Eigentlich sollte die folgende Besprechung in H-SOZ-U-KULT erscheinen. Der Vorschlag, die Geschichtsquellen des Mittelalters zu besprechen, wurde am 14. Februar 2012 akzeptiert, allerdings wurde mir aufgegeben, andere Portale zu berücksichtigen, da man nur noch Sammelbesprechungen veröffentlichen wolle. Die eingereichte Rezension musste aber rigoros zusammengestrichen werden. Dabei blieb viel zu viel auf der Strecke, was mir wichtig war. Zugegeben, mit über 5400 Wörtern liegt der Text weit über dem vereinbarten Limit (2000). Aber erstens ist es nicht fair, einen Autor zu einer Sammelbesprechung zu zwingen, dann aber nicht den nötigen Raum für die Begründung des sehr kritischen Urteils bereitzustellen, und zweitens dürfte das Internet kaum platzen, wenn man in einem solchen Fall eine Vollversion auf dem Server einstellt, per Mail aber nur eine Kurzversion versendet. Die viele Arbeit bereue ich keineswegs, denn auch in Archivalia wird diese Besprechung wahrgenommen werden.
Datenbanken zu mittelalterlichen Geschichtsquellen
Im Jahr 1830 veröffentlichte der Göttinger Professor Friedrich Christoph Dahlmann seine “Quellenkunde der deutschen Geschichte nach der Folge der Begebenheiten” [1], eine Bibliographie zu Quellen und Sekundärliteratur, die später von dem Mediävisten Georg Waitz weitergeführt wurde (“Dahlmann-Waitz”). Die von Hermann Heimpel verantwortete 10. Auflage dieses Werks ist ganz offensichtlich an der Masse des Materials gescheitert. 1858 kam die Erstausgabe von “Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des Dreizehnten Jahrhunderts” von Wilhelm Wattenbach heraus, die kein gelehrtes Repertorium zum Nachschlagen sein wollte, sondern “durch zusammenhängende Darstellung zum eigenen Studium der Quellen anleiten, diesen in Beziehung zu den geschichtlichen Vorgängen [...] ihren Platz anweisen” wollte (Vorrede zur Ausgabe letzter Hand, 1893) [2] Inzwischen haben Robert Holtzmann, Wilhelm Levison, Heinz Löwe und Franz-Josef Schmale dieses Werk fortgeführt, wobei allerdings noch ein Teilband aussteht.
Quellenkunden situieren sich zwischen den beiden dadurch beschriebenen Polen: zwischen bibliographischer Liste und erzählender, einer Literaturgeschichte nahestehender Darstellung. Als deutschsprachiges Meisterwerk kann Alfons Lhotskys “Quellenkunde zur Mittelalterlichen Geschichte Österreichs” (1963) gelten, das sowohl als gelehrtes Nachschlagewerk als auch als einordnende Darstellung unschätzbare Dienste leistet. Während in mittelalterlichen Quellenkunden das einzelne Werk im Vordergrund steht, dominiert in der Neuzeit die Behandlung der Quellentypologie, also der Quellengattungen. Mit dem Sammelband “Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.-18. Jahrhundert)” von 2004 ist auch hier Österreich führend.
Seit Februar 2012 ist das Repertorium “Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters” online. Es liegt nahe, die entsprechende Datenbank der erzählenden Quellen der Niederlande “Narrative Sources” (NaSo) und hinsichtlich der handschriftlichen Überlieferung den “Handschriftencensus” für die deutschsprachige Literatur des Mittelalters vergleichend heranzuziehen. Die kritische Auseinandersetzung mit dem neuen Angebot der “Geschichtsquellen” soll jedoch im Vordergrund stehen.
Die von der Bayerischen Staatsbibliothek verantwortete Website der Geschichtsquellen umfasst ca. 4500 Werk- und 1300 Autoren-Artikel (laut Mail von Roman Deutinger, Bayerische Akademie der Wissenschaften München, vom 27. Februar 2012). Unter “About” findet man in NaSo als Umfangsangabe: ca. 2200 “records”. Den größten Umfang hat der Handschriftencensus: Am 27. Februar 2012 waren 21.576 Signaturen in 1.408 Bibliotheken/Sammlungen (ohne Privatbesitz) registriert, 5.355 Autoren/Werke, davon 1.104 mit Ausgaben sowie 16.150 Titel in der Literaturdatenbank (Mail von Jürgen Wolf, Marburg).
Der Census ist aus Marburger DFG-Projekten zu deutschsprachigen Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts ab 1990 hervorgegangen [3]. Obwohl institutionell an die Marburger Altgermanistik angebunden, wird er formal von einem privaten Wissenschaftlerteam verantwortet. Die ersten Wurzeln von NaSo liegen in den frühen 1980er Jahren, 1995 wurden erste Arbeitsergebnisse der Forschungsprojekte an den Mittelalterinstituten der belgischen Universitäten Gent und Löwen publiziert [4]. Seit 1996 gibt es eine Datenbankversion, seit 2002 kamen mit einem Groninger Projekt auch die heutigen Niederlande hinzu. Für die jetzige Website (seit 2009) zeichnet die Belgische Königliche Historische Kommission als Herausgeber.
Im Vergleich dazu haben die Geschichtsquellen die älteste Tradition. Sie sind ein Projekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und deren Kommission für die Herausgabe des “Repertorium Fontium Historiae Medii Aevi” (der Name wurde inzwischen geändert), eines internationalen Gemeinschaftsunternehmens, das 1953 als Neubearbeitung von August Potthasts “Bibliotheca” angeregt wurde [5]. Die Münchner Kommission existiert seit 1957. Kurz vor dem Abschluss des gedruckten Repertoriums (der letzte Band erschien 2007) begann sie damit, PDFs mit aktualisierten Artikeln aus dem “Repertorium Fontium” ins Netz zu stellen. Die PDFs werden hoffentlich als wissenschaftsgeschichtliche Quellen dort belassen, auch wenn vorgesehen ist, sie nicht mehr zu verändern.
Der Historiker und Bibliothekar August Potthast erarbeitete seine “Bibliotheca Historica Medii Aevi. Wegweiser durch die Geschichtswerke des europäischen Mittelalters” mit stupendem Fleiß. Die Erstausgabe erschien 1862 (mit Supplement 1868), die weit umfangreichere Zweitauflage 1898 [6]. Dieses seinerzeit hoch gerühmte Werk ging allerdings, wie Oswald Holder-Egger einmal notierte, in der Erstausgabe hinsichtlich vieler Artikel auf das Potthast von Georg Heinrich Pertz übergebene “Direktorium” der Scriptores der Monumenta Germaniae historica zurück, für dessen Bearbeitung Pertz 1823 den Wolfenbütteler Oberbibliothekar Ebert verpflichtet hatte. Dieses Verzeichnis sollte die handschriftliche Überlieferung und die Abdrucke der erzählenden Quellen nachweisen (samt den “Hülfsmitteln”, also der Sekundärliteratur), aber auch die benutzten Quellen und die Rezeption der Werke [7]. Mit Blick auf dieses nie gedruckte Direktorium wollte Wattenbach 1858 den bibliographischen Apparat seiner Quellenkunde schlank halten [8].
1. Vollständigkeit
Es stellt einen gravierenden Mangel aller drei Angebote dar, dass die Aufnahmekriterien der behandelten Werke nicht offengelegt oder diskutiert werden.
Während die Geschichtsquellen (wie der Potthast) die Grenze bei 1500 ziehen, berücksichtigt NaSo noch die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, und auch der Census geht vielfach ins 16. Jahrhundert hinein.
NaSo bezieht sich auf den historischen Raum der mittelalterlichen Niederlande (außer Belgien und den heutigen Niederlanden Teile Nordwestdeutschlands und Frankreichs). Der Handschriftencensus braucht sich auf den ersten Blick in dieser Beziehung mit keiner Abgrenzung zu quälen: Alle althochdeutschen, mittelhochdeutschen/frühneuhochdeutschen und mittelniederdeutschen Zeugnisse (um nur die wichtigsten Sprachstufen zu nennen) werden berücksichtigt, auch wenn sie beispielsweise im heutigen Rumänien (Siebenbürgen) oder in Estland niedergeschrieben wurden. Unklar bleibt freilich die Einbeziehung mittelniederländischer Texte und Handschriften. Man darf vermuten, dass sich der Census am Verfasserlexikon (2. Auflage) orientiert hat, das in Bd. 1, 1978 die Berücksichtigung solcher Autoren versprach, die in den nieder- und hochdeutschen Sprachraum hineingewirkt haben. Recht forsch wollen die Geschichtsquellen all das aufnehmen, “was für die Geschichte des deutschen Reiches im Mittelalter einschlägig ist” [9]. Dass hier hinsichtlich der Bestimmung des “deutschen Reiches”ein Rattenschwanz methodischer Probleme wartet, braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden. Vor dem 10. Jahrhundert gab es ja eigentlich kein “deutsches Reich”.
