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BeckRS 2013, 50719

VG Magdeburg, Urteil vom 04.04.2013 - 3 A 49/13

"Leitsätze:

1. Die nach versäumter Berufungsbegründungsfrist unter besonderer Begründung zurückgenommene Klage kann nicht gem. § 173 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 6 ZPO ohne Änderung der Sach- und Rechtslage mit identischem Streitgegenstand neu erhoben werden. (amtlicher Leitsatz)

2. Das auf einen preußischen, 1903 geschlossenen Beständeausgleichsvertrag gestützte Feststellungs- und Herausgabebegehren der klägerischen Archivverwaltung gegen das beklagte Archiv auf Überlassung von 8 Regalmetern historischer Urkunden ist nach dem Archivgesetz des Landes Sachsen-Anhalt nicht begründet. (amtlicher Leitsatz) [...]

Tatbestand:

Die Klägerin macht archivrechtliche Ansprüche an historischen Urkunden gegenüber dem Beklagten geltend.

Im Dezember 1935 übergab das Amtsgericht A-Stadt Archivgut an das Staatsarchiv B-Stadt. Hierzu gehörten Testamente, Vormundschafts- und Nachlasssachen aus der Zeit von 1538 bis 1887. Die daraus archivarisch erfassten Reposituren Dd A-Stadt II und Dd A-Stadt III befinden sich heute - registriert unter Dd 8 und Dd 9 - in der Außenstelle W. des beklagten B. ...

Mit Schreiben vom 12.7.1996 erhob die Stadt A-Stadt Ansprüche beim Beklagten auf die unter den Registraturen Dd A-Stadt II und Dd A-Stadt III archivierten Bestände. Die Ansprüche ergäben sich aus einem zwischen dem Magistrat der Stadt A-Stadt und dem B. Staatsarchiv geschlossenen Beständeausgleichs-Vertrag vom 20./22.8.1903, der auch für die Zukunft habe gelten sollen. Das Schriftgut sei s. Provenienz und gehöre nach dem geltenden Provenienzprinzip in das A. Stadt- und Verwaltungsarchiv. Denn vor der „A. Reduktion“ 1664 wie auch danach seien Vormundschafts- und Nachlasssachen Teil der städtischen Kompetenz und Angelegenheit des A. Rates gewesen. Die C., der Vertrag der Stadt A-Stadt mit Erzbischof B. aus dem Jahr 1497, habe die Zuständigkeit der Stadt in Nachlasssachen bestätigt und gestärkt. Auch Vormundschaftssachen seien historisch immer eine Angelegenheit des A. Rates gewesen.

Mit Antwortschreiben vom 5.6.1997 lehnte der Beklagte dies ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, es handele sich um einen gewachsenen Archivbestand aufgrund der historischen Entwicklung des Archivsprengels. Er widerspiegele in seinem Aufbau und seinen Überlieferungszusammenhängen die Entwicklung zahlreicher Territorien und Herrschaften. Die einzelnen Bestandsgruppen seien nach den historischen Gegebenheiten verständlich und in ihrer Zusammensetzung und Gliederung für die Forschung nachvollziehbar. Dazu hätten für die in Frage stehenden Bestände auch die Festlegungen des Vertrages von 1903 beigetragen. Die von der Klägerin begehrten Archivaliengruppen seien damals nicht strittig gewesen, und es bestehe auch heute kein Grund, den Vertrag zu revidieren oder von seinen Festlegungen abzuweichen. Es werde daher kein Anlass gesehen, den gewachsenen Archivbestand und seine innere Struktur durch Herauslösung von Archivalien zu zerstören. Probleme der Benutzung habe es bisher nicht gegeben; auch könne davon ausgegangen werden, dass heute genügend Informationsmöglichkeiten bestünden.

Am 13.8.2004 kam der Leiter des Stadtarchivs A-Stadt telefonisch auf die Angelegenheit zurück und konkretisierte das Begehren auf Herausgabe der Archivalien erneut durch Schreiben vom 17.8.2004. Er machte darin geltend, die Bestände seien, obwohl eindeutig kommunaler Provenienz, offenbar nur durch ein Versehen, zum Teil auch infolge eines Ränkespiels an das frühere Staatsarchiv B-Stadt gelangt. Dass sie von der Stadt A-Stadt danach nicht - zumindest nicht mit Nachdruck - zurückgefordert worden seien, habe seinen Grund im Ausbruch des 2. Weltkriegs, dem Soldatentod des Stadtarchivars, Unsicherheiten in der Nachkriegszeit und den Gegebenheiten der DDR-Zeit. Die Rückkehr der Dokumente nach A-Stadt sei aber nunmehr eine sinnvolle Lösung.

Mit Antwortschreiben vom 8.2.2005 teilte der Beklagte der Klägerin mit, er habe sich nach gründlicher Prüfung entschieden, der Anregung nicht zu folgen. Zeitaufwändige Provenienzprüfungen führten keineswegs immer zu eindeutigen Ergebnissen. Mit Vertretern der Thüringer Archivverwaltung sei man 2004 übereingekommen, entgegen den bekannten Forderungen eine Beständeabgrenzung auf Basis des Prinzips des dynamischen (bzw. historischen) Sprengels und damit auch der archivgeschichtlich gewachsenen Zuständigkeiten zu favorisieren, womit zeitraubende Provenienzuntersuchungen minimiert und der Schwerpunkt der archivarischen Kooperation auf die Verbesserung der Zugänglichkeit des Archivguts für alle Archivbenutzer gelegt werden könne. Mittelfristig könnten die Dokumente über Online-Findbücher verfügbar gemacht werden.

Da die Klägerin in ihrem Schreiben vom 18.5.2005 auf ihrer Forderung beharrte und darüber hinaus mit Schreiben vom 25.8.2006 und 21.9.2006 bezweifelte, dass alle aufgrund des Vertrages von 1903 an das Stadtarchiv zu übergebenden Archivalien ausgefolgt worden seien, weil das entsprechende Findbuch nicht als glaubwürdige Abgabeliste anzusehen sei, wandte sich der Beklagte mit archivfachlichen und archivpolitischen Überlegungen an das Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt, das aber mit Erlassen vom 28.3.2007 und 18.7.2007 einer Übereignung der Bestände nach A-Stadt aus archivrechtlichen Gründen (§§ 3, 8 ArchG LSA) die Zustimmung verweigerte. Dies wurde der Klägerin durch den Beklagten mit Schreiben vom 27.5.2009 unter nochmaliger Ablehnung des erhobenen Anspruchs mitgeteilt.

