Blick ins Buch, zugänglich für registrierte Kunden):
http://www.amazon.de/Enzyklop%C3%A4die-M%C3%A4rchens-Suchen-Handworterbuch-Erz%E2%80%9Ehlforschung/dp/3110237679/ (nach soldatenlied suchen und dann zurück- bzw. vorblättern)

Sie wurde für den Druck von der Redaktion nicht unerheblich gekürzt. Als weiteren Mehrwert habe ich alle Abkürzungen (bis auf EM = Enzyklopädie des Märchens) und die Vornamen der zitierten Autoren/Personen aufgelöst. Die Verweise (→) auf andere EM-Artikel habe ich beibehalten, die Zitierformalia ins Deutsche übertragen (f. statt sq., usw). Für Digitalisate sei auf den Uhland-Artikel in Wikisource verwiesen - vor allem die noch wichtigen älteren Werkausgaben sind alle online (ausnahmsweise ergänze ich dort nicht nachgewiesene spezielle ältere Literatur). Einige kleine inhaltliche bzw. stilistische Änderungen orientieren sich meist an der Druckfassung. Die folgende Fassung stellt somit einen eigenen zitierfähigen Artikel über Uhland dar.

An Literatur sollte man vielleicht nachtragen Hartmut Fröschles "Hausgeist des deutschen Volkes. Eine Wirkungsgeschichte Ludwig Uhlands in Zitaten" (2012) und Ilonka Zimmer "Uhland im Kanon" (2009), für beide gilt: non vidi (Zimmer ist in Auszügen bei Google präsent). Anscheinend noch nicht erschienen ist der Tagungsband (Beihefte zum Euphorion 71) zum Symposium Provinzielle Weite 2010.

Uhland, Ludwig

* Tübingen 26. 4. 1787, † ebenda 13. 11. 1862,

deutscher Lyriker, Dramatiker, Literaturhistoriker, Sagen-, Volkslied- und Mythenforscher, württembergischer Politiker [1].

Uhland, Sohn eines Juristen, der in Tübingen als Universitätssekretär wirkte, nahm 1801 in seiner Heimatstadt ein juristisches Studium auf, das er 1808 mit dem Advokatenexamen und 1810 mit der juristischen Promotion beendete. Er fand Anschluss an einen romantisch gesinnten Studentenzirkel, der von altdeutscher und “volkstümlicher” Literatur fasziniert war. Die engste Freundschaft verband ihn in diesem Kreis mit dem Medizinstudenten Justinus →Kerner. In Paris sollte Uhland 1810/11 eigentlich das französische Recht kennen lernen, doch fesselten ihn die altfranzösischen und altdeutschen Bücherschätze der Nationalbibliothek weit mehr. Die ungeliebte Advokatentätigkeit in Tübingen und Stuttgart, unterbrochen von dem vergeblichen Versuch, im Staatsdienst Fuß zu fassen, gewährte nur karge Einkünfte. Von 1819 bis 1826 vertrat Uhland das Oberamt Tübingen in der württembergischen Ständeversammlung. 1820 endeten die Geldsorgen durch die Heirat mit Emilie Vischer. Ende 1829 wurde Uhland in Tübingen zum außerordentlichen Professor für deutsche Sprache und Literatur berufen. Die lange ersehnte akademische Laufbahn wurde freilich ein Opfer der Repression, als die Regierung ihm 1833 den für die Wahrnehmung des Stuttgarter Abgeordnetenmandats erforderlichen Urlaub verweigerte. Uhland reichte sein Entlassungsgesuch ein, das König Wilhelm mit gehässiger Randbemerkung gern bewilligte. Bis 1838 blieb Uhland als Angehöriger der liberalen Opposition im Landtag. Das Tübinger Leben als Privatgelehrter wurde noch einmal unterbrochen, als er sich 1848 zum Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung wählen ließ. Er kämpfte für demokratische und großdeutsche Ideale und harrte bis zur gewaltsamen Auflösung des Stuttgarter Rumpfparlaments im Juni 1849 aus.

Uhlands phänomenaler Ruhm im 19. Jh. beruhte auf seinen Gedichten, die erstmals 1815 bei Cotta erschienen und bis 1884 insgesamt 64 Auflagen erlebten. Zahlreiche Übersetzungen (und Vertonungen) belegen eine außerordentlich breite internationale Rezeption.