Noch problematischer ist freilich die Festlegung, welche Textgattungen aufgenommen werden. Im Fall des Handschriftencensus bereitet natürlich vor allem das spätmittelalterliche Geschäftsschriftgut Probleme. Frühe volkssprachige Urbare sind vertreten, solche aus dem 14./15. Jahrhundert eher nicht. Deutsche “urkundliche” Aufzeichnungen etwa in städtischen Amtsbüchern werden nicht berücksichtigt, während dort überlieferte “literarische” Texte (einschließlich Fachprosa) durchaus zu finden sind. NaSo scheint davon auszugehen, dass die Definition von “erzählenden Quellen” eher trivial ist: “all texts which describe the past in a narrative way: annals, chronicles, letters, diaries, poems, saint's lives, genealogies etc.”. Das sind im wesentlichen historiographische Gattungen, wobei dies natürlich die Frage aufwirft, was im Mittelalter als “Geschichtsschreibung” zu gelten hat.
Das Repertorium Geschichtsquellen des deutschen Mittelalter sei “ein bibliographisches und quellenkundliches Nachschlagewerk auf digitaler Grundlage zu den erzählenden Geschichtsquellen des mittelalterlichen Deutschen Reiches für die Zeit von ca. 750 bis 1500", liest man auf der Startseite. Möglicherweise hängt es mit der hastigen Online-Veröffentlichung des Angebots [10] zusammen, dass man sich nicht die Mühe gemacht hat, die entsprechenden .lateinischen Passagen aus dem “Prooemium” im letzten Band des gedruckten “Repertorium fontium” zu übersetzen oder auf Deutsch zu referieren. Selbstverständlich ist es grob irreführend zu sagen, dass es nur um die erzählenden Geschichtsquellen geht, denn tatsächlich finden sich Beispiele der im Prooemium aufgezählten anderen Gattungen sehr wohl in den Geschichtsquellen: Rechtsquellen, Briefe und Briefsammlungen, poetische Texte, Hagiographisches, Konzils- und Synodalakten, wirtschaftsgeschichtliche Quellen, ein Kessel Buntes zur Kultur- und Sittengeschichte (was auf Latein wesentlich weniger entlarvend klingt: “Fontes de historia morum et doctrinarum”), Memorialquellen, arabische, jüdische und türkisch-osmanische Quellen zur europäischen Geschichte sowie lateinische Interpreten arabischer, griechischer und jüdischer Werke. Dabei ist stets an eine Auswahl des Wertvollsten gedacht, also solcher Werke, die wirkliche Geschichtsquellen sind.
Aber was um Himmels willen sind wirkliche Geschichtsquellen? Hinter dem gedruckten Repertorium und damit auch hinter den digitalen Geschichtsquellen steht die zutiefst fragwürdige traditionelle Konzeption der Ereignisgeschichte, der es primär um die Taten der Kaiser und Könige ging. Quellen, die zur faktographischen Erkenntnis beitragen konnten, wurden als wertvoll eingeschätzt, die anderen missachtet (und in Editionen oftmals nur gekürzt abgedruckt). Auch wenn in Wattenbachs Quellenkunde eine gehörige Prise Geistesgeschichte vorhanden ist, sind seine Wertungen überwiegend diesem, inzwischen weitgehend überwundenem Ansatz verpflichtet. Noch 1910 formulierte Paul Joachimsen: “Daß es für den historiographischen Wert eines Geschichtswerkes gleichgültig ist, ob es für seine Zeit oder eine frühere sonst unbekannte Nachrichten bietet, ja sogar ob es vom Standpunkt unsrer heutigen Kenntnis historisch Richtiges enthält, diese Auffassung ist noch weit von allgemeiner Geltung entfernt.” [11].
Wer heutzutage für einen erweiterten Quellenbegriff plädiert, rennt dagegen weit offene Türen ein. Das gilt aber nicht für die Geschichtsquellen, die nach wie vor dem obsoleten Quellenbegriff anhängen. Dies mag ein kleines Zitate-Florilegium demonstrieren: “laut Friedlaender erst Mitte 12. Jh. in Magdeburg aus älteren Quellen unter legendarischer Ausschmückung kompiliert und folglich historisch wertlos; diese Meinung blieb jedoch nicht unwidersprochen.” - “Kurze Briefe von geringem Quellenwert” - “Das Werk stammt von einem anonymen, wohl aus Hamburg stammenden Verfasser und ist ohne eigenständigen Quellenwert, da es im Grunde nur die Darstellungen in der Historia Ottonis des Liutprand von Cremona (PND118575171) und im Chronicon sive Gesta Saxonum des Thietmar von Merseburg (PND118757083) nachschreibt” - “Von geringer historischer Glaubwürdigkeit.” - “Die Chronik bietet, im Anschluß an ein Nekrolog, etwa 30 annalistische Notizen zu den Jahren 1101-1344, von denen nur die jüngeren historischen Wert haben.” Der kulturhistorische oder geistesgeschichtliche Erkenntniswert historischer Zeugnisse - und damit der Erkenntnisfortschritt der letzten Jahrzehnte - wird offenkundig ignoriert, wenn historischer Wert mit ereignisgeschichtlichem Nachrichtenwert gleichgesetzt wird.
Der unglaublich naive Ansatz der Repertoriums-Verantwortlichen, man könne in Fortführung der Zusammenstellung des - einseitig im Sinne der faktographischen Konzeption wertenden - August Potthast den klassischen Quellenkanon durch geistes- und kulturgeschichtliche Alibi-Texte erweitern und damit den bibliographischen Auftrag erfüllen, konnte nicht funktionieren. Die Vielfalt der vom Historiker heranzuziehenden Quellen hat Lhotsky in seiner bereits erwähnten Quellenkunde eindrucksvoll gesichtet, bevor er sich im Hauptteil den erzählenden Quellen zuwandte. Aus meiner Sicht ist Meister Albrants Roßarzneibuch mit weit über 200 Handschriften eine wichtigere Geschichtsquelle als alle penibel aufgelisteten früh- und hochmittelalterlichen lateinischen Dedikationsnotizen im “Repertorium” zusammen.
Nun könnte man ja mit gewissen konzeptionellen Mängeln leben, wenn eine kluge Auswahl getroffen worden wäre. Davon kann aber nicht die Rede sein. Als Ganzes sehe ich das gedruckte Repertorium - der erste Band erschien 1962, das letzte Heft von Bd. 11 2007 - als gescheitert an. Die Qualität reicht längst nicht an von verschiedenen Autoren erstellten Sammelwerke wie das Verfasserlexikon oder das Lexikon des Mittelalters heran. Das Repertorium ist kein wirklich gutes Nachschlagewerk, wenngleich ich zugeben muss, dass die letzten Bände erheblich besser sind als die ersten und ich mitunter den PDFs der Geschichtsquellen wertvolle Hinweise entnehmen konnte. Bei früh- und hochmittelalterlichen Quellen scheint mir die Qualität höher zu sein als bei den späteren.
Dass im Früh- und Hochmittelalter hagiographische Quellen zu den wichtigsten Geschichtsquellen überhaupt gehören, ist eine Binsenweisheit. Da so ziemlich alle keinem Verfasser zuweisbaren Viten in einen Nachtragsband verschoben wurden, ist das Repertorium schon aus diesem Grund ein unbrauchbarer Torso. Ich muss gestehen, dass ich lange gebraucht habe, bis ich in der Vorrede von Bd. 10 (2005), S. VI auf den versteckten Hinweis stieß, die “ingens moltitudo” habe dazu bewogen, die Viten zurückzustellen. Irritierenderweise gibt es einige wenige Viten (auch Heiligenviten!) unter V. Und dort steht keine Silbe über die Entscheidung, ebenso wenig wie beim Buchstaben S (es war vorgesehen, alle Heiligenviten unter Sanctus zu versammeln) oder in der Vorrede zum letzten Band. Man wusste aber doch von Anfang an, wie umfangreich das hagiographische Korpus ist, denn in Potthasts Bibliotheca nahm es bereits immensen Raum ein. Und sehr viele neue Texte sind zwischenzeitlich auch nicht bekannt geworden. Nichts verdeutlicht mehr das Desaster - man mag auch sagen: die Steuergeldverschwendung - des gedruckten Repertoriums als diese unglaubliche Entscheidung, die hochwichtigen hagiographischen Quellen erst einmal wegzulassen, damit man das allzu lang sich hinziehende Werk überhaupt abschließen konnte.