Die am 24.8.2009 erhobene Klage der Klägerin wurde abgewiesen durch Urteil vom 27.10.2011 - 3 A 255/09 MD -. Hiergegen beantragte die Klägerin die Zulassung der Berufung. Das OVG Sachsen-Anhalt ließ durch Beschluss vom 24.7.2012 - 3 L 532/11 - die Berufung gem. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zu. Die Klägerin versäumte daraufhin, die zugelassene Berufung innerhalb der Berufungsbegründungsfrist zu begründen. Auf entsprechenden Hinweis durch das OVG nahm die Klägerin ihre Klage mit Schriftsatz vom 1.11.2012 zurück und führte aus, sie habe sich aufgrund der Hinweise des Senats dazu entschlossen, das Verfahren zu beenden und erkläre hiermit die Klagerücknahme; weiter erkläre sie sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Berufungsbeklagte werde gebeten, in die Klagerücknahme einzuwilligen. Mit Verfügung vom 2.11.2012 bat das OVG den Beklagten um Mitteilung, dass der Klagerücknahme zugestimmt werde. Mit Schriftsatz vom 12.11.201 stimmte der Beklagte der Klagerücknahme zu. Das OVG stellte daraufhin durch unanfechtbaren Beschluss vom 20.11.2012 das Verfahren analog § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO ein, erklärte das Urteil des VG Magdeburg vom 27.10.2011 gem. § 173 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 3 ZPO für unwirksam und erlegte der Klägerin die Kosten des gesamten Verfahrens auf.

Am 21.1.2013 hat die Klägerin erneut Klage erhoben. Auf den Antrag der Klägerin in der Klageschrift vom 17.1.2013 (Bl. 2 der Gerichtsakte), das Verfahren auf den Einzelrichter zu übertragen, hat die Kammer den Rechtsstreit gem. § 6 Abs. 1 Satz 1 VwGO, dessen Voraussetzungen vorliegen, auf den bestellten Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Die Klägerin trägt unter Ausführung historischer Darlegungen vor: Sie begehre zulässigerweise die Feststellung, dass ihr Anspruch gegenüber dem Beklagten bestehe. Das festzustellende Fortbestehen eines aus dem Vertrag von 1903 herrührenden Verhältnisses reiche weiter als das bloße Herausgabeverlangen und gehe insbesondere in seinen archivrechtlichen Auswirkungen über den Herausgabeanspruch hinaus. Ihr Feststellungsinteresse sei gegeben, da die Rechtslage unklar sei und der Beklagte zu dem Vertrag von 1903 eine andere Auffassung vertrete als sie, die Klägerin. Eine anderweitige Rechtshängigkeit oder Rechtskraft stehe der Klage nicht entgegen, denn das durch die erste Klageerhebung eingeleitete Verfahren sei durch die Rücknahme der Klage beendet worden, ohne dass eine rechtskräftige Entscheidung ergangen sei. Der Beklagte habe der Klagerücknahme ausdrücklich zugestimmt. Damit sei ein neues Klageverfahren zulässig. Die erste Klage sei als nicht anhängig geworden anzusehen (§ 173 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO; vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 92 Rn. 3). Die vorherige Klage sei demnach nie rechtshängig gewesen (vgl. Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 92 Rn. 33). Der erneuten Klage könne kein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis entgegengehalten werden. An das Rechtsschutzbedürfnis dürften keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Aus einer bloßen Klagerücknahme könne nicht geschlossen werden, dass sie, die Klägerin, keinerlei Interesse an der gerichtlichen Feststellung mehr habe. Vielmehr könne sich die Veranlassung zu einer Rücknahme der Klage aus diversen Gründen ergeben. In diesem Fall sei sogar feststellbar, dass sie, die Klägerin, die Klage nicht wegen eines fehlenden Interesses an einer gerichtlichen Sachentscheidung zurückgenommen habe, sondern weil das OVG beabsichtigt habe, die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Dass dies auf die Versäumung einer (Berufungsbegründungs-)Frist zurückzuführen gewesen sei, stehe dem nicht entgegen. Denn dass aufgrund der damaligen prozessualen Situation eine Prozessentscheidung des OVG nicht erwünscht gewesen sei, führe nicht dazu, dass dies zum jetzigen Zeitpunkt ebenso wäre. Zudem könne bereits daraus, dass überhaupt eine neue Klage angestrengt werde, geschlossen werden, dass ein Interesse an einer gerichtlichen Entscheidung nach wie vor bestehe. Dass eine erneute Klage in derselben Sache zulässig sei, ergebe sich u. a. auch aus § 269 Abs. 6 ZPO. Zwar sei dessen Anwendbarkeit im Rahmen des § 173 VwGO umstritten (dafür Clausing, a. a. O., Rn. 37). Indessen gebe es keinen wertungsmäßigen Unterschied zwischen Zivil- und Verwaltungsprozess. Die erklärte Klagerücknahme habe auch keinen Klageverzicht beinhaltet. Die Wiederholung der Klage sei deshalb möglich. Mit seiner Zustimmung zur Klagerücknahme habe sich der Beklagte mit den vorgenannten Konsequenzen einverstanden erklärt. Er habe seine Zustimmung verweigern können, hätte er Rechtskraft herbeiführen wollen. Diese Wirkungen dürften nicht dadurch ins Gegenteil verkehrt werden, dass ein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis unterstellt werde. Seit dem Hinweis des OVG auf die Fristversäumung sei zunächst versucht worden, einen Wiedereinsetzungsantrag zu stellen. Nach einem Telefonat mit dem Senatsvorsitzenden des OVG habe man sich schließlich entschlossen, die Rücknahme der Klage zu erklären. Man habe aber bereits damals überlegt, eine neue Klage zu erheben. Man habe auch erwogen, ein Wiederaufgreifen des Verfahrens anzustreben, wenn andere Gesichtspunkte oder eine neue Sach- und Rechtslage vorhanden gewesen seien. Da dies nicht der Fall gewesen sei, habe man die Klage erneut erhoben.

