http://www.amazon.de/Sagen-Schwäbischen-Alb-Klaus-Graf/dp/3871810312
Sagen der Schwäbischen Alb, hrsg. und kommentiert von Klaus Graf, Leinfelden-Echterdingen: DRW Verlag 2008. 304 Seiten mit 44 SW-Abbildungen und einer Karte der Schauplätze. 16,90 Euro.
ISBN 978-3-87181-031-2
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Als Kostprobe gibt es die Einleitung in meiner Preprint-Fassung.
„Eine Gegend ist romantisch, wo Geister wandeln; mögen sie uns an vergangene Zeiten mahnen oder sonst in geheimer Geschäftigkeit sich um uns her bewegen. Wir stehn noch außer dem Reigen der luftigen Elfen, die nach der nordischen Sage nur der sieht, der innerhalb ihres Kreises steht; aber wir fühlen ihre wehende Bewegung, wir hören ihre flüsternden Stimmen“. Ludwig Uhland: Über das Romantische, 1807
„Mehr und mehr wissen wir heute, daß dieses ‚Volksgut’ nur vielfach gefiltert zu uns gelangt ist, gemahlen durch die Denkmühlen bürgerlichen Bewußtseins und neu gekocht oder gebacken für ein Publikum, dessen Interessen nur selten identisch waren mit denen des Volkes.“ Rudolf Schenda: Volkserzählung und nationale Identität: Deutsche Sagen im Vormärz (1830-48). In: Fabula 25 (1984), S. 302
Eine einfache Definition der Sage könnte lauten: Sagen sind das, was man in Büchern, die Sagenbücher heißen, vorfindet. Im Jahr 1800 erschien die erste moderne Sagensammlung, Johann Carl Christoph Nachtigals Volcks-Sagen, aber ohne die umfangreichen zweibändigen Deutschen Sagen der Brüder Grimm (1816/18) hätte das Sagensammeln wohl kaum zu der Flut von Sagenbüchern geführt, die im deutschsprachigen Raum im 19. und 20. Jahrhundert erschienen sind. Die romantische Begeisterung für die „Volkspoesie“ hat die literarische Gattung Sage wesentlich geformt. Gleichzeitig haben romantische Klischees unausrottbare Irrtümer über das vermeintliche „Wesen“ von Sagen in die Welt gesetzt.
Sagen sind keine Botschaften aus uralter Zeit, die mündlich von Generation zu Generation getreu weitergegeben wurden. Sie sind keine Quellen für die „Geisteswelt der vorchristlichen Menschheitsgeschichte“, wie man noch in einem Buch Sagen und Bräuche im Kreis Esslingen aus dem Jahr 1985 lesen kann. Es sind keine Überbleibsel aus grauer Vorzeit, sondern zuallererst literarische und volkskundliche Dokumente ihrer Zeit, nämlich der Zeit, in der sie aufgeschrieben wurden, also des 19. und 20. Jahrhunderts.
Der Sagenbestand eines Raums ist immer das Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung zwischen Erzählern (und Erzählerinnen) auf der einen Seite und den Sammlern auf der anderen Seite. Ohne die Erzähler gäbe es keine Sagen, ohne die Sammler aber auch nicht. Sagen spiegeln die subjektiven Vorlieben, den literarischen Geschmack, das Weltbild und die sozialen Verhältnisse ihrer Erzähler. Sie spiegeln aber auch die Vorurteile und Neigungen der gelehrten Sammler, deren gedruckte Sagenbücher alles andere als ein unverfälschtes Abbild vergangener Erzählkultur bieten. Die Sammler waren auf der Suche nach „echter“ Volkspoesie, sie ließen weg, was ihnen zu unscheinbar oder anstößig erschien, und sie redigierten und schrieben die Texte um, damit sie möglichst dem von den Brüdern Grimm erfundenen „Sagenton“ entsprachen. Steuerungs- und Ausblendungsprozesse schufen das trügerische Bild einer „zauberhaften Sagenheimat“. Sagenfassungen in Gedichtform kamen zunehmend aus der Mode: Volkskundlerinnen und Volkskundler schätzen heute nur die nüchterne Prosasage, den authentischen „Ethnotext“, der sozialgeschichtlich interpretierbar ist. Um Sagengedichte machen Volkskundler einen großen Bogen und Germanisten ebenfalls, es sei denn, sie stammen aus der Feder berühmter Autoren.
Sagensammler brauchten ein gerüttelt Maß an Glück und Findigkeit, mussten sie doch das Vertrauen ihrer Gewährsleute erwerben. Gern verschwieg man Geister- und Hexengeschichten, um nicht als abergläubisch und rückständig zu gelten. Als der Tübinger Professor Ernst Meier, der 1852 die erste wichtige gedruckte Sammlung schwäbischer Sagen veröffentlichte, sorgfältig aufschrieb, was ihm ein Schäfer an „altem Gesag“ berichtete, fragte ihn der Erzähler: „Aber Herr, glaubet denn Sia so Lumpesächle no?“ Man durfte auch nicht mit der Tür ins Haus fallen und etwa fragen: „Gibts keine Sagen hier?“ Auf so plumpe Fragen, wusste Meier, „wird man ein einfaches Nein zur Antwort bekommen; oder das Volk antwortet wie jene Bäckerfrau auf die nämliche Frage etwa so: ‚noi, Sagen hent mer koine, aber Wecken!’“
Sagen sind „geglaubte Tradition“, liest man oft in der volkskundlichen Fachliteratur. Ohne Frage lassen viele Albsagen die Angst vor einer harten und unbarmherzigen Natur erkennen, in der tückische Geister den Menschen Schaden zufügen. Die grausamen, Tod und Verderben bringenden Spukgestalten scheinen nichts gemein zu haben mit jenen romantischen Wesen, mit denen Uhland die Landschaft beseelt sah. Wenn man aber Kinder mit Schreckgestalten wie dem Hakenmann, der unaufmerksame Kinder in die Donau zieht, vor Gefahren warnte, wird man bezweifeln dürfen, dass alle Erwachsenen felsenfest von der Existenz der Dämonen überzeugt waren. Neben dem Sagenglauben gab es immer auch den Sagenzweifel. Nicht selten nahm man nicht einfach für bare Münze, was erzählt wurde, sondern prüfte nach. So heißt es über das Pfullinger „Nachtfräuleinloch“ bei Ernst Meier: „Vor einigen 20 Jahren hat man dieß Loch untersucht und weiter darin nachgegraben“. Viele Sagen waren einfach nur unterhaltsame Geschichten, an die man nicht oder nur halb geglaubt hat. Viel zu wenig weiß man über die sogenannten „Anti-Sagen“, die den Sagenglauben angreifen und entlarven. Beispiel: Ein geheimnisvolles Licht entpuppt sich als phosphoreszierender Baumstamm. Solche eher lustigen Geschichten, die natürliche Erklärungen für angeblich Übernatürliches anboten, findet man kaum in den gedruckten Sammlungen. Aber Anti-Sagen waren ebenso wie die Sagen Elemente einer reichhaltigen und vielgestaltigen mündlichen Erzählkultur, in der sich mündliche Überlieferungen und Angelesenes untrennbar vermischten.
Die Sammler mündlichen Erzählguts wählten nach ihren Vorlieben aus, und viele Geschichten bekamen sie überhaupt nicht zu hören. Fixiert auf das romantische Vorurteil uralter Überlieferung verkannten sie die Abhängigkeit der „Volkssagen“ von zeitgenössischen Lesestoffen. Die vielen romantischen Burgensagen und die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der deutschen Literaturgeschichte greifbare Begeisterung für (meist triviale) Rittergeschichten gehören zusammen. Die mündliche Volkskultur und die Welt der Bücher verband ein ständiger intensiver Austausch, der von den volkskundlichen Gralshütern der „echten Volkssage“ bis heute entschieden unterschätzt wird.