Das ist aber nur die größte Lücke. Ich muss mich auf wenige Beispiele beschränken. Der wichtige dämonologische Traktat des Abts Richalm von Schöntal wurde 2009 in der MGH-Reihe der “Quellen zur Geistesgeschichte” ediert - für die Geschichtsquellen existiert er nicht (obwohl er in einem alten Druck von Pez vorlag). Schriften von Job Vener (in einer Erwähnung zu “Jobst” verballhornt) oder Winand von Steeg: Fehlanzeige! Unausgewertet blieb etwa der Sammelband “Die Quellen der Geschichte Österreichs” (1982), in dem man etwa Nachweise zum Tagebuch des Ulrich Putsch oder zur Vorarlberger Chronik des Ulrich Tränkle (beide Werke fehlen) hätte finden können. Bei den historischen Liedern wurde nur eine lächerlich kleine, offenbar ohne Sinn und Verstand getroffene Auswahl berücksichtigt (wovon man sich mittels der Volltextsuche nach Liliencron überzeugen kann). Von den Liederdichtern der Burgunderkriege sind nur Veit Weber und Judenfint (so ist wohl statt Judensint zu lesen, die Geschichtsquellen haben: Judensit) vertreten. Unverzeihlich erscheint mir das Fehlen des Gedichts “Die Niklashauser Fahrt”[12]. Ist Püterichs Ehrenbrief womöglich nur für Germanisten wichtig, nicht aber für Historiker? Von den neun Schwesternbüchern aus oberdeutschen Dominikanerinnenklöstern [13] finden sich nur drei in den Geschichtsquellen. Wieso fehlen die Briefe Wigos von Feuchtwangen aus dem Ende des 10. Jahrhunderts? Wieso wurde der “Traum” des Wolf von Hermannsgrün, eine “politische Denkschrift” von 1495, übergangen?
Fragwürdig sind auch viele Entscheidungen, aus dem Gesamtwerk von Autoren einseitig das zu bevorzugen, was dem engen, um nicht zu sagen engstirnigen Begriff einer historischen Quelle entspricht. Mit welchem Recht greift man aus dem Oeuvre des sogenannten Konrad von Hirsau nur seine Literaturgeschichte als historisch bedeutsam heraus? Bei dem Konstanzer Konrad Grünenberg wird sein Reisebericht und eine - eher belanglose - Chronikbearbeitung berücksichtigt, nicht aber das berühmte Wappenbuch - während das kaum bekannte Wappenbuch Edlibachs in den Geschichtsquellen vertreten ist! Bei dem Oeuvre des Ulrich Molitoris hätte man mindestens auch das “Somnium”, das sich auf den Konstanzer Bistumsstreit bezieht, berücksichtigen müssen.
Wer weitere Belege für die Willkür der Auswahl bei den nicht-erzählenden Quellen braucht, kann sich der Suchfunktion (Filter “Gattung”) bedienen. Was unter “Wirtschaft/Verwaltung” zusammengewürfelt wurde, ist mehr als peinlich: ein Sammelsurium, dessen Nutzen nicht erkennbar ist. Was fängt man mit einigen Lehenbüchern, mit einer Handvoll Rechnungsaufzeichnungen an? Wieso ist das Runtingerbuch wichtiger als das Habsburgische Urbar? (Güterverzeichnisse sind so gut wie nicht vertreten.)
Eine Literaturgeschichte darf sich auf eine gut durchdachte Auswahl stützen. Von einer Quellenkunde zur mittelalterlichen Geschichte darf man zwar nicht Lückenlosigkeit verlangen, wohl aber, dass sie den Ratsuchenden nicht mit einer ganz und gar veralteten Auffassung dessen, was für den Historiker als Quelle wichtig ist, bevormundet.
2. Der Aufbau der Einträge
Während NaSo Datierung (Jahrhundert), Gattung, Sprache und Incipit/Explicit in einem auffälligen roten Feld auf der rechten Seite platziert, verzichten die Geschichtsquellen und der Handschriftencensus ganz auf grafische Elemente.
Da der Census ein Handschriftenrepertorium ist, sind hinsichtlich des Aufbaus der Einträge nur NaSo und die Geschichtsquellen direkt vergleichbar. Der Handschriftencensus verzichtet ganz auf jegliche Angaben zu den überlieferten Werken selbst. Man erfährt also noch nicht einmal ihre Datierung. Da durchaus nicht alle Werke im Verfasserlexikon enthalten sind, sind solche Daten durchaus nicht entbehrlich.
Der Kopfteil von NaSo beginnt mit knappen Angaben zum jeweiligen Autor, gefolgt von Grunddaten des Textes (Lokalisierung, Datierung, Widmung), einer Umfangsangabe, Angaben zum Kontext (selten ausgefüllt) und einer kurzen Charakteristik des Textes. Der Hauptteil besteht aus folgenden Kategorien (englische Version): Sources, Influence (also Rezeption), Manuscripts, Translations, Editions, Literature und Links. Dagegen ist der Aufbau der Geschichtsquellen-Artikel wesentlich weniger formalisiert. Autoren- und Werkseiten werden hier getrennt. Auf eine Kurzinformation zum Werk folgen Angaben zu den Handschriften, den Ausgaben/Übersetzungen und zur Literatur. Häufig unbefriedigend ist die Trennung zwischen der allgemeinen Literatur (Comm. Gen.) und der Spezialliteratur zum Werk.
Zwar entspricht die Berücksichtigung von Quellen und Rezeption in NaSo der Konzeption des erwähnten MGH-Direktoriums, doch ist verständlich, dass die Geschichtsquellen den erheblichen Problemen der Operationalisierung dieser Forderung ausgewichen sind.
Lhotskys Quellenkunde gab 1963 den Textbeginn der behandelten Werke an. In über 300 Einträgen der Geschichtsquellen findet sich die Zeichenfolge inc, also die Angabe eines Incipits, häufig bei Versdichtungen und dort oft mit einem Nachweis aus Walthers Initia verbunden. Dagegen finden sich Incipit-Angaben nur vereinzelt im Handschriftencensus. Dringend wünschenswert wäre, dass die Textanfänge auch als separate Liste auf einer einzelnen Seite zur Durchsicht bereitgestellt und in eine Open-Access-Initien-Datenbank eingespeist würden.[14].
Dass die Textüberlieferung einen zentralen Aspekt der mittelalterlichen Literatur darstellt, ist eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Einsicht der überlieferungsgeschichtlichen Methode der Altgermanistik, der im Verfasserlexikon und im Handschriftencensus Rechnung getragen wurde. Auch in meinem Versuch einer überlieferungsgeschichtlichen Quellenkunde der Burgunderkriege [15] habe ich viel Wert auf den Nachweis der Handschriften gelegt. Die Geschichtsquellen haben versucht, Handschriften stärker zu berücksichtigen als in älteren Quellenkunden üblich - sei es durch die explizite Nennung von Handschriften (eher selten), sei es durch Hinweise auf Literatur zur handschriftlichen Überlieferung. Es sollte aber angestrebt werden, konsequent zu jedem Werk die gesamte handschriftliche Überlieferung anzugeben, wie dies offensichtlich die Konzeption von NaSo ist. Nur der Handschriftencensus gibt an, wenn die bekannte Gesamtüberlieferung erfasst ist. Die Geschichtsquellen bemerken, wenn nur eine einzige Handschrift das Werk überliefert. Welchen Umfang die Überlieferung hat, wäre durchaus eine wichtige Information.
NaSo hat zu jeder Handschrift eine eigene Seite, auf der rechts im roten Kasten die Datierung angegeben werden soll. Aufgeführt werden sollen die überlieferten Werke (aus dem NaSo-Bestand) mit Blattangaben, doch meistens fehlen diese (und auch die Datierung). Anders als beim Handschriftencensus, der ja die Handschriften in den Mittelpunkt stellt, vermisst man Links zu Handschriftenkatalogen und anderen Beschreibungen. Es wäre an der Zeit, ein als Wiki konzipiertes internationales Äquivalent zum Handschriftencensus für die lateinischen Handschriften ins Leben zu rufen. Dadurch könnten auch die vielen Handschriftenbeschreibungen in den Editionen, Schriftenreihen und Zeitschriften der MGH, zu denen es keinen Gesamtindex gibt, erschlossen werden. Vergleichsweise nutzlos ist dagegen das seit 2007 offenbar nicht mehr gepflegte “Repertorium Chronicarum” im Internet, eine Kompilation zur handschriftlichen Überlieferung lateinischer mittelalterlicher Chroniken ohne jegliche Quellenangaben [16].