Die Klage sei auch begründet, da sie, die Klägerin, aus dem Vertrag von 1903 einen Anspruch habe, dass der Beklagte das begehrte Archivgut herausgebe. Es gebe keine Gründe, die der bis heute bestehenden Wirksamkeit des Vertrages von 1903, der in die Zukunft gerichtete, provenienzorientierte Bestimmungen enthalte, widersprächen. Dem Anspruch aus diesem Vertrag stehe das Landesarchivgesetz des Landes ... nicht entgegen, da es sich um in A-Stadt entstandenes Archivgut der Stadt A-Stadt handele. Neben dem Vertrag von 1903 ergebe sich ein Anspruch auf Überlassung der Archivalien aus § 13 ArchG LSA. Mangels einer Zuständigkeit des Beklagten habe dieser die Archivalien herauszugeben.

Die Klägerin trug im Verfahren 3 A 255/09 MD vor: Zwischen 1664 und 1802 habe es in A-Stadt kein anderes Vormundschaftsamt als das zur Ratsverwaltung gehörende und dem Rat unterstehende Vormundschaftsamt gegeben. Die Zuständigkeit für Testamente und Nachlassangelegenheiten sei dem Rat erst in preußischer Zeit, also nach 1802, entzogen worden. Ein „Ratsarchiv“ der Stadt A-Stadt in dem Sinne, wie es die Klageerwiderung voraussetze, habe es niemals gegeben. Die hier streitigen Unterlagen hätten sich in Registraturen befunden, die für diese Verwaltungsvorgänge geführt worden seien, jedoch nicht im Rathausturm, der vor 1664 als Lagerraum für Urkunden genutzt worden sei. Die begehrten Unterlagen dürften erstmals 1805 im Zusammenhang mit der Errichtung des preußischen königlichen Stadtgerichts an eine staatliche Behörde gelangt sein. Ein solcher Hergang habe aber niemals Archivare daran gehindert, kommunale Vorprovenienzen aus einem Bestand herauszulösen und dem zuständigen Archiv zu übergeben. Es sei unbestritten, dass die Testamente in den preußischen Gerichten zu Entscheidungen herangezogen worden seien. Dass sie dort einen aktenmäßigen Zuwachs erfahren haben sollten, sei nicht wahrscheinlich und werde bestritten. Ein selbstständiges kurmainzisches Vormundschaftsamt habe es historisch nicht gegeben; die Bezeichnung betreffe das städtische Vormundschaftsamt in absolutistischer Zeit. Die Erklärungen von 1919, man betrachte den Austausch von Archivalien für beendet, habe sich selbstverständlich nur auf die bis dahin vorhandenen Bestände bezogen. Das Staatsarchiv habe sich jedoch verpflichtet, ihm künftig zum Kauf angebotene oder geschenkweise überbrachte Archivalien kommunaler Provenienz nicht ohne weiteres zu erwerben, sondern sich erst mit der Stadt A-Stadt ins Benehmen zu setzen. Es gehe mithin nicht darum, den Vertrag von 1903 zu revidieren, sondern ihn zu erfüllen. Das Staatsarchiv B-Stadt habe 1935 die Archivalien A. Provenienz gar nicht vom Amtsgericht übernehmen dürfen, weil ihm dies der Vertrag aus dem Jahr 1903 verboten habe. Unverständlich sei, dass die Unterlagen nicht 1935 nach A-Stadt überstellt worden seien, wozu die preußische Archivverwaltung aufgrund des Provenienzprinzips und des Vertrages von 1903 verpflichtet gewesen sei. Eine virtuelle Vernetzung sei auch heute möglich, wenn der Original-Bestand im Stadtarchiv A-Stadt läge. Hier sei die Feststellungsklage i. S. v. § 43 VwGO zulässig, weil die Klägerin als Funktionsnachfolgerin des früheren Magistrats im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung - und damit aktivlegitimiert - ein berechtigtes Feststellungsinteresse habe. Denn die Rechtslage zwischen den Beteiligten sei infolge der unterschiedlichen Auffassungen über den Vertrag von 1903 unklar. Nach ihrer Auffassung habe sie, die Klägerin, gegen den Beklagten aus Ziff. 1 des Vertrages von 1903 einen Anspruch auf Herausgabe der begehrten historischen Unterlagen, der hilfsweise auf § 13 ArchG LSA gestützt werde. Der Beklagte sei als Rechtsnachfolger der B. Archivverwaltung passivlegitimiert und zur Herausgabe aus dem Vertrag verpflichtet. Nach dem Vertrag gehöre nur staatliches Archivgut in das staatliche Archiv, aber kommunales Archivgut in das städtische Archiv. Beide Vertragsparteien seien sich, wie aus den jahrelangen Verhandlungen bis 1919 ersichtlich, einig, dass sich der durch den Vertrag von 1903 gedeckte Anspruch der Stadt A-Stadt auf alles Schriftgut erstreckt habe, das städtischer Provenienz gewesen sei und im 19. und im frühen 20. Jh. ins Staatsarchiv B-Stadt gelangt sei. Wenn der Austausch 1919 für beendet erklärt worden sei, habe sich dies allein auf die damals vorhandenen Bestände bezogen. Der Vertrag enthalte, wie aus dem Verhalten der Vertragsparteien in den Jahren nach Vertragsabschluss deutlich werde, in die Zukunft gerichtete, grundsätzliche Regelungen im Sinne des Provenienzprinzips. Es handele sich insoweit um einen gleichsam zum öffentlichen Recht gewordenen, auch durch die Landesarchivgesetze explizit oder zumindest implizit zum Recht erhobenen Brauch, dass kommunales (bei städtischen Behörden entstandenes) Archivgut, sofern es nicht Depositum sei, in staatliche Archive nicht gelangen dürfe. Es werde weiterhin Anspruch erhoben zumindest auf den Teil der Dokumente, der nicht durch Weiterführung der Akten eine staatliche Provenienz erhalten habe, was nach der Stichproben-Auswertung des Beklagten etwa auf 76,2% der Testamente zutreffe. Das Landesarchivgesetz stehe dem Anspruch nicht entgegen, da es sich nicht um Landesarchivgut handele, denn die Abgabe durch das preußische Amtsgericht A-Stadt an das damalige preußische Staatsarchiv B-Stadt sei keine Überlassung zur Nutzung i. S. v. § 3 Abs. 1 S. 1 ArchG LSA gewesen. Das staatliche Archiv sei für das kommunale Schriftgut nicht zuständig gewesen. Die Übergabe sei nach § 8 Abs. 1 Satz 1 ArchG LSA zulässig. § 8 Abs. 4 Satz 1 ArchG LSA sei nicht einschlägig, da es hier um einen vertraglichen Anspruch gehe. Der Anspruch sei auch nicht verjährt. Aus historisch-politischen Gründen habe der Anspruch zwischen 1935-90 nicht geltend gemacht werden können. Eine öffentliche Bekanntmachung der Bestände Dd A-Stadt II und Dd A-Stadt III sei erstmals 1960 im Band 4 der Gesamtübersicht des B. B-Stadt erfolgt. Aber erst 1990 sei sowohl die Kommune Stadt A-Stadt und seien die Länder wiedererstanden, und es seien rechtsstaatliche Verhältnisse geschaffen worden.

