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Der folgende Text erschien soeben in:

http://kulturgut.hypotheses.org/382

Wie gewonnen, so zerronnen. Vorgestern konnte ich feststellen, dass die in Privatbesitz befindliche zweite handschriftliche Überlieferung des Registrum coquine (um 1430?) des Johannes Bockenheim (Hofkoch von Papst Martin V.) einem in der Zwischenkriegszeit verkauften verschollenen Sammelband aus der Bibliothek des Salzburger Benediktinerklosters St. Peter entstammte. Als Aufbewahrungsort der 12 Blätter wurde von Robert Maier die Bibliothèque Internationale de Gastronomie in Lugano angegeben, der sich dabei auf die im März 2013 eingesehene Website (Version von 2011 im Internet Archive) der Bibliothek stützte. Zuvor hatte der Textzeuge sich in der Sammlung Segal in London befunden. Bruno Laurioux hat das Werk nach dieser Handschrift 1988 ediert.

Leider existiert die wertvolle Bibliothek in Lugano inzwischen nicht mehr. Sie wurde kürzlich verkauft, und ihr weiteres Schicksal ist ganz unklar. Die in Liechtenstein ansässige Stiftung Fondation B.IN.G, der Bibliotheksträger, wurde im Herbst 2013 liquidiert (als Stiftungspräsidentin fungierte die Witwe des Gründers). Man weiß nicht einmal, ob eine Institution die Bestände erworben hat. Man wird abwarten müssen, ob die kostbaren Stücke im Handel auftauchen oder ein Privatsammler sich als neuer Eigentümer zu erkennen gibt.

Was bleibt (vorerst) von der Bibliothek, die auf der Website von Lugano nach wie vor als " la piu grande raccolta al mondo di testi antichi di gastronomia" gerühmt wird? Mit 17 mittelalterlichen Handschriften war sie von codices.ch unter die "größeren" Schweizer Handschriftensammlungen eingereiht worden.

- Ein feudaler dreibändiger Katalog, in dem 1994 der Eigentümer der 1992 in Sorengo bei Lugano gegründeten Bibliothek die 2073 Drucke und 77 Handschriften in italienischer und lateinischer Sprache beschreiben ließ (Besprechung; einige Bilder). Es war der italienische Unternehmer und Krimiautor Orazio Bagnasco (1927-1999).

- Ein Aufsatz der langjährigen Kuratorin Marta Lenzi Repetto - Marta Lenzi:  La fondation B.IN.G.: une collection de gastronomie.  In: Passion(s) et collections: actes du colloque (Chambéry, 21 et 22 octobre 1998), Paris 1999, S. 38-51.

- Reste einer Website, aufrufbar im Internet Archive, zu der anscheinend auch ein verschwundenes Handschriftendigitalisat gehörte, und einige Nennungen im Internet, darunter der unten wiedergegebene Artikel von Gerhard Lob 2005, der nach den Nutzungsbedingungen von swissinfo.ch hier ganz wiedergegeben werden darf.

Für die Historiker, die sich mit Essen und Trinken befassen, und die bibliothekarische Infrastruktur dieses Forschungsgebiets ist die Auflösung der Bibliothek ein herber Verlust. Noch so herausragende und für die Forschung bedeutsame Privatsammlungen werden immer wieder aufgelöst oder dezimiert, obwohl das nicht im  Interesse der Wissenschaft sein kann.

Einige Beispiele, auf die ich im Lauf der Zeit gestoßen bin:

- 2012 wurden aus der norwegischen Schoyen Collection, der laut Wikipedia größten privaten Handschriftensammlung der Welt, Handschriftenfragmente bei Sotheby's versteigert.


- 2010 wurde mir eine Petition bekannt, die sich gegen die Auflösung der privaten Ritman Library Bibliotheca Philosophica Hermetica in Amsterdam richtete, der bedeutendsten Sammelstätte für hermetisches Schrifttum. Einen Kernbestand sicherte die KB Den Haag. 2011 konnte die Bibliothek wiedereröffnet werden, doch zahlreiche wertvolle Werke, darunter auch deutschsprachige mittelalterliche Handschriften, hatten verkauft werden müssen (Berichterstattung in Archivalia).

- 2006 wurde gegen den Verkauf einiger Papyri der von Martin Bodmer begründeten Fondation Bodmer in Genf-Coligny protestiert. Es war nicht der erste Verkauf, der die Sammlungsbestände schmälerte.