Die Vielfalt mündlichen Erzählens kann kein Sagenband wiedergeben. Dörfer und Städte waren erfüllt von Geschichten. Es gab viele Gelegenheiten zum Erzählen: Geschichten waren im Wirtshaus ebenso zu hören wie im Heimatkundeunterricht der Schule. Es konnten lustige, traurige, fromme oder unheimliche Geschichten sein, wahre, halbwahre und erfundene. Nur ein winziger Bruchteil von ihnen hat Eingang in die bewahrende Schriftlichkeit gefunden.
Natürlich erzählt man auch heute noch Sagen. Dies gilt auch, wenn man die sogenannten „modernen Sagen“ à la Die Spinne in der Yucca-Palme ausklammert. Die mündlichen Albsagen der Gegenwart sind vor allem aus Heimatbüchern und Sagenbänden geläufig. Unbekannte Geschichten über Riesen und Zwerge voller stiller Poesie, wie sie vor über 150 Jahre Ernst Meier notieren konnte, gibt es sicher nicht mehr aufzuspüren. Aber bei geduldiger Suche würde man auf der Alb noch viele einfache Geistergeschichten und dutzende Angaben über vermeintliche unterirdische Gänge vorfinden. Schon Ludwig Uhland klagte um 1830, die Zeit, Sagen zu sammeln, sei vorbei. Rund zwanzig Jahre später bewies ihm Ernst Meier, der sein Buch Uhland widmete, das Gegenteil.
Die Maßstäbe für das Sammeln von Sagen auf der Schwäbischen Alb setzte 1823 ein Freund Uhlands. Dem Stuttgarter Gymnasiallehrer Gustav Schwab (1792-1850), heute noch bekannt durch seine Sagen des klassischen Altertums, gelang 1823 mit seinem Reiseführer Die Neckarseite der Schwäbischen Alb ein Beststeller. Schwab gab eine Reihe von Sagen, die er vor Ort aufschnappte oder aus gelehrten Werken exzerpierte, in Prosa wieder, daneben bearbeitete er Sagenstoffe auch in Form von Gedichten („Romanzen“). Dieses Buch hat großen Einfluss auf spätere Sammlungen ausgeübt – und auch auf das mündliche Erzählen. Schwab war damals nicht der einzige, der Sagenballaden schrieb. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Sagengedichte weitaus beliebter als Prosa-Sagen. So ist es denn kein Zufall, dass der Hermaringer Pfarrer Rudolf Magenau zwei Jahre später das erste gedruckte schwäbische Sagenbuch (Poetische Volks-Sagen und Legenden größtentheils aus Schwaben, 1825) als Gedichtband herausbrachte.
Bei den Sagengedichten dominierten die „historischen Sagen“. Die Brüder Grimm hatten die „Ortssagen“ mit ihren dämonischen Gestalten, die man heute in der Volkskunde „dämonologische Sagen“ nennt, auf der einen Seite und die historischen Traditionen auf der anderen Seite in einen Topf geworfen und beide „Sage“ genannt. Weggelassen wurden aus der Volksüberlieferung die Märchen (als nicht ortsgebunden, obwohl es durchaus ortsgebundene Märchen gibt), die lustigen Geschichten („Schwänke“) und die frommen Legenden. Die Verbindung von Spukgeschichten und Geschichte unter dem gemeinsamen Etikett „Sage“ hat bis heute Bestand.
Historische Sagen begriff man im Vormärz als „vaterländische Altertümer“, wobei Vaterland natürlich das jeweilige Territorium meinte. Der Löwenanteil der Alb war württembergisch, altwürttembergisch-protestantisch, auch wenn nach 1802 vor allem vorderösterreichische katholische Gebiete das Königreich von Napoleons Gnaden vergrößert hatten. Dann gab es Hohenzollern, also die kleinen Fürstentümer Hohenzollern-Hechingen und Hohenzollern-Sigmaringen, die 1850 preußisch wurden. Und auf der Westalb waren etliche Orte großherzoglich badisch.
Vaterländische Sagen sollten den auf die jeweilige Monarchie bezogenen Patriotismus fördern, sie wurden als erhebender und poetischer Schmuck in Geschichtsdarstellungen aufgenommen. Es ging um die „Heimat im Prachtgewande des Alterthumes“ (Ludwig Egler, Aus der Vorzeit Hohenzollerns, 1861). Wilhelm Hauffs württembergische „Kunstsage“ Lichtenstein über die Flucht Herzog Ulrichs (1826), die Sagen-Anregungen aus Schwabs Neckarseite aufgriff, hat nicht nur zu dem Bau des neugotischen „Märchenschlosses“ Lichtenstein geführt, sondern auch die mündliche Sagenbildung merklich inspiriert. Sagen müssen als Teil der ausgeprägten Erinnerungs- und Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts begriffen werden, also des Ensembles aus Denkmälern, Historienbildern, Schauspielen, Festzügen usw., mit denen man sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzte. Sage und Geschichte galten als Schwestern. Dies verdeutlicht auch die Darstellung der allegorischen Figuren Sage und Geschichte als Quellen für Kunst und Wissenschaft durch den Maler Wilhelm Peters auf der in der Mitte des 19. Jahrhunderts historistisch „rekonstruierten“ Burg Hohenzollern.
Mit Jacob Grimms Deutscher Mythologie (1835) rückten die dämonologischen Sagen in den Vordergrund. Aus ihnen erhoffte man sich Aufschlüsse über den einstigen germanischen Götterglauben. Inzwischen weiß man: Es war ein wissenschaftlicher Irrweg. Rudolf Schenda: „Die Parallelisierung von Mythen- und Sagenfiguren wurde zum Steckenpferd der deutschen Lehrerschaft. Wotan/Donar war allgegenwärtig, Frauengestalten, inklusive die Gottesmutter Maria, wurden mit Freya/Frouwa identifiziert, die Holden und Unholden trabten omnipräsent durch Berg und Tal“ (Mären von Deutschen Sagen. In: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983, S. 37).
Eine umfassende Sammlung schwäbischer Volkssagen bereitete der Stuttgarter Gymnasiallehrer Albert Schott der Jüngere (1809-1847) vor. Das Material trugen vor allem seine Schüler zusammen, die mündliche Sagen ihrer Heimat aufschreiben mussten. Schotts früher Tod verhinderte die Publikation, die mythologische Kommentare enthalten sollte, doch blieben die Materialien in Form einer zweibändigen Handschrift erhalten (heute in der Stuttgarter Landesbibliothek). 1850 bekamen die Seminaristen am Nürtinger Lehrerseminar von ihrem Rektor Theodor Eisenlohr (1805-1869) die gleiche Aufgabe gestellt. Sie sollten in ihren Ferien ebenfalls Sagen aufschreiben. Wolfram Haderthauer hat diese beiden und weitere frühe handschriftliche Sagensammlungen Württembergs in seiner Eichstätter Dissertation (2001) gewürdigt. Unglücklicherweise ist diese verdienstvolle Arbeit, deren Editionsteil nicht weniger als 376 Texte enthält, als in nur wenigen Bibliotheken einsehbare Mikrofiche-Ausgabe eher versteckt denn veröffentlicht.
Schüler- und Seminaristensammlungen bereiten Volkskundlern Sorgen, denn die Authentizität der Texte ist alles andere als sichergestellt. Der österreichische Volkskundler Richard Wolfram traf im Ultental eine alte Lehrerin, die sich daran erinnerte, wie die Lehramtskandidaten dem Tiroler Sagensammler Johann Adolf Heyl Sagen bringen mussten: „Er hat die Kandidaten sehr gequält und es hat auch schlechte Noten gegeben, wenn man ihm nichts Gutes gebracht hat. Ein Teil der Sagen bei Heyl ist deshalb derstunken und derlogen“. Von dem Aargauer Sagensammler und Lehrer Ernst Ludwig Rochholz wird Ähnliches berichtet: Er sei durch Sagen sehr zu erfreuen gewesen. Die Schüler erzählten Geschichten, die sie von Ehemaligen gehört hatten, und fabulierten einiges hinzu, was der Lehrer dann als Variante betrachtete. Im Fall der Sammlung Schotts ist ein schlüssiger Beweis, dass eine Geschichte von dem Schüler erfunden wurde, nicht möglich, auch wenn nicht wenige sich sehr „verdächtig“ lesen. Nimmt man die Sagen aber als literarische Texte, in denen Mündliches und Schriftliches sich durchdringen, verschwindet das Problem.