Ärgerlicherweise bietet der Handschriftencensus bei vielen Handschriften nicht einmal die Grunddaten der Schlagzeile eines modernen Handschriftenkatalogs. Mitunter erfährt man nur die Signatur der Handschrift und eine Literaturangabe. Schreibernamen, Schreiborte und Provenienzen werden von den Verantwortlichen des Census viel zu oft unterschlagen.
Bei den Formalien sind die Literaturangaben des Census dagegen vorbildlich. Die Literaturangaben enthalten die Vornamen der Autoren, und die Anzahl der Abkürzungen (4) kann vernachlässigt werden. Während NaSo anscheinend auf Abkürzungen verzichtet, haben die Geschichtsquellen leider noch nicht begriffen, dass Abkürzungen im Internet nicht nur unnötig sind, sondern auch der Auffindbarkeit in Suchmaschinen schaden. Wie übereilt der Datenbestand ins Internet gestellt wurde, zeigt sich auch am Fehlen eines Abkürzungsverzeichnisses. Es gibt zwar ein solches für das Repertorium fontium auf der Kommissions-Website [17], aber in diesem fehlen die Abkürzungen jüngerer Werke wie “Encycl. Chron.” .oder “CALMA”.
Die chronologische Anordnung der Literaturangaben in den beiden deutschsprachigen Angeboten ist nur zu begrüßen, da sie die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung spiegelt. NaSo ordnet leider alphabetisch.
3. Zuverlässigkeit
Fehlerlosigkeit wird man bei solchen quellenkundlichen Verzeichnissen nicht erwarten dürfen. Es gab den einen oder anderen groben Schnitzer im Handschriftencensus, und außerhalb der ohne Zweifel sich auf die mittelhochdeutsche Klassik beziehende Kernkompetenz findet man unzählige Lücken sowohl hinsichtlich der Erfassung der Überlieferung als auch bei den Literaturangaben. Während mir für ein Urteil über NaSo die Kenntnis der behandelten Werke und der Überblick über den Gesamtbestand fehlt, lassen mich meine Beobachtungen zu den Geschichtsquellen zu einem weitgehend negativen Resultat kommen. Meine Sondierungen ergaben einen hohen Anteil von fehler- und lückenhaften Artikeln.[18]. Um nur ein Beispiel aus dem Hochmittelalter herauszugreifen: Bei den Reiserechnungen des Passauer Bischofs Wolfger steht die maßgebliche Ausgabe von Heger nur unter der Literatur, nicht unter den Ausgaben. Die Seitenzahl bei Haider ist falsch (richtig: 45), die Stelle in Lhotskys Quellenkunde S. 122 fehlt. Anzugeben gewesen wäre auch der im Wikipedia-Artikel zum Bischof genannte Sammelband “Der achthundertjährige Pelzrock” (2005), dessen Titel auf den berühmtesten Eintrag dieser Quelle, das Lebenszeugnis Walthers von der Vogelweide, anspielt.
Die Geschichtsquellen sind eine ganz und gar uneinheitliche Kompilation mit im wesentlichen drei Bearbeitungsschichten: aus dem gedruckten Repertorium fontium übernommene Artikel (nicht selten von zweifelhafter Qualität), für die PDFs neu bearbeitete Artikel und jüngste Ergänzungen für die digitale Version. Ärgerlicherweise wird der jeweilige Bearbeitungsstand nicht angegeben.
Ein Akademieprojekt, das ja höchsten Ansprüchen genügen muss, hat zwingend systematisch und konsequent zu arbeiten. Ein zitiertes Nachschlagewerk oder eine angeführte Arbeit der Sekundärliteratur muss für alle in Betracht kommenden Artikel erschöpfend ausgewertet werden.
Der Handschriftencensus versucht zwar, diese methodische Maxime zu verwirklichen, hat aber in dieser Beziehung durchaus Defizite. So darf man etwa keineswegs damit rechnen, dass alle Überlieferungsangaben des Verfasserlexikons ausgewertet wurden. Im Vergleich zu den Geschichtsquellen ist aber der Handschriftencensus ein Muster an Konsequenz, denn allzu oft muss man bei den Geschichtsquellen feststellen, dass Vorlagen nur punktuell ausgewertet wurden. Das betrifft auch die Berücksichtigung von NaSo und Handschriftencensus. Selbst das Verfasserlexikon ist nicht konsequent erfasst (während die eher schlechte The Encyclopedia of the Medieval Chronicle fast lückenlos vertreten ist). Auch bei anderen Nachschlagewerken wie dem Lexikon des Mittelalters, dem Bautzschen Kirchenlexikon oder dem Lexikon für Theologie und Kirche ergibt sich das gleiche Bild. Killys Literaturlexikon wird zu genau einem Artikel zitiert. Die Arbeit von Brigitte Schürmann zur Rezeption Ottos von Freising behandelt 23 Autoren, zitiert ist sie nur bei sieben. Die Studie von Schweers über Albrecht von Bonstetten ist in 15 Artikeln präsent, unverständlicherweise aber nicht bei Konrad Wenger, bei dem ein peinlich veralteter Kenntnisstand vorliegt. Zu Bernhard von Uissigheim gibt es einen Artikel im “Historischen Lexikon Bayerns” (ein Online-Angebot aus dem dem gleichen Haus), der nicht berücksichtigt wird. Man könnte endlos weiterlamentieren!
Ein mir von der Wikipedia wohlbekanntes Phänomen ist das Ergänzen von Literaturangaben, ohne die Implikationen für den Rest des Artikels zu beachten. Während der Handschriftencensus hier in der Regel sauber arbeitet, begegnet diese den Leser irreführende Arbeitsweise in den Geschichtsquellen auf Schritt und Tritt. Zum “Chronicon Schlierseense” wird die Neubearbeitung des Verfasserlexikons zitiert, dem man hätte entnehmen müssen, dass die lateinische Fassung des Werks sehr wohl ediert ist (von Obernberg 1804 [19]). Bei der deutschsprachigen ‘Aachener Chronik’ wird zwar der Handschriftencensus angeführt, der dort angegebene Verfasserlexikonsartikel von 1978 aber ignoriert. Die dort aufgeführten Aufsätze von Pauls 1913 (mit Ergänzungen zur Ausgabe) und Meuthen 1965 (eine Übersicht zur Aachener Historiographie und von daher besonders relevant) sind unverzichtbar. Sie fehlen in den Geschichtsquellen (während die enttäuschende Quellenkunde Dotzauers, die hier ganz nutzlos ist, zitiert wird; wie die Volltextsuche zeigt, glücklicherweise aber nur dieses eine Mal). Zur Hofordnung Markgraf Johanns von Brandenburg ist nun maßgeblich die Stellungnahme in der Edition Thumsers, die aber unter der allgemeinen Literatur zu Ludwig von Eyb dem Älteren fehlt (sie ist nur bei den einzelnen Werken vermerkt). Es hätte demnach auch notiert werden müssen, dass die Verfasserschaft Eybs nach Thumser eher zweifelhaft ist. Wenn man die zum Hexenhammer zitierte neuere Sekundärliteratur auch nur ansatzweise gesichtet hätte, hätte auffallen müssen, dass es neben der alten schlechten Übersetzung von Schmidt eine neue von Behringer/Jerouschek/Tschacher (ebenfalls bei dtv) gibt und das schon seit zwölf Jahren.
Bei nicht wenigen Autoren kann man NaSo und die Geschichtsquellen direkt vergleichen. Bei “Albert von Aachen” stellt man fest, dass beide Projekte Mängel bei der bibliographischen Erfassung aufweisen. NaSo hat Titel, die den Geschichtsquellen fehlen und umgekehrt, wobei zu beachten ist, dass NaSo generell dazu neigt, auch eher unerhebliche Erwähnungen in Lexika oder Sekundärliteratur aufzunehmen. Die Sprachgrenze ist zugleich auch eine Wissenschaftsgrenze: NaSo übersieht deutschsprachige Literatur, die Geschichtsquellen fremdsprachige Arbeiten. Befremdlich ist, dass NaSo den “Essai critique sur la chronique d'Albert d'Aix” (von den Geschichtsquellen wird der Titel falsch zitiert) nicht aufführt. Und es gibt offenkundig einschlägige Literatur, die beiden Angeboten fehlt, etwa Carrier 2008 [20] und einen in der englischsprachigen Wikipedia verzeichneten Titel von Edgington 1998. Unvermeidlich sind anscheinend Entstellungen von deutschen Autorennamen (Khün bei NaSo) und Falschzitierungen. Bei den Seitenangaben von Menzel 1992 hat NaSo “ 44197" statt “1-21". Kühn 1887 zitieren beide nicht korrekt. NaSo hat nur die Anfangsseite 543, während die Geschichtsquellen die Titelseite 543 unterschlägt.