Die Klägerin beantragt,

festzustellen, dass ein Anspruch der Klägerin gemäß Ziff. 1. des Vertrages zwischen dem Magistrat der Stadt A-Stadt und der B. Archivverwaltung vom 20./22.8.1903 auf Herausgabe von im Gewahrsam des B., Abteilung B-Stadt, Standort W. stehenden Archivalien besteht, und zwar auf die Bestände Dd 8 (früher: Dd A-Stadt II) und Dd 9 (früher: Dd A-Stadt III), auf ersteren soweit er stadt-a. Provenienz ist.

hilfsweise,

die im Hauptantrag genannten Unterlagen gem. § 13 ArchG LSA herauszugeben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und erwidert: Es sei hinsichtlich des Umgangs von Behörden untereinander ungewöhnlich, dass die Klägerin nicht auf ihre Absicht hingewiesen habe, den Anspruch in einer neuen Klage nochmals geltend zu machen. Die Zustimmung zur Klagerücknahme wäre sonst nicht erteilt worden. Die Klage sei unzulässig. Die Klägerin habe kein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung, da sie die ursprünglich in der ersten Klage liegende Forderung ernsthaft und endgültig aufgegeben habe. Dies ergebe sich aus der von der Klägerin erklärten Klagerücknahme, die insofern eine Zäsur darstelle. Die Klagerücknahme beinhalte bei objektiver und verständiger Würdigung die Erklärung, dass der Streitgegenstand auf der Grundlage, die im Zeitpunkt der Klagerücknahme bestehe, nicht weiter verfolgt werden solle. Deshalb drohe eine erneute Inanspruchnahme erst dann, wenn sich die Sachlage gegenüber der Sachlage bei Abgabe der Rücknahmeerklärung verändere. Änderungen der Sachlage seien nicht zu erkennen. Die im Urt. des LG Düsseldorf v. 24.2.2011 (- 4b O 194/09 -, Rn. 54, zit. nach juris) enthaltenen allgemeinen Rechtsgedanken seien hier übertragbar.

Im Verfahren 3 A 255/09 MD trug der Beklagte vor: Bei den fraglichen Beständen handele es sich um Landesarchivgut im Eigentum des Landes Sachsen-Anhalt. Die streitgegenständlichen Bestände seien bekannterweise 1935 durch die Abgabe vom Amtsgericht A-Stadt an das zuständige Staatsarchiv B-Stadt Archivgut geworden. Verhandlungen über die Herausgabe hätten auch danach oder nach 1960 geführt werden können, ohne dass es entsprechende Forderungen gegeben habe. Nach Auflösung Preußens seien die Dokumente an das Landesarchiv B-Stadt übergegangen. Funktionsnachfolger sei seit 1990 das heutige B.. Es sei unstrittig, dass sich die im Bestand Dd A-Stadt II verwahrten Testamente bis 1802 in der Verfügungsgewalt des A. Stadtrats befunden hätten, während die im Bestand Dd A-Stadt III verwahrten Vormundschaftssachen sich in der Registratur des Kurmainzischen Vormundschaftsamtes befunden haben dürften. Die Testamente aus dem Zeitraum 1538-1887 (Dd A-Stadt II) seien vor dem Stadtrat oder vor einem Notar niedergelegt bzw. eröffnet worden und seien in signifikantem Umfang auch Gegenstand des Verwaltungshandelns nachfolgender preußischer Gerichte geworden. Nach archivfachlicher Auswertung sei davon auszugehen, dass die Testamente in ihrer Gesamtheit von den preußischen Behörden mit der Übernahme der Aufgabe als Teil einer laufenden Registratur übernommen und verstaatlicht worden seien und nach 1802 noch Gegenstand von regelhaftem Verwaltungshandeln gewesen seien. In den Bestand Dd A-Stadt III seien neben städtischen auch die Vormundschaftsakten eingeordnet worden, die bei dem im 18. Jh. bestehenden kurmainzischen Vormundschaftsamt entstanden seien; dieser Bestand habe einen Umfang von 582 Archivalien aus der Zeit 1660-1826. Vor der Durchsetzung der vollen Landeshoheit des Erzbistums Mainz über die Stadt A-Stadt in der sog. A. Reduktion von 1664 habe die Zuständigkeit für die freiwillige Gerichtsbarkeit mit Testamenten und Vormundschaftssachen beim A. Rat gelegen. Es sei allerdings schon vor diesem Zeitpunkt zu konkurrierender Ausübung dieser Kompetenzen durch kurmainzische, also landesherrliche Gerichte gekommen. Nach 1664 sei die Eröffnung von Testamenten sowohl vor dem kurmainzischen Zivil- und Kriminalgericht als auch vor dem Stadtrat möglich gewesen. Entsprechend sei bei der Verzeichnung der Testamente (1935 ff.) eine Provenienzabgrenzung zwischen kurmainzischen (Dd A-Stadt I) und städtischen (Dd A-Stadt II) Beständen erfolgt. Eine jüngst durchgeführte Autopsie der Akten habe ergeben, dass das als Behörde eingerichtete Vormundschaftsamt zumindest im 18. Jh. eine kurmainzische, also landesherrliche und damit staatliche Behörde gewesen sei. Aus den beiden Beständen ergäben sich keine Hinweise, dass das vor 1664 entstandene Schriftgut der beiden Bestände Teil des Ratsarchivs gewesen sei. Nach dem Übergang A. an Preußen 1803 seien die Testamente und Vormundschaftsakten als Teil der laufenden Registratur an die neu eingerichteten preußischen Gerichtsbehörden übergeben worden. In den Beständen befänden sich zahlreiche Bearbeitungsvermerke von preußischen Gerichtsbehörden. Wie Bearbeitungsspuren belegten, seien heute in den Beständen Dd A-Stadt II und III zusammengefasste Akten spätestens 1821 im Königlichen Landgericht A-Stadt, dann 1839-49 im Königlichen Land- und Stadtgericht A-Stadt, ab 1849 im Königlichen Kreisgericht und nach 1877/79 im Amtsgericht A-Stadt bis in das späte 19. Jh. hinein weitergeführt worden. Dies dürfe auch eine Erklärung sein für den langen Verbleib der Unterlagen/Archivalien im Amtsgericht A-Stadt, das diese erst 1935 als entbehrlich angesehen habe. Der 1903 mit A-Stadt vereinbarte Archivalienaustausch habe sich aufgrund kontroverser Einzelfragen bzw. fortdauernder Prüfungen längere Zeit hingezogen. Mit Schreiben vom 6.11.1919 habe schließlich der Magistrat der Stadt A-Stadt erklärt, dass für die Stadt der Archivalienaustausch beendet sei und keine Ansprüche mehr an das Staatsarchiv bestünden. Eine gleichlautende Erklärung des Staatsarchivs B-Stadt datiere vom 10.11.1919. Am Feststellungsinteresse und der Aktivlegitimation der Klägerin bestünden Zweifel. Es werde die Einrede der Verjährung erhoben. Die mit der Feststellungsklage verfolgten Ansprüche aus der Vereinbarung von 1903 stünden der Klägerin nicht zu. Eine unbegrenzte Rechtsverpflichtung zum Austausch von Archivalien könne aus dem Vertrag nicht abgeleitet werden. Auch eine generelle Umsetzung des Provenienzprinzips habe mit dem Vertrag nicht festgeschrieben werden sollen. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Vertrag Schriftgut erfasse, das erst 32 Jahre nach Vertragsschluss an das Staatsarchiv abgegeben worden sei. Im Übrigen seien die Bestände keineswegs ausschließlich städtischer Provenienz. Unbestritten gehöre das Provenienzprinzip zu den wesentlichen methodischen Grundsätzen der modernen Archivwissenschaft; seine konkrete Umsetzung in der archivfachlichen Arbeit sei jedoch Gegenstand einer komplexen und andere Faktoren gleichermaßen gewichtenden Fachdiskussion. Neuerdings könnten sogar wünschenswert erscheinende Provenienzbereinigungen durch virtuelle online-Verweise ersetzt werden. Er, der Beklagte, habe seit dem Jahr 2010 durch die vollständige Digitalisierung (Retrokonversion) die entsprechenden technischen Voraussetzungen geschaffen. Er sei weiterhin zu jeder Form der fachlichen Zusammenarbeit mit der Klägerin bereit. Die erheblichen Ressourceneinsatz erfordernde Aufteilung der Dokumente auf zwei räumlich wie organisatorisch getrennte Archivträger würde historische Zusammenhänge zerreißen und den Zugang für Benutzer erschweren. Dies könne nicht Ziel des benutzerorientierten Arbeitens öffentlicher Archive sein.