Die vielen sonst nicht bekannten Sagen in den frühen handschriftlichen Sammlungen können aber nicht alle auf individuelle Erfindungen („Fakelore“) zurückgeführt werden. Offenbar muss die romantische Vorstellung revidiert werden, die im 19. und 20. Jahrhundert aufgezeichneten Sagen seien die Reste eines umfassenderen, sehr alten Bestandes. Vielmehr hat man mit einem ständigen Wandel und Austausch des mündlichen Erzählguts vor Ort zu rechnen, also mit einer vergleichsweise hohen Fluktuation. Sagen bildeten sich häufig neu und verschwanden ebenso rasch wieder. Daneben gab es besonders populäre Geschichten, die sich länger halten konnten und in vielen Varianten kursierten, auch wenn sie zusätzlich in gedruckter Form eine Verfestigung erfahren hatten. Dies ist etwa der Fall bei den Erzählungen über die Pfullinger Urschel (dem besonders reichen Pfullinger Sagenbestand ist ein eigenes Kapitel gewidmet) oder die Sibylle von der Teck. Auch hier kann man eine deutliche Wechselwirkung zwischen schriftlichen und mündlichen Versionen feststellen.
Die beiden wichtigsten Autoren gedruckter schwäbischer Sagensammlungen im 19. Jahrhundert sammelten selber: der Tübinger Orientalistik-Professor Ernst Meier (1813-1866), dessen Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben 1852 erschienen, und der katholische Geistliche und Germanistik-Hochschullehrer Anton Birlinger (1834-1891). Birlinger wurde bei seinem Sagenbuch Volksthümliches aus Schwaben (1861) von dem Arzt und Dialektautor Michael Buck aus Ertingen (1832-1888) unterstützt. Eine Nachlese Aus Schwaben verantwortete Birlinger 1874 allein. Beide Professoren, Meier und Birlinger, standen ganz im Bann der mythologischen Sagendeutung.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erschienen mehr und mehr „Heimatbücher“, die, häufig von Lehrern verfasst, Sagen einen Ehrenplatz einräumten. Die zivilisationskritische „Heimatbewegung“ pflegte bewusst das alte Volksgut, zu dem man auch die Sagen zählte. Zugleich etablierte sich die Volkskunde als eigenes Fach, getragen zunächst einmal nicht von akademischen Kreisen, sondern von vielen heimatbegeisterten Laien vor Ort, die in die volkskundlichen Vereine eintraten. Eine großangelegte Erhebung „volkstümlicher Überlieferungen“ fand 1899/1900 statt, als die württembergischen Volksschullehrer im Rahmen der Bezirkslehrerkonferenz Aufsätze nach einem vorgegebenen Fragebogen einreichen mussten (die sogenannten Konferenzaufsätze). Erwähnung verdient aber auch der 1888 gegründete Schwäbische Albverein, in dessen Vereinszeitschrift viele Sagen Eingang fanden.
Kein Berufsstand hat Sagen eifriger zusammengetragen als die Pädagogen. Die Lehrer lasen die Texte nicht nur mythologisierend und als Dokumente der Heimatgeschichte, sie waren auch sehr angetan von der moralischen Haltung der Sage und ihren sittlichen Werten. Sagen, in denen Frevler göttlicher Strafe anheim fielen, eigneten sich bestens für das erzieherische Projekt der „Volksveredelung“. Den Schulmeistern gefiel der erhobene Zeigefinger.
In Tuttlingen dokumentierte der Lehrer Dr. Paul Dold (1886-1934) die örtliche Sagenüberlieferung vermeintlich getreu, doch bei näherem Hinsehen stellen sich Zweifel ein. Wie viele Lehrer hat er vorgefundene Erzählungen, deren Gewährsleute er immerhin jeweils vermerkte, literarisiert und sprachlich gefälliger dargeboten. In Heimatbüchern und Sammlungen der Zwischenkriegszeit, etwa dem Sagenkränzlein (1924) des Oberlehrers Evarist Rebholz (1870-1932), trifft man regelmäßig süßlichen Sagen-Kitsch an. Ganz anders verhält es sich mit den 1935 bis 1939 zusammengetragenen, aber erst 1987 von dem Arzt Karl Keller (1914-1987) publizierten Sagen aus dem Lonetal. Auch wenn sie leider ins Hochdeutsche übersetzt sind, vermitteln diese meist sehr kurzen Erzählungen ein anschauliches Bild von den dominanten Themen der mündlichen Überlieferung. Kellers Ein-Satz-Sagen sind ungleich näher am „Volk“ als die schwülstige Sagenprosa der Heimatbücher jener Zeit.
Keller hätte seine Sammlung 1939 ohne weiteres veröffentlichen können, doch musste er befürchten, dass sie von NS-Ideologen aufgegriffen worden wäre. Die Suche nach den germanischen Glaubenskernen der Sagen hatte damals Hochkonjunktur. Die Volkssagen führen „zu den Wurzeln unserer volklichen Existenz hinab: zur lebendigen mütterlich-bewahrenden Seele unseres Volkes“, schrieb 1943 in der NS-Propagandazeitschrift Germanien ein Germanist, der nach 1945 ein hoch angesehener Hochschullehrer in Innsbruck werden sollte. Der Arzt und spätere SS-Brigadeführer Wilhelm Kinkelin war in seinem tiefbraunen Pfullinger Heimatbuch von 1937 besonders stolz auf die geschlossene Zusammenstellung der Pfullinger Sagen. Von der ideologischen Belastung der Sagenforschung in der NS-Zeit erfährt man jedoch in den Einleitungen der auf den schnellen Absatz berechneten Sagenbücher nichts. Die aus den sattsam bekannten Quellen entnommenen und modernisierten Sagen werden unverdrossen mit der traditionellen Heimat-Rhetorik als uraltes Volksgut dargestellt, und weil man sie gern mit der Aura des „Zeitlosen“ umgibt, verdrängt man, dass die Beschäftigung mit ihr oft sehr zeitgebundene Formen angenommen hat.
Wenn man Sagen als historische Dokumente ihrer Zeit (und nicht einer grauen Vorzeit) ernst nimmt, muss man davon absehen, sie gefällig nachzuerzählen und in modernisierter Form dem Publikum darzubieten. Um sie geschichtlich einordnen zu können, bedürfen sie nicht selten der ausführlichen Kommentierung. Daher finden sich im Folgenden häufig Hinweise auf die Herkunft der Geschichten, auf weitere Fassungen und ihr Weiterleben in der Gegenwart (etwa wenn Sagengestalten zu Namenspaten von Fasnetszünften geworden sind).
Aufgenommen wurden Sagen von der Westalb bis zur Ostalb, also von Möhringen an der Donau und der Gegend um Tuttlingen bis zum Härtsfeld rund um Neresheim. Einbezogen wurden etliche Orte des unmittelbaren Albvorlands auf der Nordseite der Alb, das mit Blick auf die Sagen ergiebiger ist als die Albhochfläche.
