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Ansichten eines Archivars zum Fall der Kinski-Krankenakte

http://www.schirach.de/einspruch/?p=28

[Inzwischen offline, Text siehe Kommentar]

Siehe auch
http://www.net-tribune.de/article/r040808-02.php

Mein Beitrag (ich hoffe auf rasche Berichtigung meines Vornamens) wurde seit heute Morgen bereits 1800mal gelesen.
Wolf Thomas meinte am 2008/08/05 18:58:
Pressemitteilung und ihre "Folgen"
Die Mitteilung der Kanzlei zum Gastbeitrag:
http://www.net-tribune.de/article/r040808-02.php
Medienreaktionen:
http://www.n-tv.de/Rechts_oder_ein_Rechenfehler_Streit_um_KinskiAkte/050820083713/1004329.html
http://www.bild.de/BILD/berlin/aktuell/2008/08/05/nach-herausgabe-der-krankenakten/kinski-witwe-strafanzeige-gegen-datenschuetzer.html
http://www.taz.de/1/politik/schwerpunkt-ueberwachung/artikel/1/datenschuetzer-versagen/ (Mit Kommentaren) 
KlausGraf antwortete am 2008/08/05 19:10:
Presseerklärung der Anwälte
Presseerklärung: Anwälte werfen Berliner Datenschützer Versagen vor

Berlin, 05.08.2008, 11:00 Uhr

Der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix behauptete in einem Interview mit der Zeitung DIE WELT, das Landesarchiv Berlin habe die Krankenakten des verstorbenen Schauspielers Klaus Kinski zu Recht an die Boulevardpresse herausgegeben.

In der Archivwissenschaft hingegen besteht völlige Einigkeit darüber, dass Patientenunterlagen einem besonderen Schutz unterliegen. Nach dem Landesarchivgesetz (§ 8 Abs. 2 S. 3 LArchG) dürfen diese Patientenakten „frühestens 60 Jahre nach ihrer Entstehung“ freigegeben werden. Die Schutzfrist würde daher frühestens am 31.12.2010 ablaufen. Auch danach muß eine differenzierte Abwägung erfolgen. Das Landesarchiv handelte somit unzweifelhaft gegen das Gesetz und durfte die Akte nicht herausgeben.

Dieser Verstoß gegen eine grundlegende Norm des Archivrechts ist Dix offensichtlich entgangen. Der fehlerhaften Annahme des Datenschützers liegt wahlweise ein Rechts- oder ein Rechenfehler zugrunde. Der Datenschützer hat in seiner Aufgabe, die Daten der Bürger zu schützen, grundlegend versagt.

In Deutschland gehen Archivare grundsätzlich mit personenbezogenen Akten sensibel und zurückhaltend um. Daß ausgerechnet in der Bundeshauptstadt die Institution, die den Schutz der persönlichen Daten garantieren soll, der Boulevardpresse persönliche Akten öffnet, dürfte beispiellos sein. Die Schweigepflicht des Arztes darf nicht zugunsten eines unangenehmen Sensationsbedürfnisses aufgeweicht werden.

RA Ferdinand von Schirach RA Christian Noll
 
Wolf Thomas meinte am 2008/08/06 18:10:
Stellungnahme der Berliner Ärztekammer
"..... Die Frage nach Schutzfristen oder Prominenz des Patienten ist völlig unerheblich", betonte dazu die Ärztekammer.
Eine solche Diskussion gehe "völlig an der Rechtslage vorbei", meinte der Vizepräsident der Ärztekammer, Elmar Wille. Die Schutzwürdigkeit der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht und der Arzt-Patienten-Beziehung gelte uneingeschränkt. Patientendaten seien durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht über den Tod hinaus geschützt.
Ob es ein berechtigtes Interesse der wissenschaftlichen Forschung bei Personen der Zeitgeschichte gebe, das den Persönlichkeitsschutz überwiege, könne vom Landesarchiv nur im Einzelfall geprüft werden, sagte dazu ein Sprecher der Ärztekammer der dpa ergänzend. "Eine generelle Freigabe nach einer bestimmten Frist gibt es nicht. Der Patientenschutz hat stets oberste Priorität."
Quelle:
http://www.aerztezeitung.de/praxis%5Fwirtschaft/recht/?sid=506856 
KlausGraf meinte am 2009/05/19 17:33:
Text des Beitrags
Da die Seite nicht mehr online ist, dokumentiere ich meinen Text hier.