Uhlands Stellung in der Geistesgeschichte wird zuallererst durch die Zugehörigkeit zur →Romantik bestimmt [2]. Romantische →Mittelalterrezeption und Hochschätzung der Volkspoesie prägen sowohl sein literarisches als auch sein wissenschaftliches Oeuvre [3]. Unter Volkspoesie versteht er “die geistige Auffassung eines ganzen Volkslebens durch die Gesammtheit des Volkes” [4]. Der Leitbegriff des 'Volks' schlägt die Brücke zu den freiheitlich-liberalen Positionen des Politikers Uhland, der sich für das 'gute alte Recht' (des Volks) und die althergebrachte landständische Verfassung einsetzte. Bürgerliche ('Volks')-Freiheiten und die Einheit der deutschen Stämme sind ihm zentrale politische Konzepte. Seine Ideale thematisierte Uhland auch in Gedichten, insbesondere in den “Vaterländischen Gedichten” (1816/1817), und den Dramen “Ernst, Herzog von Schwaben” (1818) und “Ludwig der Baier” (1819), letzteres ein Appell zugunsten der Stammeseinheit der Deutschen.

Besonders bemerkenswert ist die durch das romantische Volks-Konzept beförderte enge Verklammerung des poetischen und gelehrt-altertumskundlichen Diskurses bei Uhland. Dies zeigt sich auch an seinem Umgang mit Erzählstoffen [5], die er sowohl dichterisch verwendet als auch wissenschaftlich erforscht und - im Fall der Volkslieder - herausgibt. Es ist daher kein Zufall, dass die akademische Antrittsrede 1832 über die Sage vom →“Herzog Ernst” dem Titelhelden seines Dramas von 1818 galt. Ab etwa 1820 traten gelehrte Studien an die Stelle der freien dichterischen Adaptation und der nacherzählenden →Rekonstruktion, doch wurden die meisten wissenschaftlichen Schriften erst postum herausgegeben. 1822 erschien ein Buch über Walther von der Vogelweide, 1836 der “Der Mythus von Thôr nach nordischen Quellen”. Die lange vorbereitete Volksliedausgabe (“Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder”, 1844/45) blieb zu Lebzeiten unvollendet. In den letzten Lebensjahren Uhlands konnte Franz Pfeiffer ihn als Mitarbeiter für die Zeitschrift “Germania” gewinnen, wo er Aufsätze zur schwäbischen Sagenkunde, zur Heldensage und zum Volkslied publizierte.

Triviale Ritterromane (→Ritter), allen voran Leonhard Wächters (Pseudonym: Veit Weber) “Sagen der Vorzeit”, waren die Lieblingslektüre des Jugendlichen und haben mit ihrem auf wenige Klischees reduzierten Pseudo-Mittelalter die frühesten Gedichte Uhlands nachhaltig beeinflusst [6]. Daneben prägten die angeblichen Bardengesänge des →Ossian und die Dänengeschichte des →Saxo Grammaticus seine Auffassung der “Vorzeit”. Wichtig wurden auch die Volksbücher (→Volksbuch) einschließlich der französischen →Bibliothèque bleue, der er in Paris begegnete. Intensiviert wurde die Beschäftigung durch den Austausch mit Kerner, der eine große Sammlung deutscher Volksbücher zusammentrug. Sowohl Kerner als auch Uhland (im Dramenfragment “Die Entführung” von 1809) bearbeiteten z.B. die entlegene “Riesen-Geschichte, oder Kurzweilige und nützliche Historie vom König Eginhard aus Böhmen” von Leopold Richter aus dem 18. Jahrhundert [8]. Der auf die Prosahistorie →Fortunatus zurückgehende Stoff inspirierte Uhland 1815/1816 zu einem glänzend geschriebenen Versepos “Fortunat und seine Söhne”, von dem er aber nur die ersten beiden Gesänge (110 Stropen) vollendete [9]. Der einzige Romanversuch Uhlands “Hermann von Sachsenheim” (1809) verdankt sich der Lektüre eines Auszugs in Heinrich August Ottokar Reichards Bibliothek der Romane [10]. Als ihm 1811 Johann Friedrich Stockhausens “Mira Praesagia Mortis. Das ist: Wunderliche Todes-Vorboten” (Frankfurt am Main/Leipzig 1694) in die Hände fielen, wurde aus einer daraus entnommenen Passage binnen kurzem der bekannte “Junker Rechberger” [11]. Nicht näher befasst hat sich Uhland dagegen mit der Gattung (Volks-)Märchen, auch wenn er →Perraults Dornröschen-Fassung (→Schlafende Schönheit) in seinem Gedicht “Märchen” für poetologische Reflexionen nutzte [12].