Aus Umfangsgründen konnte nur eine kleine Auswahl aus dem großen Sagenbestand des Albgebiets berücksichtigt werden. Auch wenn die Sagenforschung dazu neigt, Sagen-Landschaften ein unverwechselbares Profil zuzuschreiben, ohne dies hinreichend absichern zu können, steht außer Zweifel, dass ein Teil der Sagen durchaus „albtypisch“ ist. Es sind dies die Natur-Sagen, die sich mit den naturräumlichen Eigenheiten der Alb auseinandersetzen, mit den Felsen und dem Wasser. Die bizarren Felsgebilde sind bis heute „Erzähl-Male“ geblieben, an denen sich Erklärungs-Geschichten („ätiologische Sagen“) festmachten. Gern hat man die steinernen Überbleibsel des Jurameers – etwa das „Steinerne Weib“ bei Wiesensteig oder die „Steinernen Jungfrauen“ im Brenztal - als zur Strafe für Frevel erstarrte Menschen gedeutet. Sagenbildend haben auch die Karstphänomene gewirkt: Dolinen und Erdfälle, Karstquellen (wie der Blautopf), vor allem aber die Höhlen. Bezeichnenderweise ist die frühestbezeugte Sage dieses Bandes (aus der Zeit um 1500) eine typische, im 19. und 20. Jahrhundert weit verbreitete Höhlensage: Ein Tier (meist eine Ente oder eine Gans) verschwindet in der Höhle und kommt weit entfernt wieder zum Vorschein. Immer wieder wurden und werden Schätze in Höhlen vermutet, bewacht von dämonischen Gestalten. Schatzgraben mittels magischer Hilfsmittel war eine verbreitete reale Praxis in der frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert. Der sozialgeschichtliche Hintergrund liegt auf der Hand: Armut und harte Lebensbedingungen, denen man so entfliehen wollte.
Angestrebt ist eine möglichst abwechslungsreiche, unterhaltsame und lehrreiche Mischung aus bekannten und unbekannten Texten vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert. Sagen begegnen – auch das soll die Auswahl zeigen - in den unterschiedlichsten Medien: in den gedruckten Sagenbüchern ebenso wie in handschriftlichen Aufzeichnungen. Eine Reihe handschriftlich überlieferter Sagen wird in diesem Band erstmals veröffentlicht. Sagen wurden in Tageszeitungen ebenso wie in Heimatbüchern und Ortschroniken abgedruckt. Und sie sind inzwischen in stattlicher Zahl im Internet präsent, das bei der Erstellung dieses Bandes und der Kommentierung der Sagen unschätzbare Dienste geleistet hat. Man sieht: Sagen sind immer noch ausgesprochen lebendig.
***
Aus dem Anhang, der die jeweiligen Vorlage und gelegentlich Varianten exakt nachweist:
(Literaturverzeichnis und Quellenabkürzungen)
Binder = Hans Binder, Die volkstümliche Überlieferungen um Höhlen und Quellen, in: Karst und Höhle 1993, S. 25-44
Birlinger I = Anton Birlinger/Michael Buck, Volksthümliches aus Schwaben, Bd. 1, 1861
Birlinger II = Anton Birlinger, Aus Schwaben, Bd. 1, 1874
BllSAV = Blätter des Schwäbischen Albvereins
Dold = Paul Dold, Die Sagenwelt Tuttlingens und seiner Umgebung, 1940
Egler = Ludwig Egler, Mythologie, Sage und Geschichte der Hohenzollernschen Lande, 1894
EM = Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1ff., 1977ff.
Götz = Rolf Götz, Die Sibylle von der Teck, 1999
Graf, Kirchheim = Klaus Graf, Sagen - Kritische Gedanken zu Erzählungen aus dem Kirchheimer Raum, in: Schriftenreihe des Stadtarchivs Kirchheim unter Teck 22 (1998), S. 143-164
Graf, Schwabensagen = Klaus Graf, Schwabensagen. Zur Beschäftigung mit Sagen im 19. und 20. Jahrhundert. Erweiterte Internetpublikation 2007 von dem in: Schwabenspiegel, Bd. 2.1, 2006, S. 279-309 erschienenen Aufsatz. Online
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/3459/
Graf, Stuttgart = Klaus Graf, Sagen rund um Stuttgart, 1995
Haderthauer = Wolfram Haderthauer, Sagen aus Württemberg. Unveröffentlichte Sammlungen des 19. Jahrhunderts, Diss. Eichstätt 2001 (auf Mikrofiche)
HDA = Handwörterbuch des deutschen Aberlaubens, Bd. 1-10, 1927-1942 Nachdruck 2000
Heim = Ines Heim, Sagen von der Schwäbischen Alb, 1992
KA = Konferenzaufsatz, Württembergische Landesstelle für Volkskunde Stuttgart (siehe auch www.schwaben-kultur.de, Transkriptionen von Reinhard Caspers)
Kapff = Rudolf Kapff, Schwäbische Sagen, 1926
Keller = Karl Keller, Sagen aus dem Lonetal, 1987
Kettenmann = Jürgen Kettenmann, Sagen im Kreis Göppingen, 3. Aufl. 1989
Meier = Ernst Meier, Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, 1852
OAB = Beschreibung des Oberamts
Rebholz = Evarist Rebholz, Sagenkränzlein. Erweiterte Ausgabe, 1924
Schneider = Fritz Schneider, Die Ostalb erzählt, 4. Aufl. 1991
Schott = Albert Schott der Jüngere, Schwäbische Volkssagen, Bd. I-II, 1847, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. poet. et phil. 4° 134
Schwab = Gustav Schwab, Die Neckarseite der Schwäbischen Alb. Neudruck hrsg. von Hans Widmann,1960
Seminaraufsatz = Seminaraufsatz für Rektor Theodor Eisenlohr in Nürtingen 1850, Württembergische Landesstelle für Volkskunde Stuttgart, N Volkskunde-Verein C/1
Setzen = Florian Henning Setzen, Geheimnisvolles Christental, 1994
Stehle = Bruno Stehle, Volkstümliches aus Hohenzollern, in: Alemannia 12 (1884), S. 1-12
Zimmerische Chronik = Zimmerische Chronik, hrsg. von Karl August Barack, Bd. 1-4, 2. Aufl. 1881
Hinweise für weiterführende Lektüre
Eine empfehlenswerte Einführung zum neueren Forschungsstand der Erzähl- und Sagenforschung ist im Buchhandel derzeit nicht erhältlich. Hingewiesen sei allerdings auf die lesenswerte zusammenfassende Darstellung zur mündlichen Erzählüberlieferung Europas: Rudolf Schenda, Von Mund zu Ohr, 1993. In Bibliotheken einsehbar ist die Enzyklopädie des Märchens, in der Hans-Jörg Uther und Lutz Röhrich in Bd. 11 2004 den umfangreichen Artikel Sage (Sp. 1017-1041) mit vielen Literaturangaben verfasst haben. Weiterführende Hinweise liefert auch der bequem online konsultierbare Beitrag Graf, Schwabensagen (2007). Zu gedruckten Sagensammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts: Hannelore Jeske, Sammler und Sammlungen von Volkserzählungen in Schleswig-Holstein, 2002.
Nachweise zur Einleitung bieten die Aufsätze Graf, Kirchheim und Graf, Schwabensagen. Ergänzungen: Zur Problematik der Schüler-Fakelore vgl. Richard Wolfram, Sorgen mit Sagen, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 34 (1980), S. 243-245 (Heyl); Martin Heule, in: Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz, 1988, S. 267 (Rochholz).
[Weitere Online-Arbeiten zum Thema Sagen von mir:
http://archiv.twoday.net/stories/4990762/ ]
[ http://www.listserv.dfn.de/cgi-bin/wa?A2=ind0812&L=hexenforschung&O=D&P=1143 Heuberg-Sage mit Kommentar und Nachweisen aus dem Buch]
[ http://archiv.twoday.net/stories/5581930/ Lichtenstein-Sage]
[ http://archiv.twoday.net/stories/5984813/ 2 Sagen aus Schwabs Neckarseite]
[Kostenlose Leseprobe "Auf der rauhen Alb", 24 Seiten:
http://www.drw-verlag.de/buch/download/sagenderschwalb/Leseprobe.pdf ]
[Sage Der höllische Schuss, Hechingen: http://archiv.twoday.net/stories/6251236/ ]
[Kapitel: Im Sagenreich der Pfullinger Urschel
http://archiv.twoday.net/stories/64956428/ ]
Rezeption:
Ein sehr interessantes Buch mit tollen Geschichten.
http://www.fachbuchkritik.de/html/sagen_der_schwabischen_alb.html
[Rezension in der Hohenzollerischen Heimat 2009:
http://www.hohenzollerischer-geschichtsverein.de/userfiles/files/HZ-Heimat/HH_059_2009_ocr.pdf ]
Sagen der Schwäbischen Alb, hrsg. und kommentiert von Klaus Graf, Leinfelden-Echterdingen: DRW Verlag 2008. 304 Seiten mit 44 SW-Abbildungen und einer Karte der Schauplätze. 16,90 Euro.