Wegen der näheren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakte, der Gerichtsakte 3 A 255/09 MD sowie die vom Beklagten vorgelegten Unterlagen (Beiakten A und B) Bezug genommen. Die Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat keinen Erfolg.

Die Klage ist unzulässig.

§ 269 Abs. 6 ZPO i. V. m. § 173 VwGO setzt voraus, dass eine Klage „von neuem angestellt“ werden kann. Als Ausnahmevorschrift ist diese Norm eng auszulegen (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, Kommentar, 71. Aufl. 2013, § 269 Rn. 50, Einl. III 36 ff.). Im vorliegenden Fall steht der erneuten Klageerhebung die Einrede der Arglist entgegen, die vom Beklagten erhoben wurde, indem er nachdrücklich darauf verwies, es sei hinsichtlich des Umgangs von Behörden miteinander ungewöhnlich, dass die Klägerin nicht auf ihre Absicht hingewiesen habe, den Anspruch in einer neuen Klage nochmals geltend zu machen; seine Zustimmung zur Klagerücknahme wäre sonst nicht erteilt worden. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung selbst Umstände geschildert, die den Vorwurf des Beklagten rechtfertigen. Denn sie hat ausgeführt, seit ihr das OVG den Hinweis gegeben habe, dass sie die Berufungsbegründungsfrist versäumt habe, habe sie zunächst versucht, einen Wiedereinsetzungsantrag zu stellen. Nach einem Telefonat mit dem Senatsvorsitzenden des OVG habe sie sich schließlich entschlossen, die Rücknahme der Klage zu erklären. Sie habe aber bereits damals überlegt, eine neue Klage zu erheben. Sie habe auch erwogen, ein Wiederaufgreifen des Verfahrens anzustreben, wenn andere Gesichtspunkte oder eine neue Sach- und Rechtslage vorhanden gewesen seien. Da dies nicht der Fall gewesen sei, habe sie die Klage erneut erhoben.

Dieses Vorbringen zeigt, dass die Klägerin einen geheimen Vorbehalt gehegt hat, ihre prozessualen Versäumnisse durch ein vermeintliches Nachgeben zu heilen. In ihrem Schriftsatz vom 1.11.2012 führte sie aus, sie habe sich aufgrund der Hinweise des Senats dazu entschlossen, das Verfahren zu beenden, und erkläre hiermit die Klagerücknahme; weiter erkläre sie sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Berufungsbeklagte werde gebeten, in die Klagerücknahme einzuwilligen. Diese für eine einfache Klagerücknahme ungewöhnliche und ausführliche Begründung enthält zwar keinen (künftigen) Klageverzicht (vgl. Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Loseblattkommentar, Bd. II, Stand: 24. Lfg., August 2012, § 92 Rn. 37, 10), jedoch ein Rücknahmeversprechen, an das die Klägerin nach den Grundsätzen von Treu und Glauben im Sinne einer endgültigen Beendigung des Rechtsstreits gebunden ist. Gerade die von der Klägerin ausgesprochene Bitte um Zustimmung zur Klagerücknahme zeigt, dass sich die Klägerin des Mitwirkungsbedarfs des Beklagten bewusst war, um ihre eigene Niederlage durch Ergehen eines Prozessurteils abzuwenden. Die Einwilligung zur Klagerücknahme, die in der Rechtsmittelinstanz stets erforderlich ist, dient aber dem Schutz der rechtlichen Interessen des Beklagten, der durch Antragstellung verhandelt hat und den klägerischen Rückzug aus dem Verfahren verhindern können soll (vgl. Schoch/Schneider/Bier, a. a. O., Rn. 25, 29). Treu und Glauben widerspricht es, mit einem geheimen Vorbehalt der neuen - identischen - Klageerhebung und mit Hilfe der begründeten Bitte um Zustimmung zur Klagerücknahme den Beklagten um die Früchte des bis dahin geführten Prozesserfolges zu bringen, die darin gelegen hätten, dass die sonst zu treffende Entscheidung des OVG zum klägerischen Nachteil in Rechtskraft erwachsen wäre. Der Beklagte hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er nur unter dieser Prämisse der Verfügung vom 2.11.2012, mit der das OVG den Beklagten um Mitteilung bat, dass der Klagerücknahme zugestimmt werde, die entsprechende Zustimmung erteilt hat.