Ansichten eines Archivars zum Fall der Kinski-Krankenakte

Der Archivar muss zwei Herren dienen: der Öffentlichkeit mit ihren berechtigten Informationsansprüchen einerseits und denjenigen andererseits, die mit Fug und Recht erwarten dürfen, dass ihre Geheimnisse gewahrt werden. Das können Firmen sein, die gegenüber der Gewerbeaufsicht Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse preisgeben müssen, aber auch Strafgefangene, die feststellen müssen, dass sich ein Archivar entschieden hat, in der meist sehr kleinen Auswahl von als archivwürdig erkannten Vollzugs-Akten die eigene Akte zu berücksichtigen. (Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hat entschieden, dass sich der Knast-Insasse dagegen grundsätzlich nicht wehren kann.)

Irgendwann landet jeder im Archiv. Auch wenn üblicherweise nur zwischen 1 und 10 Prozent des massenhaften Schriftgutanfalls (auch bei zunehmender Bürokommunikation nimmt die Papierflut eher zu als ab) in der modernen öffentlichen Verwaltung von Archivaren als „archivwürdig“ bewertet wird, kann man davon ausgehen, dass jeder und jede irgendwo mit irgendeinem Aspekt seines Lebens in einem Archiv der Nachwelt überliefert wird. Und sei es nur als Eintrag in einer standesamtlichen Aufzeichnung.
Einmal im Archiv, immer im Archiv. Archivare arbeiten für die Ewigkeit. Dass im öffentlichen Sprachgebrauch alles Mögliche und Unmögliche „Archiv“ heißt, sollte nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass es Fachbehörden gibt, in denen eigens ausgebildete Archivare (und natürlich Archivarinnen) wirken: im Bundesarchiv, in den Staatsarchiven der Länder, in den Stadtarchiven, den Universitätsarchiven usw. Archivare sind keine Bibliothekare: sie sammeln (überwiegend) nicht, sondern übernehmen Unterlagen (Akten, Fotos, Filme, digitale Daten usw.) von den Stellen, in denen die Unterlagen entstanden sind. Sie sind auch keine Registratoren: Erst wenn die Unterlagen in den anbietungspflichtigen Stellen nicht mehr benötigt werden, kommen sie ins Archiv.

Der Datenschutz ist der Grundpfeiler des Archivrechts. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 1983 mit Verve das Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ zur Geltung gebracht hatte, war klar, dass die bisherigen Rechtsgrundlagen des Archivwesens nicht ausreichen. Seit 1987 wurden daher die Archivgesetze der Länder und das Bundesarchivgesetz (1988) erlassen, damit die Archivare bei der Verarbeitung personenbezogener Daten rechtlich sicheren Grund unter den Füßen haben.

Üblicherweise stehen Sachakten, in denen Personenangaben nicht den zentralen Inhalt darstellen, nach zehn bis dreißig Jahren in den öffentlichen Archiven der Öffentlichkeit zur Verfügung. Einige Länder haben eine Zehnjahresfrist, die meisten und der Bund bestehen auf dreißig Jahren. Nach dem Erlass von Informationsfreiheitsgesetzen in etlichen Bundesländern und im Bund überdenkt man derzeit diese Schutzfristen.

Personenbezogenes Archivgut wie Personalakten steht auf Bundesebene dreißig Jahre nach dem Tod des Betroffenen zur Einsicht zur Verfügung, in anderen Bundesländern wie Berlin oder Nordrhein-Westfalen bereits zehn Jahre nach dem Tod.
Nun gibt es aber noch eine weitere Kategorie von Archivgut: solches nämlich, das in der Verwaltung besonderen Rechtsvorschriften über Geheimhaltung unterlegen hat. Dazu zählt insbesondere das Arztgeheimnis. Dieses wird auf der Ebene des Bundesrechts durch § 203 Strafgesetzbuch strikt und zwar auch über den Tod des Betroffenen hinaus geschützt. Die Länder dürften in ihren Archiven solche Unterlagen überhaupt nicht übernehmen, wenn der Bundesgesetzgeber in § 11 Bundesarchivgesetz die bundesrechtlichen Geheimhaltungsvorschriften nicht „geöffnet“ hätte. Die Länder dürfen archivieren, müssen aber die schutzwürdigen Belange Betroffener entsprechend dem Bundesarchiv wahren. Da in allen Landesarchivgesetzen besondere Schutzfristen für solche besonders sensiblen Unterlagen bestehen, ist es legal, dass diese (ganz oder meist in Auswahl) in Archive übergeführt werden.
Es bestand vor den jüngsten Vorkommnissen überhaupt kein Zweifel daran, dass zu diesen Unterlagen die durch das Arztgeheimnis geschützten Patientenunterlagen zählen. Der Archivrechtler Udo Schäfer, derzeit Leiter des Staatsarchivs Hamburg, formulierte das so: Das Patientengeheimnis wird durchbrochen, aber nicht verletzt, wenn der ärztlichen Schweigepflicht unterliegende Unterlagen angeboten und übergeben werden. Er tat dies in dem maßgeblichen Sammelband für diese Fragen „Akten betreuter Personen als archivische Aufgabe“ (Neustadt/Aisch 1997). Thema dieses Buches waren die außerordentlichen Schwierigkeiten, auf die die Archivare bei dem Versuch stießen, die als Geschichtsquellen mehr und mehr in der Gesichtskreis der Forschung geratenden Patientenunterlagen insbesondere aus Einrichtungen der Psychiatrie in die Archive zu bringen.