ISBN 978-3-87181-031-2
Wer mich und meine Arbeit unterstützen will, kann dies durch den Erwerb des Buches tun :-)
Als Kostprobe gibt es die Einleitung in meiner Preprint-Fassung.
„Eine Gegend ist romantisch, wo Geister wandeln; mögen sie uns an vergangene Zeiten mahnen oder sonst in geheimer Geschäftigkeit sich um uns her bewegen. Wir stehn noch außer dem Reigen der luftigen Elfen, die nach der nordischen Sage nur der sieht, der innerhalb ihres Kreises steht; aber wir fühlen ihre wehende Bewegung, wir hören ihre flüsternden Stimmen“. Ludwig Uhland: Über das Romantische, 1807
„Mehr und mehr wissen wir heute, daß dieses ‚Volksgut’ nur vielfach gefiltert zu uns gelangt ist, gemahlen durch die Denkmühlen bürgerlichen Bewußtseins und neu gekocht oder gebacken für ein Publikum, dessen Interessen nur selten identisch waren mit denen des Volkes.“ Rudolf Schenda: Volkserzählung und nationale Identität: Deutsche Sagen im Vormärz (1830-48). In: Fabula 25 (1984), S. 302
Eine einfache Definition der Sage könnte lauten: Sagen sind das, was man in Büchern, die Sagenbücher heißen, vorfindet. Im Jahr 1800 erschien die erste moderne Sagensammlung, Johann Carl Christoph Nachtigals Volcks-Sagen, aber ohne die umfangreichen zweibändigen Deutschen Sagen der Brüder Grimm (1816/18) hätte das Sagensammeln wohl kaum zu der Flut von Sagenbüchern geführt, die im deutschsprachigen Raum im 19. und 20. Jahrhundert erschienen sind. Die romantische Begeisterung für die „Volkspoesie“ hat die literarische Gattung Sage wesentlich geformt. Gleichzeitig haben romantische Klischees unausrottbare Irrtümer über das vermeintliche „Wesen“ von Sagen in die Welt gesetzt.
Sagen sind keine Botschaften aus uralter Zeit, die mündlich von Generation zu Generation getreu weitergegeben wurden. Sie sind keine Quellen für die „Geisteswelt der vorchristlichen Menschheitsgeschichte“, wie man noch in einem Buch Sagen und Bräuche im Kreis Esslingen aus dem Jahr 1985 lesen kann. Es sind keine Überbleibsel aus grauer Vorzeit, sondern zuallererst literarische und volkskundliche Dokumente ihrer Zeit, nämlich der Zeit, in der sie aufgeschrieben wurden, also des 19. und 20. Jahrhunderts.
Der Sagenbestand eines Raums ist immer das Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung zwischen Erzählern (und Erzählerinnen) auf der einen Seite und den Sammlern auf der anderen Seite. Ohne die Erzähler gäbe es keine Sagen, ohne die Sammler aber auch nicht. Sagen spiegeln die subjektiven Vorlieben, den literarischen Geschmack, das Weltbild und die sozialen Verhältnisse ihrer Erzähler. Sie spiegeln aber auch die Vorurteile und Neigungen der gelehrten Sammler, deren gedruckte Sagenbücher alles andere als ein unverfälschtes Abbild vergangener Erzählkultur bieten. Die Sammler waren auf der Suche nach „echter“ Volkspoesie, sie ließen weg, was ihnen zu unscheinbar oder anstößig erschien, und sie redigierten und schrieben die Texte um, damit sie möglichst dem von den Brüdern Grimm erfundenen „Sagenton“ entsprachen. Steuerungs- und Ausblendungsprozesse schufen das trügerische Bild einer „zauberhaften Sagenheimat“. Sagenfassungen in Gedichtform kamen zunehmend aus der Mode: Volkskundlerinnen und Volkskundler schätzen heute nur die nüchterne Prosasage, den authentischen „Ethnotext“, der sozialgeschichtlich interpretierbar ist. Um Sagengedichte machen Volkskundler einen großen Bogen und Germanisten ebenfalls, es sei denn, sie stammen aus der Feder berühmter Autoren.
Sagensammler brauchten ein gerüttelt Maß an Glück und Findigkeit, mussten sie doch das Vertrauen ihrer Gewährsleute erwerben. Gern verschwieg man Geister- und Hexengeschichten, um nicht als abergläubisch und rückständig zu gelten. Als der Tübinger Professor Ernst Meier, der 1852 die erste wichtige gedruckte Sammlung schwäbischer Sagen veröffentlichte, sorgfältig aufschrieb, was ihm ein Schäfer an „altem Gesag“ berichtete, fragte ihn der Erzähler: „Aber Herr, glaubet denn Sia so Lumpesächle no?“ Man durfte auch nicht mit der Tür ins Haus fallen und etwa fragen: „Gibts keine Sagen hier?“ Auf so plumpe Fragen, wusste Meier, „wird man ein einfaches Nein zur Antwort bekommen; oder das Volk antwortet wie jene Bäckerfrau auf die nämliche Frage etwa so: ‚noi, Sagen hent mer koine, aber Wecken!’“
Sagen sind „geglaubte Tradition“, liest man oft in der volkskundlichen Fachliteratur. Ohne Frage lassen viele Albsagen die Angst vor einer harten und unbarmherzigen Natur erkennen, in der tückische Geister den Menschen Schaden zufügen. Die grausamen, Tod und Verderben bringenden Spukgestalten scheinen nichts gemein zu haben mit jenen romantischen Wesen, mit denen Uhland die Landschaft beseelt sah. Wenn man aber Kinder mit Schreckgestalten wie dem Hakenmann, der unaufmerksame Kinder in die Donau zieht, vor Gefahren warnte, wird man bezweifeln dürfen, dass alle Erwachsenen felsenfest von der Existenz der Dämonen überzeugt waren. Neben dem Sagenglauben gab es immer auch den Sagenzweifel. Nicht selten nahm man nicht einfach für bare Münze, was erzählt wurde, sondern prüfte nach. So heißt es über das Pfullinger „Nachtfräuleinloch“ bei Ernst Meier: „Vor einigen 20 Jahren hat man dieß Loch untersucht und weiter darin nachgegraben“. Viele Sagen waren einfach nur unterhaltsame Geschichten, an die man nicht oder nur halb geglaubt hat. Viel zu wenig weiß man über die sogenannten „Anti-Sagen“, die den Sagenglauben angreifen und entlarven. Beispiel: Ein geheimnisvolles Licht entpuppt sich als phosphoreszierender Baumstamm. Solche eher lustigen Geschichten, die natürliche Erklärungen für angeblich Übernatürliches anboten, findet man kaum in den gedruckten Sammlungen. Aber Anti-Sagen waren ebenso wie die Sagen Elemente einer reichhaltigen und vielgestaltigen mündlichen Erzählkultur, in der sich mündliche Überlieferungen und Angelesenes untrennbar vermischten.
Die Sammler mündlichen Erzählguts wählten nach ihren Vorlieben aus, und viele Geschichten bekamen sie überhaupt nicht zu hören. Fixiert auf das romantische Vorurteil uralter Überlieferung verkannten sie die Abhängigkeit der „Volkssagen“ von zeitgenössischen Lesestoffen. Die vielen romantischen Burgensagen und die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der deutschen Literaturgeschichte greifbare Begeisterung für (meist triviale) Rittergeschichten gehören zusammen. Die mündliche Volkskultur und die Welt der Bücher verband ein ständiger intensiver Austausch, der von den volkskundlichen Gralshütern der „echten Volkssage“ bis heute entschieden unterschätzt wird.