Oft regiert das leidige Prinzip “Regionalia non leguntur” (Franz Staab) die bibliographischen Angaben der Geschichtsquellen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Geschichtsquellen übergehen die Reutlinger Lokalliteratur zu Hugo Spechtshart (anders als der Handschriftencensus [21]). Aber auch überregionale Literatur älteren Datums wird häufig nicht berücksichtigt, obwohl sie nach wie vor von großer Bedeutung für die Forschung ist. Ausgesprochen schlecht ist die Information über “Jacobus de Moguntia” in den Geschichtsquellen. Man sollte in jedem Fall erfahren, dass er hauptsächlich aufgrund der Naukler-Exzerpte im 19. Jahrhundert viel diskutiert wurde, und eine Auflistung der einschlägigen Studien ist keinesfalls entbehrlich. Unter keinen Umständen hätte die Monographie von Wichert fehlen dürfen. Da es zur MGH-Ausgabe des Matthias von Neuenburg keine Einleitung gibt, ist es inakzeptabel, nur eine Auswahl der älteren Literatur anzuführen. Die gleiche Beobachtung lässt sich auch bei Eberhard Windeck (so das Verfasserlexikon, der Handschriftencensus und die Ansetzungsform der PND - die Geschichtsquellen haben: Windecke) machen. Es ist wohl kein Zufall, dass dies spätmittelalterliche Autoren sind; bei dem vorhin genannten Albert von Aachen konnte ich keine solche Lücken ausmachen.
4. Suchfunktion
Die beste Suchfunktion bieten die Geschichtsquellen. Neben der Volltextsuche gibt es Suchfelder, die kombiniert werden können. Vorgegebene Filter - Schlagwörter, Gattungen, Regionen (unterschieden werden solche vor und nach 1200) - sind ausgesprochen nützlich. So kann man sich etwa die in Bayern 1300-1500 entstandenen Quellen aus dem Zisterzienserorden ausgeben lassen. Allerdings ist die Verschlagwortung wenig zuverlässig, so dass man sicherheitshalber immer ergänzend die Volltextsuche nutzen sollte. Weshalb man die Annales Hirsaugienses des Trithemius unter dem Quellenort Hirsau findet, nicht aber das vorangegangene Chronicon Hirsaugiense des gleichen Autors, leuchtet nicht ein. Ebenso befremdlich: Die Theoger-Vita wird Hirsau zugewiesen, die Werke Konrads von Hirsau aber nicht.
Ähnliche Suchmöglichkeiten finden sich in NaSo vor. Technisch inakzeptabel ist freilich die Optimierung zugunsten des Internet Explorers, was unter anderem zur Folge hat, dass bei der Nutzung von Chrome herbe Einschränkungen bei der Suche bestehen.
Am wenigsten befriedigend sind die Suchmöglichkeiten im Handschriftencensus. Da Google nicht alle Beschreibungen erfasst und es noch nicht einmal eine übergreifende Volltextsuche gibt, sind beispielsweise manche Provenienzangaben nicht auffindbar. Differenzierte Suchen wurden nur für die Teilrepertorien bis 1400 realisiert, aber auch hier vermisst man eine Volltextsuche.
5. Vernetzung
Die Zukunft der Quellenkunde ist digital. Das Hyperlink-Prinzip ermöglicht dem Benutzer den sofortigen Zugriff auf andere Teile des gleichen Angebots (interne Verlinkung) und auf die nachgewiesenen Handschriften, Drucke, Ausgaben und Sekundärliteratur (externe Verlinkung), wobei bereits heute ein nicht unbeträchtlicher Teil vor allem der älteren Ressourcen online und Open Access zur Verfügung steht.
Hinsichtlich interner Links ist NaSo das Schlusslicht: Querverweise sind, soweit ersichtlich, nie als Links realisiert. Kaum interne Links weist der Handschriftencensus aus, obwohl es dringend wünschenswert wäre, vom einzelnen Handschrifteneintrag mit einem Klick zu den Einträgen mit den überlieferten Texten zu kommen. Am weitesten fortgeschritten ist die interne Verlinkung bei den Geschichtsquellen. Bei den Autorenartikeln weist eine Sektion “Erwähnungen” Nennungen in anderen Artikeln nach. Personen und Werke, auf die Bezug genommen wird, sind über Links zur entsprechenden Suchfunktion verlinkt. Dies betrifft auch Werke, zu denen kein eigener Eintrag vorhanden ist (z.B. “Regula Benedicti”).
Erfreulicherweise setzen die Geschichtsquellen (anders als der Handschriftencensus und NaSo) auf die Personennamendatei PND. Leider bleiben sie aber auf halber Strecke stehen: Weder werden andere Informationsgebote außer der Deutschen Nationalbibliothek, die abgesehen von Wikipedia-Verweisen eine “Sackgasse” darstellt, verlinkt [22] noch existiert zu den Geschichtsquellen eine nachnutzbare BEACON-Datei, was insofern verwundert, als die Bayerische Akademie der Wissenschaften führend bei der Bereitstellung von BEACON-Dateien ist.
Eine solche BEACON-Datei wäre allerdings ziemlich nutzlos, da die Geschichtsquellen den Grundsatz, dass akademische Internetressourcen dauerhafte und stabile Internetadressen haben sollten, ignorieren. Ohne dass dies irgendwie deutlich gemacht wird, gilt: Einträge der Geschichtsquellen sind nicht verlinkbar, da sich die Internetadressen mit jedem Datenbankupdate ändern. Im Februar 2012 abgespeicherte Links funktionieren inzwischen alle nicht mehr! Ich halte dieses Vorgehen der Bayerischen Staatsbibliothek, die für das Angebot der Geschichtsquellen verantwortlich zeichnet, für einen Skandal.
Sehr nützlich ist die vom Handschriftencensus gebotene Möglichkeit, sich bei jedem Titel der Forschungsliteratur ausgeben zu lassen, bei welchen Handschriften sie zitiert wird.
Die Retrodigitalisierung verbessert die Arbeitsbedingungen der Forschung in geradezu dramatischem Ausmaß. Nicht nur weil der Nachweis von Digitalisaten vielfach alles andere als trivial ist, muss die Devise für quellenkundliche Online-Projekte lauten: Alle Digitalisate verlinken! Während NaSo in dieser Beziehung offenbar nichts leistet, ist der Handschriftencensus hier führend. Auch wenn es immer noch Lücken gibt, versucht er konsequent Online-Nachweise zu geben. Um so enttäuschender ist es, dass die Geschichtsquellen nicht einmal diese Nachweise ausgewertet haben, sondern sich bisher im wesentlichen auf Verlinkungen zu Ausgaben und Zeitschriften der MGH sowie auf Inkunabelbibliographien und ADB/NDB-Links beschränken. Abgesehen von diesen “offiziellen” Links werden weitere Internetquellen mit nicht anklickbarer URL zitiert, was völlig inakzeptabel ist.
Dass es an der entsprechenden Verlinkungskompetenz bei den Geschichtsquellen erheblich hapert, beweist der Artikel “Schwäbische Chronik”. Rätselhaft ist, wieso die editio princeps nach dem Wolfenbütteler Digitalisat zitiert wird, nicht aber nach dem Münchener. Zu Hain 10117 wird ein nicht-persistenter Link angegeben:
http://www.digitale-sammlungen.de/~db/0002/bsb00029770/images/
Entweder man zitiert mit Resolver den URN:
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00029770-0
oder man verwendet den persistenten Link der Startseite:
http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00029770/image_1
Das sollte man einem Angebot, für das die Bayerische Staatsbibliothek verantwortlich zeichnet, wirklich nicht erklären müssen.
Bei Hain 4993 steht einfach nur lapidar ohne Link (und daher überhaupt nicht hilfreich): “digital BSB”, eine Angabe, die man sich im korrespondierenden Artikel “Cronica von allen Künig und Kaiseren von Anfang Rom. Auch von viel Geschichten bisz zu unsern Zeiten die geschehen seint” ganz gespart hat - ebenso wie den GW- und BSB-Ink-Link, was einmal mehr die ganz und gar unerfreuliche Uneinheitlichkeit des Datenbestands belegt.