- "Die Bibliotheca Tiliana war eine von dem Unternehmer und Jagdwissenschaftler Kurt Lindner zusammengetragene Buchsammlung mit annähernd 13.000 jagdlichen und forstlicher Schriften. Nach seinem Tode (1989) konnte sie trotz Bemühungen des Landes Bayern und des DJV nicht geschlossen übernommen werden. 2001 erwarb ein privater Sammler die Bibliothek für 2,7 Millionen DM, entnahm ihr einige Bände und ließ den Rest 2003 beim Buch- und Kunstauktionshaus F. Zisska & R. Kistner, München und 2004 bei E + R Kistner Buch- und Kunstantiquariat Nürnberg in Einzelteilen versteigern" (deutsches-jagd-lexikon.de, zu Jagdbuchsammlungen siehe auch die VÖB-Mitteilungen 2006, zur Tiliana erschienen in ihnen zuvor drei wichtige Beiträge von Gerald Kohl und Rolf Rosen: 2003, 2004, 2005).

-Über die berühmte Bibliothek Otto Schäfer in Schweinfurt liest man im Handbuch der historischen Buchbestände: "Aufgrund finanzieller Probleme mußte sie im Sommer 1994 geschlossen und der eigene wissenschaftliche Betrieb eingestellt werden. Im Herbst 1994 wurde zusammen mit der Stadt Schweinfurt ein neues Konzept für die Bibliothek erarbeitet. Es sah zur Schaffung von weiterem Stiftungskapital den Verkauf aller nicht im deutschen Sprachgebiet gedruckten Werke der Illustrata-Sammlung und der gesamten Collection Jean Furstenberg vor. Ausgeschlossen vom Verkauf waren nur alle Unikate und die fünf Drucke aus der Bibliothek Jean Groliers als Spitzenstücke der Einbandsammlung. In vier Auktionen bei Sotheby's von Dezember 1994 bis Dezember 1995 wurden die entsprechenden Bestände veräußert". Inzwischen darf man die Institution wohl als konsolidiert betrachten, hat sie doch als Leihgaben die Schweinfurter Reichsstädtische Bibliothek und 2013 auch die Kirchenbibliothek St. Johannis übertragen bekommen.

- 1983 verkaufte der Kölner Sammler Peter Ludwig seine herausragende Handschriftensammlung an das Getty-Museum (damals) in Malibu. Die 144 illuminierten Codices waren auf Kosten des Steuerzahlers im Kölner Schnütgen-Museum katalogisiert worden. Die Stadt Köln, die sich lange berechtigte Hoffnung auf die Stücke machen durfte, wurde von dem Sammler kaltschnäuzig mit dem Hinweis, es habe sich nicht um eine Zusage im juristischen Sinn gehandelt, abgespeist. Ein Stifter geht stiften, kommentierte die ZEIT. Wie viele US-Institutionen sieht sich das Getty-Museum leider nicht als dauerhaftes Archiv und hat einen Teil der Stücke in den Handel gegeben. Davon sind nur ganz wenige in öffentlichen Sammlungen gelandet (PDF von Conway/Davis S. 6  mit Nachweisen aus Katalogen, Liste der 2011 vorhandenen Handschriften in Archivalia).

Das Interesse der Wissenschaft an Kulturgütern - das sind immer wichtige Geschichtsquellen - in privater Hand lässt sich ohne weiteres beschreiben:

1. Bestandserhaltung/Ersatzdokumentation: Sammlungen sind möglichst als Ensemble zu erhalten, wenn sie als Ganzes eine bedeutende Geschichtsquelle darstellen. Ist dies nicht möglich, muss es eine öffentlich zugängliche Dokumentation geben. Die dauerhafte Aufbewahrung in einer öffentlichen Institution schont die Stücke und setzt sie keinen unnötigen Transporten aus. Das Verlustrisiko ist bei öffentlichen Sammlungen geringer. Öffentliche Sammlungen zerstückeln auch keine mittelalterlichen Codices (siehe "Auf den Spuren eines Frevlers" in diesem Blog und Breaking Bad).

2. Zugänglichkeit für Öffentlichkeit und Forschung: Wenn private Sammler ihre Schätze nicht wegschließen, sondern sie der Forschung und auch der breiten Öffentlichkeit - im Original oder digital - zugänglich machen ist gegen Kulturgüter in privater Hand nichts einzuwenden. Aber das ist leider nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme.