Die Vielfalt mündlichen Erzählens kann kein Sagenband wiedergeben. Dörfer und Städte waren erfüllt von Geschichten. Es gab viele Gelegenheiten zum Erzählen: Geschichten waren im Wirtshaus ebenso zu hören wie im Heimatkundeunterricht der Schule. Es konnten lustige, traurige, fromme oder unheimliche Geschichten sein, wahre, halbwahre und erfundene. Nur ein winziger Bruchteil von ihnen hat Eingang in die bewahrende Schriftlichkeit gefunden.
Natürlich erzählt man auch heute noch Sagen. Dies gilt auch, wenn man die sogenannten „modernen Sagen“ à la Die Spinne in der Yucca-Palme ausklammert. Die mündlichen Albsagen der Gegenwart sind vor allem aus Heimatbüchern und Sagenbänden geläufig. Unbekannte Geschichten über Riesen und Zwerge voller stiller Poesie, wie sie vor über 150 Jahre Ernst Meier notieren konnte, gibt es sicher nicht mehr aufzuspüren. Aber bei geduldiger Suche würde man auf der Alb noch viele einfache Geistergeschichten und dutzende Angaben über vermeintliche unterirdische Gänge vorfinden. Schon Ludwig Uhland klagte um 1830, die Zeit, Sagen zu sammeln, sei vorbei. Rund zwanzig Jahre später bewies ihm Ernst Meier, der sein Buch Uhland widmete, das Gegenteil.
Die Maßstäbe für das Sammeln von Sagen auf der Schwäbischen Alb setzte 1823 ein Freund Uhlands. Dem Stuttgarter Gymnasiallehrer Gustav Schwab (1792-1850), heute noch bekannt durch seine Sagen des klassischen Altertums, gelang 1823 mit seinem Reiseführer Die Neckarseite der Schwäbischen Alb ein Beststeller. Schwab gab eine Reihe von Sagen, die er vor Ort aufschnappte oder aus gelehrten Werken exzerpierte, in Prosa wieder, daneben bearbeitete er Sagenstoffe auch in Form von Gedichten („Romanzen“). Dieses Buch hat großen Einfluss auf spätere Sammlungen ausgeübt – und auch auf das mündliche Erzählen. Schwab war damals nicht der einzige, der Sagenballaden schrieb. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Sagengedichte weitaus beliebter als Prosa-Sagen. So ist es denn kein Zufall, dass der Hermaringer Pfarrer Rudolf Magenau zwei Jahre später das erste gedruckte schwäbische Sagenbuch (Poetische Volks-Sagen und Legenden größtentheils aus Schwaben, 1825) als Gedichtband herausbrachte.
Bei den Sagengedichten dominierten die „historischen Sagen“. Die Brüder Grimm hatten die „Ortssagen“ mit ihren dämonischen Gestalten, die man heute in der Volkskunde „dämonologische Sagen“ nennt, auf der einen Seite und die historischen Traditionen auf der anderen Seite in einen Topf geworfen und beide „Sage“ genannt. Weggelassen wurden aus der Volksüberlieferung die Märchen (als nicht ortsgebunden, obwohl es durchaus ortsgebundene Märchen gibt), die lustigen Geschichten („Schwänke“) und die frommen Legenden. Die Verbindung von Spukgeschichten und Geschichte unter dem gemeinsamen Etikett „Sage“ hat bis heute Bestand.
Historische Sagen begriff man im Vormärz als „vaterländische Altertümer“, wobei Vaterland natürlich das jeweilige Territorium meinte. Der Löwenanteil der Alb war württembergisch, altwürttembergisch-protestantisch, auch wenn nach 1802 vor allem vorderösterreichische katholische Gebiete das Königreich von Napoleons Gnaden vergrößert hatten. Dann gab es Hohenzollern, also die kleinen Fürstentümer Hohenzollern-Hechingen und Hohenzollern-Sigmaringen, die 1850 preußisch wurden. Und auf der Westalb waren etliche Orte großherzoglich badisch.
Vaterländische Sagen sollten den auf die jeweilige Monarchie bezogenen Patriotismus fördern, sie wurden als erhebender und poetischer Schmuck in Geschichtsdarstellungen aufgenommen. Es ging um die „Heimat im Prachtgewande des Alterthumes“ (Ludwig Egler, Aus der Vorzeit Hohenzollerns, 1861). Wilhelm Hauffs württembergische „Kunstsage“ Lichtenstein über die Flucht Herzog Ulrichs (1826), die Sagen-Anregungen aus Schwabs Neckarseite aufgriff, hat nicht nur zu dem Bau des neugotischen „Märchenschlosses“ Lichtenstein geführt, sondern auch die mündliche Sagenbildung merklich inspiriert. Sagen müssen als Teil der ausgeprägten Erinnerungs- und Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts begriffen werden, also des Ensembles aus Denkmälern, Historienbildern, Schauspielen, Festzügen usw., mit denen man sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzte. Sage und Geschichte galten als Schwestern. Dies verdeutlicht auch die Darstellung der allegorischen Figuren Sage und Geschichte als Quellen für Kunst und Wissenschaft durch den Maler Wilhelm Peters auf der in der Mitte des 19. Jahrhunderts historistisch „rekonstruierten“ Burg Hohenzollern.
Mit Jacob Grimms Deutscher Mythologie (1835) rückten die dämonologischen Sagen in den Vordergrund. Aus ihnen erhoffte man sich Aufschlüsse über den einstigen germanischen Götterglauben. Inzwischen weiß man: Es war ein wissenschaftlicher Irrweg. Rudolf Schenda: „Die Parallelisierung von Mythen- und Sagenfiguren wurde zum Steckenpferd der deutschen Lehrerschaft. Wotan/Donar war allgegenwärtig, Frauengestalten, inklusive die Gottesmutter Maria, wurden mit Freya/Frouwa identifiziert, die Holden und Unholden trabten omnipräsent durch Berg und Tal“ (Mären von Deutschen Sagen. In: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983, S. 37).
Eine umfassende Sammlung schwäbischer Volkssagen bereitete der Stuttgarter Gymnasiallehrer Albert Schott der Jüngere (1809-1847) vor. Das Material trugen vor allem seine Schüler zusammen, die mündliche Sagen ihrer Heimat aufschreiben mussten. Schotts früher Tod verhinderte die Publikation, die mythologische Kommentare enthalten sollte, doch blieben die Materialien in Form einer zweibändigen Handschrift erhalten (heute in der Stuttgarter Landesbibliothek). 1850 bekamen die Seminaristen am Nürtinger Lehrerseminar von ihrem Rektor Theodor Eisenlohr (1805-1869) die gleiche Aufgabe gestellt. Sie sollten in ihren Ferien ebenfalls Sagen aufschreiben. Wolfram Haderthauer hat diese beiden und weitere frühe handschriftliche Sagensammlungen Württembergs in seiner Eichstätter Dissertation (2001) gewürdigt. Unglücklicherweise ist diese verdienstvolle Arbeit, deren Editionsteil nicht weniger als 376 Texte enthält, als in nur wenigen Bibliotheken einsehbare Mikrofiche-Ausgabe eher versteckt denn veröffentlicht.
Schüler- und Seminaristensammlungen bereiten Volkskundlern Sorgen, denn die Authentizität der Texte ist alles andere als sichergestellt. Der österreichische Volkskundler Richard Wolfram traf im Ultental eine alte Lehrerin, die sich daran erinnerte, wie die Lehramtskandidaten dem Tiroler Sagensammler Johann Adolf Heyl Sagen bringen mussten: „Er hat die Kandidaten sehr gequält und es hat auch schlechte Noten gegeben, wenn man ihm nichts Gutes gebracht hat. Ein Teil der Sagen bei Heyl ist deshalb derstunken und derlogen“. Von dem Aargauer Sagensammler und Lehrer Ernst Ludwig Rochholz wird Ähnliches berichtet: Er sei durch Sagen sehr zu erfreuen gewesen. Die Schüler erzählten Geschichten, die sie von Ehemaligen gehört hatten, und fabulierten einiges hinzu, was der Lehrer dann als Variante betrachtete. Im Fall der Sammlung Schotts ist ein schlüssiger Beweis, dass eine Geschichte von dem Schüler erfunden wurde, nicht möglich, auch wenn nicht wenige sich sehr „verdächtig“ lesen. Nimmt man die Sagen aber als literarische Texte, in denen Mündliches und Schriftliches sich durchdringen, verschwindet das Problem.