Wünschenswert wäre es, wenn auch die Geschichtsquellen und NaSo Handschriftendigitalisate nachweisen würden, wie es der Handschriftencensus vorbildlich praktiziert. Die entsprechende Liste “Handschriftenabbildungen” dürfte kaum große Lücken haben [23]. Allerdings möchte ich anregen, dass dort zwischen Volldigitalisaten und bloßen Einzelabbildungen unterschieden wird und dass auch bei den Werkübersichten Handschriften mit Teil- bzw. Volldigitalisaten gekennzeichnet werden.
Es ist an der Zeit, dass die mit mittelalterlichen deutschen Quellen befassten Websites, die Digitalisate nachweisen (außer den Geschichtsquellen und dem Handschriftencensus die Regesta Imperii mit ihrem OPAC, die MGH-Bibliothek und das Deutsche Rechtswörterbuch) sich endlich zusammenschließen, um solche Nachweise in einem gemeinsamen, als Open Linked Data zur Verfügung stehenden und auch für Literaturverwaltungsprogramme nachnutzbaren Datenpool zu verwalten. Noch besser wäre es, ein solches Angebot auch für Beiträge aus der Allgemeinheit zu öffnen und mit entsprechenden Bibliotheksangeboten bzw. freien Projekten (Wikipedia, Wikisource) zu verknüpfen.
Der Zitierstil der Geschichtsquellen, der dem schlechten Beispiel des Repertorium fontium folgt, mutet gelinde gesagt etwas hermetisch an und ist alles andere als zukunftstauglich. “A. Grafton , Johannes Trithemius: Magie, Geschichte und Phantasie, Erzählende Vernunft, cur. G. Frank u.a., Berlin 2006, 77-90" ist sonst völlig ungebräuchlich (das “cur” statt des sonst üblichen “ed” ist anscheinend den italienischen Zitiergepflogenheiten geschuldet). Der fehlende Vorname behindert eine künftig wünschenswerte Erstreckung der PND auch auf die Namen von Autoren von Sekundärliteratur. Weder eine bibliographische Webscraping-Anwendung noch ein Nutzer ohne hinreichende Vorkentnnisse kann entscheiden, ob der Titel des Sammelbands nun “Geschichte und Phantasie, Erzählende Vernunft” oder “Erzählende Vernunft” lautet. Bei unselbständiger Literatur sollte man generell mit in/In arbeiten, das in den Geschichtsquellen befremdlicherweise für die Reihenangabe verwendet wird, eine Praxis, die viele Dozenten bei Studierenden als fehlerhaft anstreichen würden.
Abschließend noch ein Hinweis zur Nutzung von RSS: Dass keines der drei Angebote es ermöglicht, alle nicht ganz belanglosen Änderungen via RSS zu beobachten (in der Wikipedia ist ein vergleichbares Feature als “Letzte Änderungen” bekannt), behindert die Forschung, da neue Erkenntnisse/Literatur oder verbesserte Einträge nur dann bekannt werden, wenn man gezielt auf sie zugreift.
6. Fazit
Im digitalen Zeitalter angekommen ist keines der drei Angebote. Es versteht sich von selbst, dass diese so eng wie möglich kooperieren sollten, was bisher noch nicht der Fall ist. Aber bei den höchst bedenklichen inhaltlichen Mängeln der Geschichtsquellen wird dies nicht ausreichen, um mittelfristig wenigstens ein “ausreichend” (um es in Schulnoten zu sagen) zu erzielen. Dass es zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gelingen wird, die angesprochenen erheblichen Schwächen in den nächsten Jahren auszubügeln, halte ich für ausgeschlossen.
Meine These: Ein enzyklopädisches Projekt, das nicht auf namentlich verantwortliche Autoren zurückgreifen kann, muss heute auf Crowdsourcing, also auf das viel geschmähte Mitmach-Web 2.0 setzen, will es nicht ins Hintertreffen geraten. Oder auch kurz: Von der Wikipedia möglichst viel lernen! Im Fall der Geschichtsquellen gilt es ja nicht nur, die unüberschaubaren Neuerscheinungen aus der ganzen Welt kritisch zu sichten, es müssen auch unzählige schlechte Artikel aus dem Repertorium fontium tiefgreifend überarbeitet werden.
Der Handschriftencensus hat sich durchgerungen, aus meiner Sicht vorbildliche “Grundlagen der guten wissenschaftlichen Praxis” in Kraft zu setzen, die nach meiner Einschätzung in der Praxis auch gut funktionieren [24]. Die Geschichtsquellen appellieren zwar an die Wissenschaftler, Ergänzungen und Korrekturen beizusteuern, doch fehlt der Anreiz der Namensnennung.
Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterzeichnete “Berliner Erklärung” für Open Access sieht eindeutig sogenannten “libre Open Access” vor, also frei nachnutzbare Inhalte. Indem alle drei Projekte sich diesem Ziel verweigern, schaden sie dem wissenschaftlichen Fortschritt. Ihre - teils erheblichen - Defizite könnten womöglich rasch überwunden werden, würden sie ihre Daten in jeweils ein Wiki unter freier Lizenz einbringen.
ANMERKUNGEN
[1] Digitalisat: http://books.google.de/books?id=wi8RAAAAYAAJ. Zu späteren Auflagen: http://archiv.twoday.net/stories/16549085/
[2] http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/pageview/3193089. Nachweise von Digitalisaten: http://de.wikisource.org/wiki/Wilhelm_Wattenbach.
[3] Zur Frühgeschichte des Unternehmens vgl. die Anzeige in der Zeitschrift für deutsches Altertum 2001: http://www.zfda.de/beitrag.php?id=8&mode=maphilinet
[4] Zur Geschichte vgl. auch den Artikel von Véronique Lambert: Potthast, Pirenne en de anderen:Historici repertoriëren historici. Online:
http://web.archive.org/web/200012120820/http://allserv.rug.ac.be/~jdploige/sources/6.html
[5] Materialien dazu auf der Website: http://www.repfont.badw.de/
[6] Nachweise von Digitalisaten: http://de.wikisource.org/wiki/August_Potthast
[7] Holder-Egger, NA 29 (1903), S. 516
http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN345858530_0029. Weitere Hinweise zum Direktorium: http://www.mgh-bibliothek.de/cgi-bin/nada/na42.pl?seite=131;
http://books.google.de/books?id=OyNMAAAAcAAJ&&pg=PA392;
[8] http://www.archive.org/stream/2deutschlandsges00wattuoft#page/n13/mode/2up
[9] So Markus Wesche 2004: http://www.repfont.badw.de/AKA05343.pdf
[10] Darauf verweisen auch die wiederholte auftretenden Doppeleinträge in der Literatur-Sektion.
[11]
http://de.wikisource.org/wiki/Geschichtsauffassung_und_Geschichtsschreibung_in_Deutschland_unter_dem_Einfluss_des_Humanismus
[12] http://de.wikisource.org/wiki/Hans_B%C3%B6hm
[13] http://de.wikisource.org/wiki/Schwesternb%C3%BCcher
[14] Vgl. http://archiv.twoday.net/stories/6420201/
[15] http://de.wikisource.org/wiki/Burgunderkriege
[16] http://nt.library.msstate.edu/chronica/
[17] http://www.repfont.badw.de/compendia.pdf
[18] Siehe http://archiv.twoday.net/stories/64979228/, http://archiv.twoday.net/stories/64978917/, http://archiv.twoday.net/stories/64978470/
[19] Online: http://books.google.de/books?id=XUJBAAAAcAAJ&pg=PA130
[20] Siehe den OPAC der Regesta Imperii:
http://opac.regesta-imperii.de/lang_de/suche.php?thes=Albericus+%3CAquensis%3E+%281060-1120%29
[21] http://www.handschriftencensus.de/18578
[22] Zu Johannes Trithemius siehe etwa
http://beacon.findbuch.de/seealso/pnd-aks?format=sources&id=118642960
[23] http://www.handschriftencensus.de/abbildungen
[24] http://www.handschriftencensus.de/regeln
Besprochene Websites:
Repertorium "Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters"
http://www.geschichtsquellen.de
Handschriftencensus. Eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters
http://www.handschriftencensus.de
The Narrative Sources from the Medieval Low Countries
http://www.narrative-sources.be
#forschung
Datenbanken zu mittelalterlichen Geschichtsquellen
Im Jahr 1830 veröffentlichte der Göttinger Professor Friedrich Christoph Dahlmann seine “Quellenkunde der deutschen Geschichte nach der Folge der Begebenheiten” [1], eine Bibliographie zu Quellen und Sekundärliteratur, die später von dem Mediävisten Georg Waitz weitergeführt wurde (“Dahlmann-Waitz”). Die von Hermann Heimpel verantwortete 10. Auflage dieses Werks ist ganz offensichtlich an der Masse des Materials gescheitert. 1858 kam die Erstausgabe von “Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des Dreizehnten Jahrhunderts” von Wilhelm Wattenbach heraus, die kein gelehrtes Repertorium zum Nachschlagen sein wollte, sondern “durch zusammenhängende Darstellung zum eigenen Studium der Quellen anleiten, diesen in Beziehung zu den geschichtlichen Vorgängen [...] ihren Platz anweisen” wollte (Vorrede zur Ausgabe letzter Hand, 1893) [2] Inzwischen haben Robert Holtzmann, Wilhelm Levison, Heinz Löwe und Franz-Josef Schmale dieses Werk fortgeführt, wobei allerdings noch ein Teilband aussteht.