'Sage' und Volkspoesie waren für Uhland weitgehend eins: “Die Sage der Völker ist [...] wesentlich Volkspoesie; alle Volkspoesie aber ist in ihrem Hauptbestande nach sagenhaft”[13]. Neben den Götter- und Heldensagen der nordischen Überlieferung und der deutschen →Heldensage fesselte ihn die altfranzösische Heldensage. In Paris las und kopierte Uhland tagsüber ebenso eifrig wie unsystematisch altfranzösische Texte, abends setzte er die Lektüre in Poesie um [14]. Im November 1812 konzipierte er ein “Mährchenbuch des Königs von Frankreich” nach dem Muster von Decamerone (→Boccaccio)/Heptaméron (→Marguerite de Navarre) als Anthologie “fränkischer, normännischer, bretagnischer, provenzalischer, gascognischer u.a. Erzählungen und Romanzen” [15]. Uhlands in Friedrich Baron de la Motte →Fouqués Zeitschrift “Musen” 1812 erschienener Essay “Ueber das altfranzösische Epos” [16] gilt als einer der Pioniertexte der deutschen Romanistik [17]. Im Mittelpunkt stand der patriotische Gefühle aktivierende Heldenliederzyklus um →Karl den Großen (→Chanson de geste) [18]. Altfranzösische Stoffe lagen auch nicht wenigen Balladen Uhlands zugrunde [19]. Daneben steuerten die spanische (z.B. Lope de → Vega), die italienische (z.B. →Dante), die englische und schottische sowie nicht zuletzt die altnordische Literatur Stoffe für Balladen und Dramenfragmente bei.

Zeitlebens war das →Nibelungenlied die Lieblingsdichtung Uhlands [20], der sich 1817 selbst an einem Nibelungendrama versuchte. Nach 22 Versen gab er auf. Früh faszinierte ihn das gedruckte “Heldenbuch” (Frankfurt am Main 1590). Die späteren gelehrten Studien zur nordischen Mythologie und zur deutschen Heldensage [21] haben aufgrund ihrer spekulativen komparatistischen Kombinationen heute nurmehr wissenschaftsgeschichtlichen Wert. Stark haben auf Uhland die Mythen-Theorien (→Mythologische Schule) der Brüder →Grimm, aber auch die von Joseph →Görres, Georg Friedrich Creuzer und Franz Josef Mone gewirkt [22].

Die heimische Sagenüberlieferung bezog Uhland ein im großangelegten unvollendeten Plan einer “Schwäbischen Sagenkunde”, an der er ab 1850 arbeitete und die in kühnem Bogen suebisch-alemannische Frühzeit mit mittelalterlich-frühneuzeitlichen Zeugnissen verbinden sollte [23]. Gespeist wurde das Projekt von schwäbisch-württembergischen Patriotismus, der Uhland auch motivierte, die mit der heimatlichen Staufer-Tradition zusammenhängenden Stoffe “Konradin” und →Weiber von Weinsberg dramatisch zu behandeln. Einzelne schwäbische Sagenballaden, insbesondere der schon in der Erstausgabe der Gedichte 1815 enthaltene kleine Zyklus “Eberhard der Rauschebart”, sollten die 'vaterländische' (württembergische) Geschichte poetisch umranken und trugen zur Popularität der schwäbischen Sagenballade bei, der sich zur gleichen Zeit vor allem Uhlands Freund Gustav →Schwab widmete. Als eine Ulmer Gesellschaft per Zirkular 1831 zur “Sammlung alter Volkslieder, Sagen etc. zur Verherrlichung des Schwabenlandes” aufrief, bedauerte Uhland gegenüber seinem engen Gelehrtenfreund Joseph von Laßberg, mit dem Sammeln von Sagen komme man wohl zu spät [24]. Uhland hatte keinen Sinn für Feldforschungen, er stützte sich lieber auf schriftliche Quellen, etwa →Chronikerzählungen aus der →Zimmerischen Chronik oder mittelhochdeutsche Texte wie den →Friedrich von Schwaben. 1852 bewies jedoch die Uhland gewidmete Sammlung schwäbischer Sagen von Ernst →Meier, wie reich die volkstümliche Überlieferung noch war.

