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http://www.boersenblatt.net/295855/ entnehmen wir den folgenden Beitrag:

Ein Beitrag von Dietrich Hakelberg in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" stellt eine Grundsatzfrage: zerstört der Antiquariatshandel gedrucktes und geschriebenes Kulturgut aus Privatbesitz?

Dietrich Hakelbergs Beitrag in den "Geisteswissenschaften" der gestrigen Ausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (10. Dezember 2008, Nr. 289, Seite N 3) steht unter der Überschrift "Telemann, filetiert. Der Antiquariatshandel zerstört das Stammbuch des Johann Friedrich Behrendt". Der Sachverhalt, um den es geht, ist eigentlich nicht kompliziert, er soll deshalb nur skizziert werden: der aus Ostpreußen stammende Student Johann Friedrich Behrendt (gest. 1757) führte ein Stammbuch, in dem sich etwa 70 Einträge finden, darunter zahlreiche von Hamburger und Lübecker Persönlichkeiten. Am 25. Mai 1736 trug sich auch der berühmte Hamburger Komponist Georg Philipp Telemann (1681 bis 1767) mit einem vierzeiligen lateinischen Zitat in das Album ein.
Im Mai 2008 bietet ein Hamburger Auktionshaus das komplette Stammbuch in seiner Frühjahrsversteigerung an. Schätzpreis: 5.000 Euro. Auf den Eintrag Telemanns weist der Katalog ausdrücklich hin, ebenso eine Pressemitteilung, die vor der Auktion am 21./22. Mai verschickt wird. Zugeschlagen wird das noch unversehrte Stammbuch für 4.500 Euro. Was geschieht daraufhin mit dem schmalen Lederbändchen?

In Hakelbergs Worten: "Kurze Zeit später muss die Harmonie der Einträge in Behrendts Stammbuch empfindlich gestört worden sein. Im Angebot des Wiener Antiquariats Inlibris vom Oktober dieses Jahres [u. a. im Anhang des Katalogs zur 4. Frankfurter Antiquariatsmesse in der Buchmesse, hier auf Seite A 57, Anm. der Redaktion] findet sich ein Telemann-Autograph 'von größter Seltenheit'. Es ist das Blatt aus dem Stammbuch des Johann Friedrich Behrendt. Für das aus seinem historischen Zusammenhang gerissene, zum autographen Fetisch degradierte Schriftzeugnis verlangt der Händler 28 000 Euro. Ein Blick auf die Internetseite des Antiquariats fördert im Handumdrehen etwa dreißig weitere, deutlich niedriger bewertete Blätter aus Behrendts Stammbuch zutage. […] Wie wird wohl der zerflederte Einbandtorso verwertet?"

Hakelberg schließt mit einem bitteren Fazit: "Ein Stammbuch, das einer weniger prominenten historischen Persönlichkeit gehörte, mag […] wie eine unbedeutende Marginalie erscheinen. Nach wie vor ist es gängige Antiquarspraxis, Manuskripte und illuminierte mittelalterliche Handschriften, illustrierte Werke und historische Sammelbände aufzuschneiden und die Blätter und Drucke einzeln zu verkaufen. […] Das Stammbuch Behrendt ist damit nicht nur ein weiterer schockierender Einzelfall, wie der Handel gedrucktes und geschriebenes Kulturgut aus Privatbesitz unwiederbringlich zerstören kann. Es ist ein Fall für die Berufsethik der ganzen Antiquariatsbranche."

Die Redaktion Antiquariat hat gestern den Wiener Antiquar und Inlibris-Geschäftsführer Hugo Wetscherek kontaktiert und ihn um eine Äußerung zu Hakelbergs Vorwürfen gebeten. Wetschereks Antwort ist aus unserer Sicht eine sehr genaue Stellungnahme zu den aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen, wir dokumentieren sie deshalb im Wortlaut:

"In Fortsetzung unseres gestrigen Telefonats und unter Bezugnahme auf den Beitrag Hakelbergs in der FAZ darf ich Ihnen mitteilen, dass ich nicht der Käufer des Stammbuchs im Mai gewesen bin und dieses daher auch nicht 'filetiert' habe. Der Käufer, dem es um einen einzigen, im Hamburger Auktionskatalog im übrigen gar nicht identifizierten Eintrag in diesem Stammbuch ging, hat mir einige Wochen nach der Versteigerung einen einbandlosen Torso angeboten, den ich selbstverständlich auch zur Verwertung übernommen habe.
Die Provenienz der Blätter war mir aber natürlich bekannt, auch war mir klar, dass dieser Corpus erst in jüngster Vergangenheit auseinandergebrochen wurde. Dies finde ich zwar ebenso bedauerlich wie Herr Hakelberg, aber leider kann man sich als Händler nur selten den Luxus leisten, ausschließlich mit jenen Objekten umzugehen, mit deren Bedeutung, Herkunft und Vergangenheit man in jeder Hinsicht einverstanden ist. Ein Einzelblatt aus einem vorkarolingischen Manuskript hat bei Zisska & Schauer kürzlich 130.000 Euro erzielt. Seine Überlieferung, die Tatsache, dass sich ebendieses Fragment überhaupt erhalten hat, verdankt es einem nach heutigen Kriterien 'barbarischen' Buchbinder, der es vor einigen hundert Jahren zu einem Einband verarbeitet hat.
Dass das besagte Stammbuch nicht als ganzes weiterbestehen durfte, ist natürlich dennoch eine Schande. Die Gründe hierfür waren aber nicht, wie fälschlich vermutet, merkantiler Natur, sondern ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände. Der erste war übrigens der niedrige Preis, den das Stammbuch in der Auktion erzielt hat. Der Telemann-Gesellschaft war das Angebot offenbar ebenso entgangen wie zahlreichen anderen Interessenten, die dieses sicher gerne als ganzes bewahrt hätten. Ersterer haben wir übrigens noch im Oktober eine detaillierte Beschreibung aller auf uns gekommenen Einträge des Stammbuchs zur Verfügung gestellt, um zumindest den Überlieferungszusammenhang des Telemann-Autographs für die Nachwelt zu dokumentieren. Auch darf ich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass wir unzählige vollständige Stammbücher verkauft haben oder nach wie vor unverkauft auf unseren Regalen stehen sehen, bei denen ein Aufbrechen aus geschäftlicher Sicht tatsächlich sinnvoll wäre (darunter solche mit Einträgen Goethes, Wielands, Lichtenbergs etc.), was von uns aber selbstverständlich nie auch nur angedacht wurde. Eine Diskussion über antiquarische Ethik ist immer begrüßenswert, allerdings sollte man sich hierzu vor Augen führen, dass der Antiquar in einem Markt agiert, der auch ohne sein Zutun bestehen würde; wie auch im konkreten Fall bestimmen wir als Händler nicht die (oftmals unerfreulichen) Regeln desselben, sondern versuchen uns innerhalb der vorhandenen Gegebenheiten, die von Auktionen, Privatanbietern, -sammlern und institutionellen Interessenten mitbestimmt werden, zurechtzufinden und ein in jeder Hinsicht schönes Geschäft zu machen.
Dass dieses – zumindest nach meinem Wollen – nicht in erster Linie aus Geld und Gewinn besteht, sondern interessante Erwerbungen und deren Verwertung in ansprechenden oder gar verdienstvollen Katalogen bzw. Publikationen ebenso einschließt wie das ganze Spektrum des Bewahrens, Pflegens und Würdigens bedeutender Bücher und Autographen, wird oftmals von Außenstehenden übersehen."


Kommentar

Ich habe in den Kommentaren zum Börsenblatt deutlich gemacht, dass ich in der Stellungnahme von Inlibris reine Heuchelei sehe. Solange keine Verbandsethik solches Zerlegen UND den Weiterverkauf der zerlegten Bücher ächtet, wird derlei immer wieder zum Verlust an unersetzlichen Kulturgütern führen. Kein Antiquar ist gezwungen, "moderne" Fragmente zu handeln. Mit der Praxis vor ein paar hundert Jahren zu argumentieren, verkennt das zwischenzeitlich gewachsene Bewusstsein für die Einheit von Geschichtsquellen.

Siehe auch
http://archiv.twoday.net/stories/3048883

http://palimpsest.stanford.edu/byform/mailing-lists/exlibris/2004/08/msg00028.html
http://web.archive.org/web/20070119133348/http://palimpsest.stanford.edu/byform/mailing-lists/exlibris/2004/08/msg00028.html

http://log.netbib.de/index.php?s=zerleg

UPDATE: http://archiv.twoday.net/stories/5594687/

 

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