Quellenkunden situieren sich zwischen den beiden dadurch beschriebenen Polen: zwischen bibliographischer Liste und erzählender, einer Literaturgeschichte nahestehender Darstellung. Als deutschsprachiges Meisterwerk kann Alfons Lhotskys “Quellenkunde zur Mittelalterlichen Geschichte Österreichs” (1963) gelten, das sowohl als gelehrtes Nachschlagewerk als auch als einordnende Darstellung unschätzbare Dienste leistet. Während in mittelalterlichen Quellenkunden das einzelne Werk im Vordergrund steht, dominiert in der Neuzeit die Behandlung der Quellentypologie, also der Quellengattungen. Mit dem Sammelband “Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.-18. Jahrhundert)” von 2004 ist auch hier Österreich führend.
Seit Februar 2012 ist das Repertorium “Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters” online. Es liegt nahe, die entsprechende Datenbank der erzählenden Quellen der Niederlande “Narrative Sources” (NaSo) und hinsichtlich der handschriftlichen Überlieferung den “Handschriftencensus” für die deutschsprachige Literatur des Mittelalters vergleichend heranzuziehen. Die kritische Auseinandersetzung mit dem neuen Angebot der “Geschichtsquellen” soll jedoch im Vordergrund stehen.
Die von der Bayerischen Staatsbibliothek verantwortete Website der Geschichtsquellen umfasst ca. 4500 Werk- und 1300 Autoren-Artikel (laut Mail von Roman Deutinger, Bayerische Akademie der Wissenschaften München, vom 27. Februar 2012). Unter “About” findet man in NaSo als Umfangsangabe: ca. 2200 “records”. Den größten Umfang hat der Handschriftencensus: Am 27. Februar 2012 waren 21.576 Signaturen in 1.408 Bibliotheken/Sammlungen (ohne Privatbesitz) registriert, 5.355 Autoren/Werke, davon 1.104 mit Ausgaben sowie 16.150 Titel in der Literaturdatenbank (Mail von Jürgen Wolf, Marburg).
Der Census ist aus Marburger DFG-Projekten zu deutschsprachigen Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts ab 1990 hervorgegangen [3]. Obwohl institutionell an die Marburger Altgermanistik angebunden, wird er formal von einem privaten Wissenschaftlerteam verantwortet. Die ersten Wurzeln von NaSo liegen in den frühen 1980er Jahren, 1995 wurden erste Arbeitsergebnisse der Forschungsprojekte an den Mittelalterinstituten der belgischen Universitäten Gent und Löwen publiziert [4]. Seit 1996 gibt es eine Datenbankversion, seit 2002 kamen mit einem Groninger Projekt auch die heutigen Niederlande hinzu. Für die jetzige Website (seit 2009) zeichnet die Belgische Königliche Historische Kommission als Herausgeber.
Im Vergleich dazu haben die Geschichtsquellen die älteste Tradition. Sie sind ein Projekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und deren Kommission für die Herausgabe des “Repertorium Fontium Historiae Medii Aevi” (der Name wurde inzwischen geändert), eines internationalen Gemeinschaftsunternehmens, das 1953 als Neubearbeitung von August Potthasts “Bibliotheca” angeregt wurde [5]. Die Münchner Kommission existiert seit 1957. Kurz vor dem Abschluss des gedruckten Repertoriums (der letzte Band erschien 2007) begann sie damit, PDFs mit aktualisierten Artikeln aus dem “Repertorium Fontium” ins Netz zu stellen. Die PDFs werden hoffentlich als wissenschaftsgeschichtliche Quellen dort belassen, auch wenn vorgesehen ist, sie nicht mehr zu verändern.
Der Historiker und Bibliothekar August Potthast erarbeitete seine “Bibliotheca Historica Medii Aevi. Wegweiser durch die Geschichtswerke des europäischen Mittelalters” mit stupendem Fleiß. Die Erstausgabe erschien 1862 (mit Supplement 1868), die weit umfangreichere Zweitauflage 1898 [6]. Dieses seinerzeit hoch gerühmte Werk ging allerdings, wie Oswald Holder-Egger einmal notierte, in der Erstausgabe hinsichtlich vieler Artikel auf das Potthast von Georg Heinrich Pertz übergebene “Direktorium” der Scriptores der Monumenta Germaniae historica zurück, für dessen Bearbeitung Pertz 1823 den Wolfenbütteler Oberbibliothekar Ebert verpflichtet hatte. Dieses Verzeichnis sollte die handschriftliche Überlieferung und die Abdrucke der erzählenden Quellen nachweisen (samt den “Hülfsmitteln”, also der Sekundärliteratur), aber auch die benutzten Quellen und die Rezeption der Werke [7]. Mit Blick auf dieses nie gedruckte Direktorium wollte Wattenbach 1858 den bibliographischen Apparat seiner Quellenkunde schlank halten [8].
1. Vollständigkeit
Es stellt einen gravierenden Mangel aller drei Angebote dar, dass die Aufnahmekriterien der behandelten Werke nicht offengelegt oder diskutiert werden.
Während die Geschichtsquellen (wie der Potthast) die Grenze bei 1500 ziehen, berücksichtigt NaSo noch die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, und auch der Census geht vielfach ins 16. Jahrhundert hinein.
NaSo bezieht sich auf den historischen Raum der mittelalterlichen Niederlande (außer Belgien und den heutigen Niederlanden Teile Nordwestdeutschlands und Frankreichs). Der Handschriftencensus braucht sich auf den ersten Blick in dieser Beziehung mit keiner Abgrenzung zu quälen: Alle althochdeutschen, mittelhochdeutschen/frühneuhochdeutschen und mittelniederdeutschen Zeugnisse (um nur die wichtigsten Sprachstufen zu nennen) werden berücksichtigt, auch wenn sie beispielsweise im heutigen Rumänien (Siebenbürgen) oder in Estland niedergeschrieben wurden. Unklar bleibt freilich die Einbeziehung mittelniederländischer Texte und Handschriften. Man darf vermuten, dass sich der Census am Verfasserlexikon (2. Auflage) orientiert hat, das in Bd. 1, 1978 die Berücksichtigung solcher Autoren versprach, die in den nieder- und hochdeutschen Sprachraum hineingewirkt haben. Recht forsch wollen die Geschichtsquellen all das aufnehmen, “was für die Geschichte des deutschen Reiches im Mittelalter einschlägig ist” [9]. Dass hier hinsichtlich der Bestimmung des “deutschen Reiches”ein Rattenschwanz methodischer Probleme wartet, braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden. Vor dem 10. Jahrhundert gab es ja eigentlich kein “deutsches Reich”.
Noch problematischer ist freilich die Festlegung, welche Textgattungen aufgenommen werden. Im Fall des Handschriftencensus bereitet natürlich vor allem das spätmittelalterliche Geschäftsschriftgut Probleme. Frühe volkssprachige Urbare sind vertreten, solche aus dem 14./15. Jahrhundert eher nicht. Deutsche “urkundliche” Aufzeichnungen etwa in städtischen Amtsbüchern werden nicht berücksichtigt, während dort überlieferte “literarische” Texte (einschließlich Fachprosa) durchaus zu finden sind. NaSo scheint davon auszugehen, dass die Definition von “erzählenden Quellen” eher trivial ist: “all texts which describe the past in a narrative way: annals, chronicles, letters, diaries, poems, saint's lives, genealogies etc.”. Das sind im wesentlichen historiographische Gattungen, wobei dies natürlich die Frage aufwirft, was im Mittelalter als “Geschichtsschreibung” zu gelten hat.