Wie bei den Sagenforschungen konnte Uhland bei seinen Volkslied-Studien, die er ab Ende der 1820er Jahre betrieb, mit der lebendigen Volksüberlieferung kaum etwas anfangen. Auf seinen Bibliotheksreisen sichtete er gedruckte (→Lieddrucke) und handschriftliche Liedüberlieferungen vornehmlich des 16. Jahrhunderts. Der Fund eines gedruckten niederdeutschen Liederbuches (um 1600), das ebenso wie ein kostbarer Sammelband mit 27 Einzeldrucken vorwiegend süddeutscher Provenienz [25] in seinen Besitz überging, ermöglichte die Ausweitung des Textkorpus auf den niederdeutschen Sprachraum [26]. Die 1844/45 erschienene umfangreiche Sammlung, die nur bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts überlieferte Stücke aufnimmt, ist die erste wissenschaftliche deutsche Volksliedersammlung [27]. Bei Uhlands Versuchen, die “echte” alte Fassung zu rekonstruieren, blieb der Wissenschaftler dem Poeten verpflichtet. Strengen philologischen Maßstäben (→Philologische Methode) kann die Ausgabe daher nicht genügen, wenngleich sie Varianten und weitere Fassungen bietet. Uhland bereinigte die Texte etwa durch Weglassung anstößiger Stellen (→Obszönitäten). Intensiv hatte sich schon der junge Uhland mit den Stilmitteln des Volkslieds auseinandergesetzt und diese sich in seinen Gedichten angeeignet [28]. Bereits vor der Uhland prägenden Begegnung mit →Arnims und →Brentanos Sammlung “Des Knaben Wunderhorn” [29] - kurz nach dem Erscheinen von Band 1 im Herbst 1805 - war er insbesondere durch Johann Gottfried →Herders Volksliedersammlung mit der Gattung vertraut. Uhlands meisterhafte Imitation des 'Volkstons' erstaunte die Zeitgenossen: “Der Mensch dichtet ja wie ein Altdeutscher, ich möchte sagen wie das Volk selbst”, schrieb Fouqué [30]. Etliche Lieder Uhlands wurden selbst zu Volksliedern. “Der Wirtin Töchterlein” (1808) findet sich sogar im livländischen Volksgut [31]. 1809 gelang ihm mit “Der gute Kamerad” das bis heute bekannteste Soldatenlied (→Soldat) [32], das mit seiner Sinnstiftung des Soldatentods zur leichten Beute militaristischer und faschistischer Vereinnahmung wurde [33].

Uhlands Stern ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblich verblasst. An seiner herausragenden wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung als romantisch geprägter Literaturhistoriker, Sagen- und Volksliedforscher kann jedoch kein Zweifel bestehen. Der gefeierte Dichter Uhland, nach Schiller der populärste im 19. Jahrhundert und um 1870 so etwas wie ein bürgerlicher 'Nationalheld' [34], hat mit seiner Begeisterung für das 'Volk' viele andere mitgerissen, auch was volkskundliche Studien betraf (z.B. Wilhelm →Hertz oder Albert →Schott). Kurz nach 1945 ermöglichte Uhlands guter Name in Frankreich den Fortbestand des NS-kompromittierten Tübinger Volkskundeinstituts als Ludwig-Uhland-Institut [35].

Für die Frage nach den Austauschprozessen zwischen historischer Erzählüberlieferung, poetischer Gestaltung, gelehrter Beschäftigung und lebendiger Volkskultur liefern Uhlands Werk und Wirken wichtige Aufschlüsse. Dafür ein letztes Beispiel: Im Jahr 1900 berichtet der Pfarrer von Holzmaden bei Kirchheim unter Teck über die örtliche Geisterwelt, das Muetes Heer (→Wilde Jagd) - von Uhland wie damals üblich als Wotans-Heer wissenschaftlich gedeutet [36] - singe wundervoll “Ich hatte einen Kameraden”, also Uhlands populäres Soldatenlied [37].