Während das Bundesrecht ursprünglich eine unverkürzbare Schutzfrist von 80 Jahren nach Entstehung bei solchen ursprünglich geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen vorsah, wurde diese Frist später auf 60 Jahre heruntergesetzt. Das Berliner Archivgesetz sieht ebenfalls eine sechzigjährige Schutzfrist vor.
Diese Präliminarien waren unumgänglich, will man verstehen, worum es bei dem Skandal um die Veröffentlichung der Krankenakte von Klaus Kinski geht.

Da die Akte aus dem Jahr 1950 stammt, hätte sie – ohne Sperrfristverkürzung – frühestens sechzig Jahre später, also 2010 vorgelegt werden dürfen. Sowohl das Landesarchiv Berlin als auch der es verteidigende Landesdatenschutzbeauftragte Alexander Dix verkennen diesen zum archivrechtlichen Basiswissen zählenden Tatbestand, wenn sie auf den Ablauf der zehnjährigen Schutzfrist nach dem Tod Kinskis (1991) verweisen.

Dix hat auf meine Gegenvorstellung hin eine sehr eigenartige Interpretation des Berliner Archivgesetzes gegeben, die ebenfalls wie die archivrechtlichen Details in dem von mir administrierten Weblog „Archivalia“ (Neuigkeiten und Meinungen rund ums Archivwesen) nachlesbar ist:

http://archiv.twoday.net/search?q=kinski
In einem Interview sagte Dix: „Im Zeitraum von zehn Jahren nach dem Tod der Person darf die Akte nur mit Einwilligung der Angehörigen offengelegt werden. Danach können die Akten nach den Regeln des Archivrechts genutzt werden, es sei denn, der Patient hat eine längere Sperrfrist verfügt“. Ein solches Patienten-Veto ist eine Erfindung des offenkundig ziemlich ahnungslosen Herrn Dix. Selbstverständlich kann ein Patient nicht entscheiden, wie lang eine archivrechtliche Sperrfrist sein darf, da die Festlegung von Sperrfristen eine Frage des öffentlichen Interesses ist.

Nimmt man den erwähnten Sammelband „Akten betreuter Personen“ zur Hand, kann man nur den Kopf schütteln, in welchem Ausmaß die Kollegen vom Landesarchiv Berlin mit der Herausgabe der Kinski-Akte Porzellan zerschlagen haben. In jedem Beitrag dieses Sammelbands haben die Autorinnen und Autoren deutlich gemacht, wie schwierig die Übernahme insbesondere von Psychiatrie-Akten angesichts der bestehenden Vorbehalte der Ärzte und Klinikverwaltungen ist. Um zu Übernahmen zu kommen, mussten Archivare eine immense Vertrauensarbeit leisten. Die ärztliche Schweigepflicht wird in diesem Band als eine „sehr rigide und schwer überwindbare Hürde“ dargestellt (S. 46).
Wenn man sich etwa die Ausführungen zur Akteneinsicht Hinterbliebener im Ärzteblatt http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=58474 ansieht, so muss man konstatieren, dass Angehörige zwar nur unter besonderen Umständen Krankenunterlagen Verstorbener einsehen dürfen (in der Regel aber nicht), wenn diese sich noch in der Klinik oder beim Arzt befinden, aber eine ganz andere Position haben, wenn die Akten ins Archiv gelangt sind. Hier gelten sie als befugt, die Einsichtnahme Dritter zu genehmigen, woraus zu schließen ist, dass sie ein eigenes Einsichtsrecht haben. § 9 des Berliner Archivgesetzes sieht ein Gegendarstellungsrecht der Angehörigen nach dem Tod eines Betroffenen vor, wenn die Richtigkeit von Tatsachenangaben strittig ist. Diese datenschutzrechtliche Klausel soll verhindern, dass eine behördliche Falschinformation auf ewig festgeschrieben wird. Ein Betroffener soll zwar nicht erreichen können, dass Aktenteile vernichtet werden, wenn er eine Tatsachenangabe als unrichtig darstellt, aber man will ihm die Chance einräumen, Benutzer der Akte durch Hinzufügung einer Gegendarstellung von seiner Sicht der Dinge zu informieren. Voraussetzung, dass die Angehörigen nach dem Tod des Betroffenen unrichtige Tatsachenangaben etwa in einem ärztlichen Bericht berichtigen können, ist natürlich die Benutzbarkeit durch sie. Unterläge das Patienten-Dossier immer noch der über den Tod unbefristet hinausreichenden ärztlichen Schweigepflicht, könnte das nie geschehen.