3. Dauerhafte Zitierbarkeit: Besitz- und Ortswechsel von Kulturgütern könnten im semantischen Netz über
Uniform Resource Identifier (analog zu Persistent Identifiern wie URN oder DOI) dokumentiert werden.

Die Interessen des Handels und der privaten Eigentümer sehen meist anders aus. Alles was die Profite schmälert und die Handlungsautonomie der Eigentümer, die sich nicht selten gegen jede Art von Kulturgut-Etikettierung wenden, einschränkt, wird als störend empfunden.

Um den Interessen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit ("Kulturgut muss frei sein!") zu ihrem Recht zu verhelfen, müssen die jeweils betroffenen Staaten und die Bürgergesellschaft zusammenarbeiten. Auf Denkmal- oder Kulturgutschutz ist bei solchen privaten Kollektionen kaum Verlass (er versagt ja schon bei öffentlichen Sammlungen), wenngleich nicht verschwiegen sei, dass das Bundesverwaltungsgericht 1992 die Käfersammlung Frey höchstrichterlich als nationales deutsches Kulturgut anerkannt hat.

Nicht alle Sammlungen lassen sich über einen Kamm scheren, aber ein Dreischritt Inventarisierung (Dokumentation ihrer Existenz durch den Staat, Forscher oder interessierte Bürger), vertragliche Abmachungen (Vorkaufs- und Informationsrechte) und - im Krisenfall - Rettungsmaßnahmen erscheinen sinnvoll. Wir brauchen vor allem ein Netzwerk reicher Stiftungen, das bereit ist, für bedrohte Sammlungen und Sammlungsbestandteile ein Rettungsnetz aufzuspannen. Um das Detroit Institute of Art zu retten (siehe Artikel in diesem Blog), haben sich in den USA einige vermögende Stiftungen erstmals zusammengeschlossen. Voraussetzung ist, dass man überhaupt etwas von der Gefahr oder drohenden Verkäufen erfährt und dass genügend Zeit bleibt, ohne Hektik vernünftige Lösungen zu finden. Dies könnte man in den meisten Fällen durch vertragliche Abmachungen sicherstellen.

Wissenschaftlich wertvolle Sammlungen wie die jetzt verschwundene Gastronomie-Bibliothek von Lugano brauchen Lobby-Gruppen, die sich ihrer annehmen und auf dauerhaften Erhalt dringen. Selbstverständlich bietet das Web 2.0 ausgezeichnete Möglichkeiten, solche Lobby-Arbeit zu organisieren. Erinnert sei nur an unsere Facebook-Seite "Rettet die Stralsunder Archivbibliothek" mit Neuigkeiten zum Kulturgüter-Schutz.
Lugano hütet ein gastronomisches Juwel

31. Mai 2005 - 10:33

Die "Bibliothèque Internationale de Gastronomie" in Lugano beherbergt einen weltweit einzigartigen Schatz an gastronomischen Schriften. Die Sammlung ist nicht eine Anhäufung von Rezepten, sondern ein Spiegel kulinarischer und gesellschaftlicher Traditionen.

Die Villa Bagnasco thront auf einem Hügel in Sorengo, einem noblen Vorort Luganos. Hier ist die Stiftung B.IN.G zu Hause; das Kürzel steht für Bibliothéque Internationale de Gastronomie.In der Schweiz ist diese Institution weitgehend unbekannt, doch der internationalen Forschergemeinschaft ist sie durchaus ein Begriff. "Es stimmt: Wir sind im Ausland bekannter als in der Schweiz", lacht Bibliothekarin Marta Lenzi, die über die einzigartige Sammlung mit rund 4000 Handschriften und Büchern wacht.

Dokumente in vielen Sprachen

Die Sammlung umfasst Handschriften und Drucke vom 14.Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. "Die gastronomische Literatur war die grosse Leidenschaft des Gründers Orazio Bagnasco", sagt Lenzi.Der ins Tessin übersiedelte italienische Unternehmer, der 1999 starb, hat weltweit Manuskripte und Handschriften mit gastronomischem Charakter gesucht und erworben, vor allem solche in lateinischer und italienischer Sprache. Dies erklärt auch, weshalb der grösste Teil des Bestandes in diesen beiden Sprachen vorhanden ist. Kleiner sind die Abteilungen auf Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch, Japanisch und Chinesisch.