Die vielen sonst nicht bekannten Sagen in den frühen handschriftlichen Sammlungen können aber nicht alle auf individuelle Erfindungen („Fakelore“) zurückgeführt werden. Offenbar muss die romantische Vorstellung revidiert werden, die im 19. und 20. Jahrhundert aufgezeichneten Sagen seien die Reste eines umfassenderen, sehr alten Bestandes. Vielmehr hat man mit einem ständigen Wandel und Austausch des mündlichen Erzählguts vor Ort zu rechnen, also mit einer vergleichsweise hohen Fluktuation. Sagen bildeten sich häufig neu und verschwanden ebenso rasch wieder. Daneben gab es besonders populäre Geschichten, die sich länger halten konnten und in vielen Varianten kursierten, auch wenn sie zusätzlich in gedruckter Form eine Verfestigung erfahren hatten. Dies ist etwa der Fall bei den Erzählungen über die Pfullinger Urschel (dem besonders reichen Pfullinger Sagenbestand ist ein eigenes Kapitel gewidmet) oder die Sibylle von der Teck. Auch hier kann man eine deutliche Wechselwirkung zwischen schriftlichen und mündlichen Versionen feststellen.
Die beiden wichtigsten Autoren gedruckter schwäbischer Sagensammlungen im 19. Jahrhundert sammelten selber: der Tübinger Orientalistik-Professor Ernst Meier (1813-1866), dessen Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben 1852 erschienen, und der katholische Geistliche und Germanistik-Hochschullehrer Anton Birlinger (1834-1891). Birlinger wurde bei seinem Sagenbuch Volksthümliches aus Schwaben (1861) von dem Arzt und Dialektautor Michael Buck aus Ertingen (1832-1888) unterstützt. Eine Nachlese Aus Schwaben verantwortete Birlinger 1874 allein. Beide Professoren, Meier und Birlinger, standen ganz im Bann der mythologischen Sagendeutung.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erschienen mehr und mehr „Heimatbücher“, die, häufig von Lehrern verfasst, Sagen einen Ehrenplatz einräumten. Die zivilisationskritische „Heimatbewegung“ pflegte bewusst das alte Volksgut, zu dem man auch die Sagen zählte. Zugleich etablierte sich die Volkskunde als eigenes Fach, getragen zunächst einmal nicht von akademischen Kreisen, sondern von vielen heimatbegeisterten Laien vor Ort, die in die volkskundlichen Vereine eintraten. Eine großangelegte Erhebung „volkstümlicher Überlieferungen“ fand 1899/1900 statt, als die württembergischen Volksschullehrer im Rahmen der Bezirkslehrerkonferenz Aufsätze nach einem vorgegebenen Fragebogen einreichen mussten (die sogenannten Konferenzaufsätze). Erwähnung verdient aber auch der 1888 gegründete Schwäbische Albverein, in dessen Vereinszeitschrift viele Sagen Eingang fanden.
Kein Berufsstand hat Sagen eifriger zusammengetragen als die Pädagogen. Die Lehrer lasen die Texte nicht nur mythologisierend und als Dokumente der Heimatgeschichte, sie waren auch sehr angetan von der moralischen Haltung der Sage und ihren sittlichen Werten. Sagen, in denen Frevler göttlicher Strafe anheim fielen, eigneten sich bestens für das erzieherische Projekt der „Volksveredelung“. Den Schulmeistern gefiel der erhobene Zeigefinger.
In Tuttlingen dokumentierte der Lehrer Dr. Paul Dold (1886-1934) die örtliche Sagenüberlieferung vermeintlich getreu, doch bei näherem Hinsehen stellen sich Zweifel ein. Wie viele Lehrer hat er vorgefundene Erzählungen, deren Gewährsleute er immerhin jeweils vermerkte, literarisiert und sprachlich gefälliger dargeboten. In Heimatbüchern und Sammlungen der Zwischenkriegszeit, etwa dem Sagenkränzlein (1924) des Oberlehrers Evarist Rebholz (1870-1932), trifft man regelmäßig süßlichen Sagen-Kitsch an. Ganz anders verhält es sich mit den 1935 bis 1939 zusammengetragenen, aber erst 1987 von dem Arzt Karl Keller (1914-1987) publizierten Sagen aus dem Lonetal. Auch wenn sie leider ins Hochdeutsche übersetzt sind, vermitteln diese meist sehr kurzen Erzählungen ein anschauliches Bild von den dominanten Themen der mündlichen Überlieferung. Kellers Ein-Satz-Sagen sind ungleich näher am „Volk“ als die schwülstige Sagenprosa der Heimatbücher jener Zeit.
Keller hätte seine Sammlung 1939 ohne weiteres veröffentlichen können, doch musste er befürchten, dass sie von NS-Ideologen aufgegriffen worden wäre. Die Suche nach den germanischen Glaubenskernen der Sagen hatte damals Hochkonjunktur. Die Volkssagen führen „zu den Wurzeln unserer volklichen Existenz hinab: zur lebendigen mütterlich-bewahrenden Seele unseres Volkes“, schrieb 1943 in der NS-Propagandazeitschrift Germanien ein Germanist, der nach 1945 ein hoch angesehener Hochschullehrer in Innsbruck werden sollte. Der Arzt und spätere SS-Brigadeführer Wilhelm Kinkelin war in seinem tiefbraunen Pfullinger Heimatbuch von 1937 besonders stolz auf die geschlossene Zusammenstellung der Pfullinger Sagen. Von der ideologischen Belastung der Sagenforschung in der NS-Zeit erfährt man jedoch in den Einleitungen der auf den schnellen Absatz berechneten Sagenbücher nichts. Die aus den sattsam bekannten Quellen entnommenen und modernisierten Sagen werden unverdrossen mit der traditionellen Heimat-Rhetorik als uraltes Volksgut dargestellt, und weil man sie gern mit der Aura des „Zeitlosen“ umgibt, verdrängt man, dass die Beschäftigung mit ihr oft sehr zeitgebundene Formen angenommen hat.
Wenn man Sagen als historische Dokumente ihrer Zeit (und nicht einer grauen Vorzeit) ernst nimmt, muss man davon absehen, sie gefällig nachzuerzählen und in modernisierter Form dem Publikum darzubieten. Um sie geschichtlich einordnen zu können, bedürfen sie nicht selten der ausführlichen Kommentierung. Daher finden sich im Folgenden häufig Hinweise auf die Herkunft der Geschichten, auf weitere Fassungen und ihr Weiterleben in der Gegenwart (etwa wenn Sagengestalten zu Namenspaten von Fasnetszünften geworden sind).
Aufgenommen wurden Sagen von der Westalb bis zur Ostalb, also von Möhringen an der Donau und der Gegend um Tuttlingen bis zum Härtsfeld rund um Neresheim. Einbezogen wurden etliche Orte des unmittelbaren Albvorlands auf der Nordseite der Alb, das mit Blick auf die Sagen ergiebiger ist als die Albhochfläche.
Aus Umfangsgründen konnte nur eine kleine Auswahl aus dem großen Sagenbestand des Albgebiets berücksichtigt werden. Auch wenn die Sagenforschung dazu neigt, Sagen-Landschaften ein unverwechselbares Profil zuzuschreiben, ohne dies hinreichend absichern zu können, steht außer Zweifel, dass ein Teil der Sagen durchaus „albtypisch“ ist. Es sind dies die Natur-Sagen, die sich mit den naturräumlichen Eigenheiten der Alb auseinandersetzen, mit den Felsen und dem Wasser. Die bizarren Felsgebilde sind bis heute „Erzähl-Male“ geblieben, an denen sich Erklärungs-Geschichten („ätiologische Sagen“) festmachten. Gern hat man die steinernen Überbleibsel des Jurameers – etwa das „Steinerne Weib“ bei Wiesensteig oder die „Steinernen Jungfrauen“ im Brenztal - als zur Strafe für Frevel erstarrte Menschen gedeutet. Sagenbildend haben auch die Karstphänomene gewirkt: Dolinen und Erdfälle, Karstquellen (wie der Blautopf), vor allem aber die Höhlen. Bezeichnenderweise ist die frühestbezeugte Sage dieses Bandes (aus der Zeit um 1500) eine typische, im 19. und 20. Jahrhundert weit verbreitete Höhlensage: Ein Tier (meist eine Ente oder eine Gans) verschwindet in der Höhle und kommt weit entfernt wieder zum Vorschein. Immer wieder wurden und werden Schätze in Höhlen vermutet, bewacht von dämonischen Gestalten. Schatzgraben mittels magischer Hilfsmittel war eine verbreitete reale Praxis in der frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert. Der sozialgeschichtliche Hintergrund liegt auf der Hand: Armut und harte Lebensbedingungen, denen man so entfliehen wollte.