Der Gesetzgeber kann nicht auf der einen Seite den Archiven die Übernahme äußerst sensibler Unterlagen in nicht-anonymisierter Form erlauben, wenn auf der anderen Seite diese unbefristet aufgrund des Arztgeheimnisses selbst für die Angehörigen unbenutzbar sind. (Pikanterweise war der erwähnte Archivrechtler Schäfer 1997 der Ansicht, durch Fehlen einer eigenständigen Klausel zu den geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen im Berliner Archivgesetz sei die Übernahme von Patientenunterlagen in das Landesarchiv gar nicht möglich!)

Dem erwähnten Sammelband kann man entnehmen, dass die Archive den Kliniken bei den Benutzungsmodalitäten durch Dritte weit entgegengekommen sind. In Baden-Württemberg ist festgeschrieben, dass Psychiatrieakten ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke genutzt werden können. Kein Journalist wird daher auf absehbare Zeit die Möglichkeit haben, die Pyschiatrieakte einer prominenten Person (und sei die Akte noch so alt) in einem baden-württembergischen Staatsarchiv einzusehen, zumal eine „Nutzungsanonymisierung“ vorgeschrieben ist, also Namen bei der Auswertung nicht genannt werden dürfen.
Gibt es sensiblere Patientenunterlagen als Psychiatrie-Akten oder Akten über psychotherapeutische Behandlungen? Generell dürften die meisten Archive, die solche Akten verwahren, die Position des Tübinger Universitätsarchivars Wischnath teilen, der auch nach Ablauf der Schutzfristen (zehn Jahre nach dem Tod des Betroffenen, sechzig Jahre nach Entstehung – was jeweils länger ist) jeweils eine Einzelfallentscheidung trifft, bei der Persönlichkeitsrechte der Angehörigen (bzw. postmortales Persönlichkeitsrecht) und das Interesse des Antragstellers abzuwägen sind. Unterlagen über eine Psychiatrie-Erkrankung eines Vorfahren eines derzeit regierenden europäischen Monarchen wären nach seiner Praxis für die Yellow-Press tabu.

In § 8 Abs. 9 des Berliner Archivgesetzes steht ja auch, die Nutzung sei „zu versagen oder einzuschränken“, wenn Berufsgeheimnisse im Sinne des § 203, also auch die ärztliche Schweigepflicht verletzt würden. Ein völliges Nutzungsverbot aufgrund der Schweigepflicht wäre, wie ausgeführt, widersinnig. Aber bei Patientenunterlagen und insbesondere bei den außerordentlich heiklen Psychiatrie-Unterlagen ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut der Auftrag zu einer besonders strengen Prüfung des Benutzungszwecks. Diese muss umso strikter erfolgen, je jünger die Unterlagen sind.

Die Archive sind im Allgemeinen eher übervorsichtig, wenn es um den Schutz des postmortalen Persönlichkeitsrechts und die Persönlichkeitsrechte der Angehörigen geht. So hat das Bundesarchiv ein Gerichtsurteil gegen einen israelischen Forscher erwirkt, der eine Namensliste von NS-Euthanasieopfern entgegen den Auflagen des Archivs im Internet veröffentlicht hat.

Es spricht vieles dafür, dass die reißerische Darstellung der BILD-Zeitung über die Kinski-Akte das postmortale Persönlichkeitsrecht Kinskis oder das Persönlichkeitsrecht seiner Witwe verletzt hat. Kommt ein Gericht zum gleichen Schluss, kann es sein, dass – ähnlich wie bei dem von Helmut Kohl erwirkten Stasi-Akten-Urteil – die bisherige Benutzungspraxis der Archive, die ja vor allem den wissenschaftlichen Benutzer kannten und diesem mit Augenmaß entgegenzukommen versuchten, gekippt und durch ein sehr viel rigideres Vorgehen ersetzt wird. Nicht zu unterschätzen ist der „atmosphärische Schaden“, der das mühsam aufgebaute Vertrauensverhältnis der Archivare zu den Kliniken und den ärztlichen Verantwortlichen zu beschädigen geeignet ist.