Hinzu kommt, dass nach dem Sinn und Zweck des § 269 Abs. 6 ZPO i. V. m. § 173 VwGO, die Gerichte nicht unnütz mit immer derselben Sache zu befassen, eine neue Klageerhebung zum identischen Streitgegenstand nur erhoben werden kann, wenn sich die Sach- und Rechtslage später geändert hat (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 17. Aufl., § 121 Rn. 21 a, 28). Dass diese Voraussetzung nicht vorliegt, räumt die Klägerin selbst ein. Die Vorschrift des § 269 Abs. 6 ZPO erweitert hingegen nicht die Rechte eines prozesssäumigen Beteiligten, der für selbst zu verantwortende Verfahrensfehler - wie hier beim Nichteinhalten der gesetzlichen Berufungsbegründungsfrist - das Privileg für sich in Anspruch nimmt, die Wirkungslosigkeit des nicht rechtskräftig gewordenen Urteils (§ 269 Abs. 3 ZPO) unter Umgehung des Erfordernisses einer veränderten Sach- und Rechtslage für eine neue Klageerhebung zu nutzen.

Selbst wenn man mit der Klägerin eine Zulässigkeit der Klage gem. § 43 VwGO annähme, bliebe die Klage mit Haupt- und Hilfsantrag unbegründet.

Die Klägerin stützt ihren Hauptantrag auf Ziff. 1 des zwischen der B. Archivverwaltung und dem Magistrat der Stadt A-Stadt am 20./22.8.1903 abgeschlossenen Vertrages als Anspruchsgrundlage. Dort heißt es:

Das Königliche Staatsarchiv in B-Stadt liefert dem Magistrat der Stadt A-Stadt alle diejenigen seiner Archivalien zu Eigentum aus, welche nachweislich dem vormaligen Ratsarchiv in A-Stadt entstammen, nach der Reduktion der Stadt im Jahr 1664 von der Kurmainzischen Regierung in Anspruch genommen wurden und von dieser auf die Königlich Preußische Regierung übergegangen sind.

Eine Feststellung, dass die Beteiligten dieses Gerichtsverfahrens als jeweilige Funktionsnachfolger der vertragschließenden Parteien 108 Jahre nach Abschluss des Beständeausgleichsvertrages noch Rechte aus Ziff. 1. dieser Bestimmungen herleiten können, vermag das Gericht nicht zu treffen. Die zwischen den Beteiligten hierzu zuvörderst streitigen Fragen sind für das Gericht nicht ausschlaggebend. Hierzu gehören sowohl die Aspekte der Auslegung der Vertragsbestimmungen, was etwa mit dem Ratsarchiv gemeint gewesen sei, als auch die Bewertung historischer Einschnitte, etwa die Verwaltung der vormals freien Stadt A-Stadt ab 1664 durch erzbischöflich-kurfürstliche Behörden aus Mainz oder königlich preußische Behörden seit 1802. Des weiteren gehören dazu die schriftsätzlich kontrovers diskutierten Gesichtspunkte, ob der Vertrag als allgemeines Rechtsprinzip den Provenienzgrundsatz (vgl. zu dessen erstmaliger Erwähnung in § 2 des Regulativs für die Ordnungsarbeiten im Preußischen Geheimen Staatsarchiv vom 1.7.1881 Wöhler, Rechte an kommunalen Archivalien, VBlBW 1985, 171, 176) enthält und ob der Vertrag das Königreich Preußen, zwei Weltkriege, die Weimarer Republik, das NS-Regime und die DDR-Zeit überdauert haben mag. Dahinstehen kann mithin, ob der Vertrag durch die wechselseitigen Erklärungen der Vertragschließenden aus dem Jahr 1919 formell abgewickelt worden ist und ihm daher der Einwand der Erfüllung entgegengehalten werden kann. Wesentlich ist für das Gericht nicht, ob der Klägerin wegen langer Untätigkeit der Einwand der Verwirkung entgegengehalten werden kann oder ihr Anspruch der Verjährungseinrede unterliegt. Unerheblich ist für die Kammer auch, ob nach Auffassung der Klägerin der Vertrag aus dem Jahr 1903 nach einem etwa in seiner Ziff. 1. geregelten Kernprinzip der Beachtung archivfachlicher Provenienz-Zuordnungen immer dann „wiederaufleben“ und eine Archivalien-Auslieferung auslösen kann, wenn das Staatsarchiv später wieder in den Besitz von Archivalien gelangte, deren Herkunft sich auf den Magistrat der Stadt A-Stadt bezog, wie hier für die im Dezember 1935 vom Amtsgericht A-Stadt an das Staatsarchiv gelangten Nachlass- und Vormundschaftsakten aus mehreren Jahrhunderten.

Vielmehr beurteilt sich die Rechtslage hinsichtlich der beim Beklagten archivierten historischen Urkunden nach dem Landesarchivgesetz - ArchG LSA - v. 28.6.1995 (GVBl. LSA S. 190), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18.6.2004 (GVBl. LSA S. 335, 341). An diesem Gesetz muss sich das Verlangen der Klägerin messen lassen, denn das Gesetz war bereits bei der erstmaligen Anspruchstellung durch das an den Beklagten gerichtete Schreiben der Klägerin vom 12.7.1996 in Kraft getreten. Nach der Gründung des Bundesarchivs der Bundesrepublik Deutschland in Koblenz durch Entscheidung der Bundesregierung im Jahr 1950 wurde die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Gesetzgeber selbst die für ein Rechtsgebiet wesentlichen Entscheidungen zu treffen hat (sog. Wesentlichkeitstheorie, vgl. BVerfGE 33,125 ff.) im Archivrecht erstmalig umgesetzt durch das Bundesarchivgesetz vom 6.1.1988 (BGBl. I S. 62). So haben in der Folgezeit in enger Anlehnung an dieses Gesetz (vgl. GesEntw LReg 6.12.1994, Drs. 2/383) die Länder eigene Landesarchivgesetze verabschiedet.