Grosser Reichtum für Fachleute aus aller Welt

Die herausragende Rolle der gesammelten lateinischen und italienischen Schriften spiegelt sich im Katalog, der diesem Bestand gewidmet ist. Der dreibändige "Catalogo del fondo italiana e latino delle opere di Gastronomia Sec. XIV-XIX" ist ein Standardwerk der Gastro-Historie und steht als Bibliographie in allen grossen Bibliotheken.Kein Wunder, dass Fachleute aus der ganzen Welt zur Konsultation der Originale nach Lugano-Sorengo kommen. "Seit Gastronomie in den letzten Jahren noch mehr in Mode gekommen ist, häufen sich die Anfragen bei uns", erklärt Lenzi. Der Zutritt zur Bibliothek ist allerdings nicht öffentlich. Nur Fachleute, Studenten oder Journalisten haben Zutritt. Ein kleiner, aber schmucker Lesesaal lädt zur Lektüre ein.

Juwele aus alten Zeiten

Dank der Katalogisierungsarbeit kennt Lenzi die Sammlung im Detail. Und zu fast jedem Volumen kann sie eine kleine Geschichte erzählen. Verständlicherweise gerät sie ins Schwärmen, wenn sie Schätze wie den hochmittelalterlichen Kodex "Tacuinum Sanitatis" zeigt: "Er ist ein einzigartiges Zeugnis des Lebens und der Sitten aus dieser Epoche."

Ein Unikum ist auch das Manuskript "Libreto de tutte le cosse che se magnagno" von Giovanni Michele Savonarola aus dem Jahr 1450 zeigt (Das Buch über alle Dinge, die man isst).Auch in der deutschsprachigen Abteilung finden sich kleine Juwele, darunter "Das Buch von der rechten Kunst zu distillieren" von Hieronymus Brunschwygh aus dem Jahr 1500.

Spiegel früherer Lebensweise

Gerade diese historischen Abhandlungen zeigen auf, dass die gastronomische Kultur nicht im Sinne heutiger Kochbücher zu verstehen ist. Die Schriften bilden eher einen Spiegel medizinischer, biologischer, landwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erkenntnisse. Das reicht von den Wirkungsweisen bestimmter Kräuter und Pflanzen über das Tranchieren eines Schweins bis zur Beschreibung eines Hochzeitsessen von Isabelle von Aragonien mit Gian Galeazzo Sforza unter dem Titel "Ordine de le imbandisone" aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. "Dieses Buch eröffnet uns die ganze Choreografie der Hochzeit", sagt Lenzi.

Stolz ist Lenzi auch auf ein Volumen von Maestro Martino, der als Erfinder der modernen Kochkunst gilt – ein Koch aus dem Bleniotal, der Ende des 15. Jahrhunderts am Hof von Mailand Karriere machte. "Er hat die Kochkunst im weitesten Sinn unserem heutigen Geschmack angepasst", so Lenzi.

Heutigen Bestand bewahren

Die von Bagnasco aufgebaute Sammlung, die 1992 in eine Stiftung überführt wurde, wird heute nicht mehr durch Neuankäufe erweitert. "Wir verwalten das Bestehende so gut es geht", sagt Lenzi.Ausgebaut wird allerdings die Zusammenarbeit mit externen Interessenten, darunter Fakultäten für Gastronomie an einigen italienischen Universitäten, vor allem der neu gegründeten Universität für Gastronomische Wissenschaften in Pollenzo bei Cuneo (Piemont), wo sich auch ein Forschungszentrum für Slow Food befindet.

Nicht nur langsames Essen, auch historisches Speisen in Burgen und Schlössern hat Hochkonjunktur. Lenzi ist allerdings der Ansicht, sich keine Illusionen zu machen: "Mittelalterlich zubereitetes Essen könnten wir heute beim besten Willen nicht mehr verzehren."Die verschiedensten Gewürze, süss-sauer, alles in einem Topf: Das sei für den heutigen Geschmack unerträglich. Sie rät daher, sich allenfalls von der historischen Umgebung und einstigen Sitten inspirieren zu lassen, beim Essen aber durchaus auf Modernität zu setzen.

swissinfo, Gerhard Lob, Lugano
 

 

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