Anmerkungen

[1] Schneider, Hermann: Uhland Leben, Dichtung, Forschung. Berlin 1920;

Scheffler, Walter P. H.: Ludwig Uhland. In: Lebensbilder aus Schwaben und Franken 10. Stuttgart 1966, 270-303;

Scheffler,Walter/Bergold, Albrecht: Marbacher Magazin 42/1987: Ludwig Uhland. Marbach 1987 (mit Bibliographie der Drucke 1806-1862);

Ludwig Uhland Werk und Wirkung. Festschrift des Uhland-Gymnasiums Tübingen. Tübingen 1987;

Bausinger, Hermann (Hrsg): Ludwig Uhland Dichter, Politiker, Gelehrter. Tübingen 1988;

Fröschle, Hartmut: Uhland, (Johann) Ludwig. In: Literaturlexikon 11. hrsg. von Walter Killy. Gütersloh/München 1991, 464-466;

Doerken, Victor Gerard: Ludwig Uhland and the Critics. Columbia 1994;

Singh, Stephanie: Uhland, Ludwig. In: Internationales Germanistenlexikon 3. Berlin/New York 2003, 1918-1920.

Umfangreicher Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

[2] Fröschle, Hartmut: Ludwig Uhland und die Romantik. Köln/Wien 1973 (grundlegend!).

[3] Ausgaben (Auswahl): Fröschle, Hartmut/Scheffler, Walter (Hrsg.): Werke. 1-4. München 1980-1984;

Holland, Wilhelm Ludwig/Keller, Adalbert v./Pfeiffer, Franz (Hrsg.): Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. 1-8. Stuttgart 1865-1873;

Hartmann, Julius (Hrsg): Uhlands Briefwechsel. 1-4. Berlin 1911-1916.

[4] Schriften (wie Anm. 3) Bd. 1, 134; vgl. Fröschle (wie Anm. 2) 197-202.

[5] Zu den von Uhland verwendeten Stoffen vgl. Eichholtz, Paul: Quellenstudien zu Uhlands Balladen. Berlin 1879;

Düntzer, Heinrich: Uhlands Balladen und Romanzen. Leipzig ²1890;

Derselbe: Uhlands Dramen und Dramenentwürfe. Leipzig 1892.

Literatur zu einzelnen Gedichten bei Goedeke, Karl: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung ²8. Dresden 1904, 242-246.

[6] Schneider, Hermann: Uhlands Gedichte und das deutsche Mittelalter. Berlin 1920;

Fröschle (wie Anm. 2) 165-169. Zu Uhlands Kurztragödie “Benno” (1809) vgl. ebenda, 111 f.

[7] Schmidt, Wolf Gerhard: “Homer des Nordens” und “Mutter der Romantik” 2. Berlin 2003, 1068-1079.

[8] Zum Stoff vgl. Varnhagen, Hermann: Longfellows Tales of a Wayside Inn und ihre Quellen. Berlin 1884, 113-118.
http://books.google.de/books?id=muAIAAAAQAAJ (US)

[9] Werke (wie Anm. 3) Bd. 1, 588 f.; Fröschle (wie Anm. 2) 83-85; zur Quelle vgl. Ransmeier, John C.: Uhland's Fortunat and the Histoire de Fortunatus et de Ses Enfans. In: PMLA 25 (1910) 355-366.
http://www.jstor.org/stable/456684

[10] Fröschle (wie Anm. 2) 91 f.

[11] Werke (wie Anm. 3) Bd. 1, 574 f. Kerners Rechberger-Version bei Burger, Heinz Otto: Schwäbische Romantik. Stuttgart 1928, 141 f.
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kerner_rechberger_1.jpg

Zum Stoff vgl. Mesenzeva, Charmian A.: “Der behexte Stallknecht” des Hans Baldung Grien. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 44 (1981) 57-61 (die Deutung des Holzschnitts ist freilich abzulehnen).

[12] Werke (wie Anm. 3) Bd. 1, 261-267, 586 f.

[13] Schriften (wie Anm. 3) Bd. 7, 4.

[14] Schenda, Rudolf: Die drei Schlösser im Bette ersonnen. In: Ludwig Uhland 1988 (wie Anm. 1) 63-86, hier 77.

[15] Schmidt, Erich: Uhlands “Märchenbuch des Königs von Frankreich”. In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften 1897, 955-99, hier 979.

[16] Schriften (wie Anm. 3) Bd. 4, 327-406.

[17] Fränkel, Ludwig: Uhland als Romanist. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen 80 (1888), 25-113.