Angestrebt ist eine möglichst abwechslungsreiche, unterhaltsame und lehrreiche Mischung aus bekannten und unbekannten Texten vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert. Sagen begegnen – auch das soll die Auswahl zeigen - in den unterschiedlichsten Medien: in den gedruckten Sagenbüchern ebenso wie in handschriftlichen Aufzeichnungen. Eine Reihe handschriftlich überlieferter Sagen wird in diesem Band erstmals veröffentlicht. Sagen wurden in Tageszeitungen ebenso wie in Heimatbüchern und Ortschroniken abgedruckt. Und sie sind inzwischen in stattlicher Zahl im Internet präsent, das bei der Erstellung dieses Bandes und der Kommentierung der Sagen unschätzbare Dienste geleistet hat. Man sieht: Sagen sind immer noch ausgesprochen lebendig.
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Aus dem Anhang, der die jeweiligen Vorlage und gelegentlich Varianten exakt nachweist:
(Literaturverzeichnis und Quellenabkürzungen)
Binder = Hans Binder, Die volkstümliche Überlieferungen um Höhlen und Quellen, in: Karst und Höhle 1993, S. 25-44
Birlinger I = Anton Birlinger/Michael Buck, Volksthümliches aus Schwaben, Bd. 1, 1861
Birlinger II = Anton Birlinger, Aus Schwaben, Bd. 1, 1874
BllSAV = Blätter des Schwäbischen Albvereins
Dold = Paul Dold, Die Sagenwelt Tuttlingens und seiner Umgebung, 1940
Egler = Ludwig Egler, Mythologie, Sage und Geschichte der Hohenzollernschen Lande, 1894
EM = Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1ff., 1977ff.
Götz = Rolf Götz, Die Sibylle von der Teck, 1999
Graf, Kirchheim = Klaus Graf, Sagen - Kritische Gedanken zu Erzählungen aus dem Kirchheimer Raum, in: Schriftenreihe des Stadtarchivs Kirchheim unter Teck 22 (1998), S. 143-164
Graf, Schwabensagen = Klaus Graf, Schwabensagen. Zur Beschäftigung mit Sagen im 19. und 20. Jahrhundert. Erweiterte Internetpublikation 2007 von dem in: Schwabenspiegel, Bd. 2.1, 2006, S. 279-309 erschienenen Aufsatz. Online
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/3459/
Graf, Stuttgart = Klaus Graf, Sagen rund um Stuttgart, 1995
Haderthauer = Wolfram Haderthauer, Sagen aus Württemberg. Unveröffentlichte Sammlungen des 19. Jahrhunderts, Diss. Eichstätt 2001 (auf Mikrofiche)
HDA = Handwörterbuch des deutschen Aberlaubens, Bd. 1-10, 1927-1942 Nachdruck 2000
Heim = Ines Heim, Sagen von der Schwäbischen Alb, 1992
KA = Konferenzaufsatz, Württembergische Landesstelle für Volkskunde Stuttgart (siehe auch www.schwaben-kultur.de, Transkriptionen von Reinhard Caspers)
Kapff = Rudolf Kapff, Schwäbische Sagen, 1926
Keller = Karl Keller, Sagen aus dem Lonetal, 1987
Kettenmann = Jürgen Kettenmann, Sagen im Kreis Göppingen, 3. Aufl. 1989
Meier = Ernst Meier, Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, 1852
OAB = Beschreibung des Oberamts
Rebholz = Evarist Rebholz, Sagenkränzlein. Erweiterte Ausgabe, 1924
Schneider = Fritz Schneider, Die Ostalb erzählt, 4. Aufl. 1991
Schott = Albert Schott der Jüngere, Schwäbische Volkssagen, Bd. I-II, 1847, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. poet. et phil. 4° 134
Schwab = Gustav Schwab, Die Neckarseite der Schwäbischen Alb. Neudruck hrsg. von Hans Widmann,1960
Seminaraufsatz = Seminaraufsatz für Rektor Theodor Eisenlohr in Nürtingen 1850, Württembergische Landesstelle für Volkskunde Stuttgart, N Volkskunde-Verein C/1
Setzen = Florian Henning Setzen, Geheimnisvolles Christental, 1994
Stehle = Bruno Stehle, Volkstümliches aus Hohenzollern, in: Alemannia 12 (1884), S. 1-12
Zimmerische Chronik = Zimmerische Chronik, hrsg. von Karl August Barack, Bd. 1-4, 2. Aufl. 1881
Hinweise für weiterführende Lektüre
Eine empfehlenswerte Einführung zum neueren Forschungsstand der Erzähl- und Sagenforschung ist im Buchhandel derzeit nicht erhältlich. Hingewiesen sei allerdings auf die lesenswerte zusammenfassende Darstellung zur mündlichen Erzählüberlieferung Europas: Rudolf Schenda, Von Mund zu Ohr, 1993. In Bibliotheken einsehbar ist die Enzyklopädie des Märchens, in der Hans-Jörg Uther und Lutz Röhrich in Bd. 11 2004 den umfangreichen Artikel Sage (Sp. 1017-1041) mit vielen Literaturangaben verfasst haben. Weiterführende Hinweise liefert auch der bequem online konsultierbare Beitrag Graf, Schwabensagen (2007). Zu gedruckten Sagensammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts: Hannelore Jeske, Sammler und Sammlungen von Volkserzählungen in Schleswig-Holstein, 2002.
Nachweise zur Einleitung bieten die Aufsätze Graf, Kirchheim und Graf, Schwabensagen. Ergänzungen: Zur Problematik der Schüler-Fakelore vgl. Richard Wolfram, Sorgen mit Sagen, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 34 (1980), S. 243-245 (Heyl); Martin Heule, in: Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz, 1988, S. 267 (Rochholz).
[Weitere Online-Arbeiten zum Thema Sagen von mir:
http://archiv.twoday.net/stories/4990762/ ]
[ http://www.listserv.dfn.de/cgi-bin/wa?A2=ind0812&L=hexenforschung&O=D&P=1143 Heuberg-Sage mit Kommentar und Nachweisen aus dem Buch]
[ http://archiv.twoday.net/stories/5581930/ Lichtenstein-Sage]
[ http://archiv.twoday.net/stories/5984813/ 2 Sagen aus Schwabs Neckarseite]
[Kostenlose Leseprobe "Auf der rauhen Alb", 24 Seiten:
http://www.drw-verlag.de/buch/download/sagenderschwalb/Leseprobe.pdf ]
[Sage Der höllische Schuss, Hechingen: http://archiv.twoday.net/stories/6251236/ ]
[Kapitel: Im Sagenreich der Pfullinger Urschel
http://archiv.twoday.net/stories/64956428/ ]
Rezeption:
Ein sehr interessantes Buch mit tollen Geschichten.
http://www.fachbuchkritik.de/html/sagen_der_schwabischen_alb.html
[Rezension in der Hohenzollerischen Heimat 2009:
http://www.hohenzollerischer-geschichtsverein.de/userfiles/files/HZ-Heimat/HH_059_2009_ocr.pdf ]
KlausGraf - am Montag, 22. Dezember 2008, 03:25 - Rubrik: Landesgeschichte