Gem. § 8 Abs. 2 ArchG LSA ist Archivgut Kulturgut (vgl. Art. 36 der Landesverfassung Sachsen-Anhalt), das das Landesarchiv auf Dauer sicher zu verwahren und zu schützen hat. Das Landesarchiv hat das Verfügungsrecht über das Landesarchivgut (§ 8 Abs. 1 ArchG LSA). Gesetzlich vorgesehen sind jedoch nur zwei Formen der Verfügung: Zunächst die hier nicht in Rede stehende depositarische Verwahrung gem. § 8 Abs. 3 ArchG LSA und sodann die ebenfalls hier nicht einschlägige Übereignung an ein anderes Staatsarchiv (§ 8 Abs. 4 Satz 1 ArchG LSA). Im Übrigen ist Landesarchivgut unveräußerlich (§ 8 Abs. 4 Satz 2 ArchG LSA). Ein nicht bloßes Depositalgut betreffendes, sondern zur dauerhaften Ausfolgung an ein kommunales Archiv zu vergebendes Landesarchivgut kennt das Archivgesetz des Landes Sachsen-Anhalt mithin nicht, auch nicht im Wege eines öffentlich-rechtlichen (Beständeausgleichs-)Vertrages. Der im Jahr 1903 zwischen dem Magistrat der Stadt A-Stadt und der B. Archivverwaltung geschlossene Vertrag findet, soweit er nach den formellen Abschlusserklärungen der Vertragsparteien im Jahr 1919 noch anwendbar gewesen sein sollte, spätestens an diesen Bestimmungen des Landesarchivgesetzes seine Grenze und kann eine vorrangige Geltung nicht beanspruchen, denn bei den zwischen den Beteiligten streitigen Unterlagen handelt es sich um Landesarchivgut.

Die im Dezember 1935 vom Amtsgericht A-Stadt an das Staatsarchiv B-Stadt abgegebenen historischen Vormundschafts- und Nachlassurkunden sind öffentliches Archivgut i. S. v. § 2 Abs. 2 ArchG LSA. Nach dieser Norm gelten als öffentliches Archivgut auch Unterlagen und dokumentarische Materialien, die öffentlichen Archiven zur dauernden Verwahrung und Nutzung überlassen worden sind. Das ist hier der Fall. Denn die Abgabe durch das Amtsgericht an das Staatsarchiv beließ die Urkunden in ihrer spezifisch öffentlichen Zweckbindung als öffentliche Sachen mit der Folge einer öffentlich-rechtlichen Sachherrschaft der Landesarchivverwaltung, so dass bereits vor Geltung des Landesarchivgesetzes einem etwaigen kommunalen Herausgabeverlangen § 986 Abs. 1 Satz 1 BGB („Der Besitzer kann die Herausgabe der Sache verweigern, wenn er oder der mittelbare Besitzer, von dem er sein Recht zum Besitz ableitet, dem Eigentümer gegenüber zum Besitz berechtigt ist“) analog als Einwendung der besitzenden Landesarchivverwaltung selbst bei einem etwa verbliebenen Eigentumsrecht der Stadt A-Stadt entgegengesetzt werden konnte (vgl. Wöhler, a. a. O., S. 174, 176; Wolf/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl., S. 482 ff.).

Die in der Außenstelle W. des Beklagten unter Dd 8 und Dd 9 (vgl. Beständeübersicht des B. Sachsen-Anhalt, Stand: Mai 2011, S. 69) registrierten Unterlagen sind Landesarchivgut i. S. v. § 3 Abs. 1 ArchG LSA. Diese Norm hat folgenden Wortlaut:

§ 3

Landesarchivgut

Öffentliches Archivgut ist Landesarchivgut, wenn es bei einer der in § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 genannten Stellen entstanden ist, oder wenn es sich um archivwürdige Unterlagen handelt, die in deren Eigentum übergegangen oder diesen zur Nutzung überlassen worden sind. Landesarchivgut ist auch sonstiges Archivgut, das in die Zuständigkeit des früheren Staatsarchivs B-Stadt fiel. Landesarchivgut sind ferner archivwürdige Unterlagen, die die Landesarchive von anderen als den in Satz 1 genannten öffentlichen Stellen oder von natürlichen Personen oder von juristischen Personen des privaten Rechts übernommen oder erworben haben, sofern es sich nicht um Depositalgut handelt.

Unstreitig liegt auch nach klägerischer Auffassung kein Landesarchivgut nach § 1 Abs. 1 Satz 1 ArchG LSA vor, denn das Archivgut ist nicht bei Stellen des Landes Sachsen-Anhalt i. S. v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 ArchG LSA entstanden oder in deren Eigentum übergegangen oder diesen Stellen zur Nutzung überlassen worden. Die Definition von Landesarchivgut bleibt aber nicht auf diese Alternativen beschränkt, sondern Landesarchivgut ist nach § 3 Abs. 1 Satz 2 ArchG LSA auch gegeben, wenn das Archivgut in die Zuständigkeit des früheren Staatsarchivs fiel. Ausgehend von den im Landeshauptarchiv durchgeführten Stichproben könnte dies zutreffen auf ca. 24% der Testamente, die in königlich preußischer Zeit noch „im Gebrauch“ waren und durch entsprechende Bearbeitungsvermerke archivischen „Zuwachs“ erfahren haben, was offenbar die Klägerin zugesteht und dadurch teilweise von ihrem Hauptantrag und einem darin enthaltenen 100%igen Rückgabeverlangen abrückt (Blatt 1 der Anlage 1 zum Schriftsatz der Klägerin vom 11.6.2010 im Verfahren 3 A 255/09 MD). § 3 Abs. 1 Satz 2 ArchG LSA stellt aber nach seinem Wortlaut allenfalls eine lex specialis für Archivgut des früheren Staatsarchivs dar, wenn es in dessen Zuständigkeit fiel. § 3 Abs. 1 Satz 2 ArchG LSA regelt mithin die Verhältnisse der vom Staatsarchiv übernommenen Archivalien nicht abschließend. § 3 Abs. 1 Satz 3 ArchG LSA erfasst darüber hinaus auch archivwürdige Unterlagen, die die Landesarchive von anderen als den in Satz 1 genannten öffentlichen Stellen erworben haben, als Landesarchivgut. Damit stellt das Gesetz klar, dass das Landesarchiv auch von der in Satz 2 genannten öffentlichen Stelle, dem früheren Staatsarchiv, archivwürdige Unterlagen als Landesarchivgut übernehmen konnte, denn sonst hätte der Gesetzgeber dies durch die Formulierung „Satz 1 und Satz 2“ ausschließen können. Obwohl der Gesetzgeber die Zugangsmöglichkeit kommunaler Archive zum Archivgut, das ihr Territorium betrifft, in der 2. Beratung problematisiert hat (vgl. Plenarprotokolle 2/21, S. 1433-1434), wurde jedoch § 8 ArchG LSA in unveränderter Fassung beschlossen (a. a. O., S. 1434).