Obwohl Kinski nach wie vor als absolute Person der Zeitgeschichte gelten kann, stellt sich die Frage, ob bereits 2008 ein öffentliches Interesse daran besteht, Details über eine Behandlung zu erfahren, die ja zu Lebzeiten unbestritten zur Intimsphäre gehörte, in die unter keinen Umständen durch Veröffentlichung eingegriffen werden darf.

Wenn ein seriöser Kinski-Biograph oder ein auf Psychiatrie-Geschichte spezialisierter Medizinhistoriker einen Antrag auf Sperrfristverkürzung gestellt hätten, hätte man als Archivar überlegen können, ob man die Akte zur Einsicht zur Verfügung stellt. Die meisten Archivare hätten aber auf den abzuwartenden Ablauf der Sperrfrist 2010 (60 Jahre nach Entstehung) verwiesen. Womöglich hätte aber eine hinreichend dezente Darstellung, auch wenn sie nicht mit den Angehörigen abgestimmt worden wäre, trotzdem keine Rechte verletzt.

Was aber wäre gewesen, wenn die Affäre sich 2010 abgespielt hätte? Dann hätten zwar weder das Landesarchiv noch der Datenschutzbeauftragte handwerklich grob fehlerhaft gehandelt, aber der Witwe Kinskis hätte eine Veröffentlichung in der BILD ebenso wenig gefallen. Welchen Zeitraum muss man ansetzen, damit der Archivar eine Psychiatrie-Akte wirklich zu beliebigen Zwecken (also auch der Boulevard-Presse) freigeben darf?

Aus der Sicht des (Medizin-)Historikers hat Gerhard Fichtner in dem mehrfach erwähnten Sammelband dafür plädiert, der Forscher möge doch die ärztliche Schweigepflicht wahren und auf Namensnennung verzichten. In der Geschichte der Psychoanalyse habe man es mit einem relativ kurzen Zeitraum (gut 100 Jahre) zu tun. Er habe überrascht festgestellt, dass die Patientin „Katharina“, die 1893 Sigmund Freud begegnete, einen Stiefbruder besaß, der 1979 noch am Leben war (S. 118).

Wie lange sollte man warten? Bis niemand (oder wenigstens kein Angehöriger mehr) mehr am Leben ist, der die Person persönlich gekannt hat? Hundertjährige sind heutzutage keine Seltenheit mehr. Könnte man eine Psychiatrieakte (wenn es eine gäbe) von Kaiser Friedrich II. bereits offen legen? Vielleicht lebt ja noch eine steinalte Nachfahrin Kaiser Wilhelms II., die ihn persönlich erlebt hat?

Nun hat die Psyche Wilhelms II. (oder Hitlers) sicher eine andere historisch-politische Relevanz als die unglückliche Liebe Kinskis zu seiner Ärztin. Es kommt also auf den Einzelfall und das Augenmaß der Archivare an. Sachgerecht ist weder, alle Psychiatrie-Akten für alle Zeiten nur der wissenschaftlichen Nutzung vorzubehalten und eine biographische Auswertung bei Prominenten durch die Forderung nach Nutzungsanonymisierung zu verunmöglichen, noch sie nach Ablauf der formalen Schutzfristen sofort für beliebige Zwecke zu öffnen. Und auch der rabiate Ausweg, bei Psychiatrie-Akten ganz auf eine Archivierung zu verzichten oder sie (nach dem Vorbild der Unterlagen von Beratungsstellen in manchen Archivgesetzen) nur in anonymisierter Form in das Archiv zu übernehmen, wäre nicht sinnvoll.
Die widerliche Sensationshascherei des Landesarchivs Berlin, dem ein archivrechtlich völlig unbeschlagener Landesdatenschutzbeauftragter zu Unrecht zu Hilfe eilte, hat dazu geführt, dass es nun auf die bisher bewiesene Behutsamkeit der Archivare erst einmal nicht mehr ankommt. Das Wort haben (einmal mehr) die Juristen: Staatsanwälte und Gerichte. Wichtiger wäre freilich eine ernsthafte öffentliche Debatte über Archive und deren Schutzfristen. 
 

twoday.net AGB

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