[18] Zu Uhlands dichterischer Rezeption des Karls-/Roland-Themas vgl. EM 7, 999; 11, 378, 776.

[19] Vgl. etwa Bohnengel, Julia: Dialektik und Affekte. Ludwig Uhlands “Kastellan von Couci” im kulturgeschichtlichen Kontext der europäischen Herzmaere-Tradition. In: Zeitschrift für Germanistik 15 (2005) 296-310; EM 6, 936.

[20] Fröschle (wie Anm. 2), 159.

[21] Schneider, Hermann: Uhland und die deutsche Heldensage. Berlin 1918.

[22] Fröschle (wie Anm. 2) 295-313;

Mornin, Edward: Ludwig Uhland and the Romantic Mythology. In: Germanic Review 62 (1987), 20-27.

[23] Moser, Hugo: Uhlands Schwäbische Sagenkunde und die germanistisch-volkskundliche Forschung der Romantik. Tübingen 1950;

Derselbe: Ludwig Uhland. In: Zur Geschichte von Volkskunde und Mundartforschung in Württemberg. Tübingen 1964, 66-79.

[24] Graf, Klaus: Schwabensagen. Zur Beschäftigung mit Sagen im 19. und 20. Jh. 2007. online: urn:nbn:de:bsz:25-opus-34599;

vgl. auch Briefwechsel (wie Anm. 3) Bd. 1, 32; Bd. 3, 51, 450;

Scheffler, Walter: Unbekannte Uhland-Briefe. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 20 (1976) 3-37, hier 11 f.

[25] Blümml, Emil Karl: Ludwig Uhlands Sammelband fliegender Blätter aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Straßburg 1911.
http://catalog.hathitrust.org/Record/001189860 (US)

[26] Die niederdeutschen Liederbücher von Uhland und de Bouck. Hamburg 1883.

[27] Brednich, Rolf Wilhelm: Der Volksliedforscher Ludwig Uhland. In: Ludwig Uhland 1988 (wie Anm. 1) 183-200;

Thoma, Adolf: Uhlands Volksliedersammlung. Stuttgart 1929;

Heiske, Wilhelm: Ludwig Uhlands Volksliedersammlung. Leipzig 1929;

Schenda, Rudolf: Auf der Liederjagd. In: NZZ 1988 Nr. 42.

[28] Klenner, Andreas: Vom romantischen Volkslied zur Vormärzlyrik. Poetische Entwicklungslinien bei Kerner, Uhland und W. Müller. Berlin 2002, 94-156, bes. 106 f.

[29] Rölleke, Heinz: Justinus Kerner, Ludwig Uhland und “Des Knaben Wunderhorn”. In: Schirmer, Karl-Heinz/Sowinski, Bernhard (Hrsg.): Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Köln/Wien 1972, 278-289.

[30] Schneider (wie Anm. 1) 109.

[31] Werke (wie Anm. 3) Bd. 1, 561.

Zu “Des Sängers Fluch” und “Der blinde König” im mündlich tradierten Volksgesang vgl. Kiel, Ernst: Leben und Singen im 20. Jahrhundert. Die Funktionalität traditioneller Musik in einem Beispiel aus dem Oberharz. In: Lied und populäre Kultur 46 (2001) 117-140, hier 134 sq.

[32] Vgl. EM 12, 854.

[33] Zur ideologischen Uhland-Rezeption vgl. Aschenberg, Reinhold: Pegasus im Joch - Bruchstücke aus Uhlands Werk und der Geschichte seiner Wirkung. In: Ludwig Uhland Werk und Wirkung (wie Anm. 1) 121-143.

[34] Langewiesche, Dieter: Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden. Ludwig Uhland und Friedrich Ludwig Jahn. In: Historische Zeitschrift 278 (2004) 375-397. [wieder in: Derselbe: Reich, Nation, Föderation. München 2008]

[35] Korff, Gottfried: Namenswechsel als Paradigmenwechsel? In: Weigel, Sigrid/Erdle, Birgit R. (Hrsg.): Fünfzig Jahre danach. Zürich 1996, 403-434, hier 410.

Zu Uhland in Frankreich vgl. Wieser, Marguerite: La Fortune d'Uhland en France. Paris 1972.

[36] Schriften (wie Anm. 3) Bd. 7, 613 f.

[37] Graf, Klaus (Hrsg.): Sagen der Schwäbischen Alb. Leinfelden-Echterdingen 2008, 219 f.

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