Bei der Übernahme von Archivgut i. S. v. § 1 Abs. 1 Satz 1 ArchG LSA muss es sich nicht um eine rechtsgeschäftliche Übereignung gehandelt haben. Der weite und offenbar untechnisch gebrauchte Begriff der Übernahme schließt nach seinem Wortlaut auch Formen des Eigentumsübergangs durch behördliche Funktionsnachfolge ein. Mithin ist der Archivbestand des Staatsarchivs B-Stadt in den Archivbestand des B. Sachsen-Anhalt auch unter dem Gesichtspunkt des Eigentums übergegangen. Diese vorrangige Form des Eigentumserwerbs trifft auch auf solche Archivalien zu, die nicht durch § 3 Abs. 1 Satz 2 ArchG LSA gesondert geregelt sind, nämlich sonstiges Archivgut, das in die Zuständigkeit des früheren Staatsarchivs B-Stadt fiel, so dass hier eine Prüfung, ob die Unterlagen in die Zuständigkeit des früheren Staatsarchivs B-Stadt fielen, im Rahmen des § 3 Abs. 1 Satz 3 ArchG LSA entbehrlich bleibt.

Eine Verfassungswidrigkeit des Landesarchivgesetzes ist weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich. Insbesondere ist kein Fall einer entschädigungslosen Enteignung gegeben, da nicht festzustellen ist, dass Eigentum der Klägerin an den hier streitigen Archivalien zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Landesarchivgesetzes noch bestand, zumal die Beteiligten übereinstimmend vom Eigentum des früheren Staatsarchivs an den Archivalien ausgehen. Dies folgt aus dem klägerseits gestellten Antrag, der darauf abzielt, der Klägerin die Unterlagen zu Eigentum auszuliefern.

Sind die aus der Zeit von 1538-1887 stammenden Testamente, Vormundschafts- und Nachlassurkunden mithin Landesarchivgut i. S. v. § 3 Abs. 1 Satz 3 ArchG LSA, erhalten sie juristisch auch nicht dadurch ein anderes - kommunales - Gepräge, weil sie Namen und Adressen A. Bürger enthalten und ggf. durch in A-Stadt ansässige historische Verwaltungsstellen aufgenommen worden sind. Denn sedes materiae ist nicht in der örtlichen Gemeinschaft wurzelndes und auf diese bezogenes Recht, sondern wesensmäßig staatliches Recht, das als Testaments-, Nachlass- und Vormundschaftsrecht bis auf römisches Recht zurückzuführen ist und im Wege der Rezeption im deutschen Recht übernommen wurde (vgl. Olechowski, Rechtsgeschichte, Rn. 3321; Rudorff, Das Recht der Vormundschaft, 1832, S. 22). Letztlich dürfte dies der Grund sein, dass die Urkunden bis zur Übernahme als Archivgut durch das Staatsarchiv im Amtsgericht aufbewahrt wurden, nachdem an die Stelle der vormaligen Stadtgerichte, Justizämter und Patrimonialgerichte im Jahr 1849 in Preußen die Amts- und Kreisgerichte getreten sind.

Zur Zielsetzung des Landesarchivgesetzes gehörte auch der Schutz des Archivgutes vor Zersplitterung (vgl. Drs. 2/383 v. 6.12.1994, Vorblatt). Eine vollzogene Eingliederung historischer Urkunden in den eigenen zusammenhängenden Archivbestand im staatlichen Interesse an der Erhaltung der Tektonik eines nach Provenienz komplett zusammengetragenen und erschlossenen Archivbestandes (so Wöhler, a. a. O., S. 176) ist daher geeignet, den Wunsch der Klägerin am Besitz der ihre Geschichte betreffenden Dokumente zurückstehen zu lassen. Wörtlich heißt es bei Wöhler, Rechte an kommunalen Archivalien, a. a. O.: „In jedem Fall verbietet sich das Herausreißen einzelner besonders attraktiver Teile aus einem in die innere und äußere Ordnung (= Tektonik) einer Archivaliengesamtheit integrierten und durch Inventare erschlossenen Bestand.“ Das trifft auf den hier in Rede stehenden 8 Regalmeter und 4305 einzelne Archivalien umfassenden Bestand in Dd 8 und Dd 9 in der Außenstelle W. des B. Sachsen-Anhalt zu. Ähnliche Argumente wie die von Wöhler genannten hat sich der Beklagte bereits in seinem ersten Ablehnungsschreiben vom 5.6.1997 auf den klägerseitig mit Schreiben vom 12.7.1996 gestellten Anspruch zu Eigen gemacht. Seine Weigerung, die von der Klägerin begehrten Archivalien herauszugeben, ist daher sachlich begründet und rechtlich nicht zu beanstanden.

Der gem. § 13 ArchG LSA gegen den Beklagten erhobene Hilfsantrag der Klägerin auf Herausgabe der in Dd 8 und Dd 9 in der Außenstelle W. registrierten Bestände historischer Unterlagen ist unbegründet. Nach dieser Norm ist Archivgut, das sich in einem nicht zuständigen Archiv eines anderen Rechtsträgers befindet, auf Verlangen an das zuständige Archiv herauszugeben. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind im vorliegenden Fall nicht gegeben, denn das Landeshauptarchiv ist für Landesarchivgut, wie oben festgestellt, zuständig.

Nach alldem ist die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gem. § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO."
 

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