Das Repertorium Geschichtsquellen des deutschen Mittelalter sei “ein bibliographisches und quellenkundliches Nachschlagewerk auf digitaler Grundlage zu den erzählenden Geschichtsquellen des mittelalterlichen Deutschen Reiches für die Zeit von ca. 750 bis 1500", liest man auf der Startseite. Möglicherweise hängt es mit der hastigen Online-Veröffentlichung des Angebots [10] zusammen, dass man sich nicht die Mühe gemacht hat, die entsprechenden .lateinischen Passagen aus dem “Prooemium” im letzten Band des gedruckten “Repertorium fontium” zu übersetzen oder auf Deutsch zu referieren. Selbstverständlich ist es grob irreführend zu sagen, dass es nur um die erzählenden Geschichtsquellen geht, denn tatsächlich finden sich Beispiele der im Prooemium aufgezählten anderen Gattungen sehr wohl in den Geschichtsquellen: Rechtsquellen, Briefe und Briefsammlungen, poetische Texte, Hagiographisches, Konzils- und Synodalakten, wirtschaftsgeschichtliche Quellen, ein Kessel Buntes zur Kultur- und Sittengeschichte (was auf Latein wesentlich weniger entlarvend klingt: “Fontes de historia morum et doctrinarum”), Memorialquellen, arabische, jüdische und türkisch-osmanische Quellen zur europäischen Geschichte sowie lateinische Interpreten arabischer, griechischer und jüdischer Werke. Dabei ist stets an eine Auswahl des Wertvollsten gedacht, also solcher Werke, die wirkliche Geschichtsquellen sind.
Aber was um Himmels willen sind wirkliche Geschichtsquellen? Hinter dem gedruckten Repertorium und damit auch hinter den digitalen Geschichtsquellen steht die zutiefst fragwürdige traditionelle Konzeption der Ereignisgeschichte, der es primär um die Taten der Kaiser und Könige ging. Quellen, die zur faktographischen Erkenntnis beitragen konnten, wurden als wertvoll eingeschätzt, die anderen missachtet (und in Editionen oftmals nur gekürzt abgedruckt). Auch wenn in Wattenbachs Quellenkunde eine gehörige Prise Geistesgeschichte vorhanden ist, sind seine Wertungen überwiegend diesem, inzwischen weitgehend überwundenem Ansatz verpflichtet. Noch 1910 formulierte Paul Joachimsen: “Daß es für den historiographischen Wert eines Geschichtswerkes gleichgültig ist, ob es für seine Zeit oder eine frühere sonst unbekannte Nachrichten bietet, ja sogar ob es vom Standpunkt unsrer heutigen Kenntnis historisch Richtiges enthält, diese Auffassung ist noch weit von allgemeiner Geltung entfernt.” [11].
Wer heutzutage für einen erweiterten Quellenbegriff plädiert, rennt dagegen weit offene Türen ein. Das gilt aber nicht für die Geschichtsquellen, die nach wie vor dem obsoleten Quellenbegriff anhängen. Dies mag ein kleines Zitate-Florilegium demonstrieren: “laut Friedlaender erst Mitte 12. Jh. in Magdeburg aus älteren Quellen unter legendarischer Ausschmückung kompiliert und folglich historisch wertlos; diese Meinung blieb jedoch nicht unwidersprochen.” - “Kurze Briefe von geringem Quellenwert” - “Das Werk stammt von einem anonymen, wohl aus Hamburg stammenden Verfasser und ist ohne eigenständigen Quellenwert, da es im Grunde nur die Darstellungen in der Historia Ottonis des Liutprand von Cremona (PND118575171) und im Chronicon sive Gesta Saxonum des Thietmar von Merseburg (PND118757083) nachschreibt” - “Von geringer historischer Glaubwürdigkeit.” - “Die Chronik bietet, im Anschluß an ein Nekrolog, etwa 30 annalistische Notizen zu den Jahren 1101-1344, von denen nur die jüngeren historischen Wert haben.” Der kulturhistorische oder geistesgeschichtliche Erkenntniswert historischer Zeugnisse - und damit der Erkenntnisfortschritt der letzten Jahrzehnte - wird offenkundig ignoriert, wenn historischer Wert mit ereignisgeschichtlichem Nachrichtenwert gleichgesetzt wird.
Der unglaublich naive Ansatz der Repertoriums-Verantwortlichen, man könne in Fortführung der Zusammenstellung des - einseitig im Sinne der faktographischen Konzeption wertenden - August Potthast den klassischen Quellenkanon durch geistes- und kulturgeschichtliche Alibi-Texte erweitern und damit den bibliographischen Auftrag erfüllen, konnte nicht funktionieren. Die Vielfalt der vom Historiker heranzuziehenden Quellen hat Lhotsky in seiner bereits erwähnten Quellenkunde eindrucksvoll gesichtet, bevor er sich im Hauptteil den erzählenden Quellen zuwandte. Aus meiner Sicht ist Meister Albrants Roßarzneibuch mit weit über 200 Handschriften eine wichtigere Geschichtsquelle als alle penibel aufgelisteten früh- und hochmittelalterlichen lateinischen Dedikationsnotizen im “Repertorium” zusammen.
Nun könnte man ja mit gewissen konzeptionellen Mängeln leben, wenn eine kluge Auswahl getroffen worden wäre. Davon kann aber nicht die Rede sein. Als Ganzes sehe ich das gedruckte Repertorium - der erste Band erschien 1962, das letzte Heft von Bd. 11 2007 - als gescheitert an. Die Qualität reicht längst nicht an von verschiedenen Autoren erstellten Sammelwerke wie das Verfasserlexikon oder das Lexikon des Mittelalters heran. Das Repertorium ist kein wirklich gutes Nachschlagewerk, wenngleich ich zugeben muss, dass die letzten Bände erheblich besser sind als die ersten und ich mitunter den PDFs der Geschichtsquellen wertvolle Hinweise entnehmen konnte. Bei früh- und hochmittelalterlichen Quellen scheint mir die Qualität höher zu sein als bei den späteren.
Dass im Früh- und Hochmittelalter hagiographische Quellen zu den wichtigsten Geschichtsquellen überhaupt gehören, ist eine Binsenweisheit. Da so ziemlich alle keinem Verfasser zuweisbaren Viten in einen Nachtragsband verschoben wurden, ist das Repertorium schon aus diesem Grund ein unbrauchbarer Torso. Ich muss gestehen, dass ich lange gebraucht habe, bis ich in der Vorrede von Bd. 10 (2005), S. VI auf den versteckten Hinweis stieß, die “ingens moltitudo” habe dazu bewogen, die Viten zurückzustellen. Irritierenderweise gibt es einige wenige Viten (auch Heiligenviten!) unter V. Und dort steht keine Silbe über die Entscheidung, ebenso wenig wie beim Buchstaben S (es war vorgesehen, alle Heiligenviten unter Sanctus zu versammeln) oder in der Vorrede zum letzten Band. Man wusste aber doch von Anfang an, wie umfangreich das hagiographische Korpus ist, denn in Potthasts Bibliotheca nahm es bereits immensen Raum ein. Und sehr viele neue Texte sind zwischenzeitlich auch nicht bekannt geworden. Nichts verdeutlicht mehr das Desaster - man mag auch sagen: die Steuergeldverschwendung - des gedruckten Repertoriums als diese unglaubliche Entscheidung, die hochwichtigen hagiographischen Quellen erst einmal wegzulassen, damit man das allzu lang sich hinziehende Werk überhaupt abschließen konnte.
Das ist aber nur die größte Lücke. Ich muss mich auf wenige Beispiele beschränken. Der wichtige dämonologische Traktat des Abts Richalm von Schöntal wurde 2009 in der MGH-Reihe der “Quellen zur Geistesgeschichte” ediert - für die Geschichtsquellen existiert er nicht (obwohl er in einem alten Druck von Pez vorlag). Schriften von Job Vener (in einer Erwähnung zu “Jobst” verballhornt) oder Winand von Steeg: Fehlanzeige! Unausgewertet blieb etwa der Sammelband “Die Quellen der Geschichte Österreichs” (1982), in dem man etwa Nachweise zum Tagebuch des Ulrich Putsch oder zur Vorarlberger Chronik des Ulrich Tränkle (beide Werke fehlen) hätte finden können. Bei den historischen Liedern wurde nur eine lächerlich kleine, offenbar ohne Sinn und Verstand getroffene Auswahl berücksichtigt (wovon man sich mittels der Volltextsuche nach Liliencron überzeugen kann). Von den Liederdichtern der Burgunderkriege sind nur Veit Weber und Judenfint (so ist wohl statt Judensint zu lesen, die Geschichtsquellen haben: Judensit) vertreten. Unverzeihlich erscheint mir das Fehlen des Gedichts “Die Niklashauser Fahrt”[12]. Ist Püterichs Ehrenbrief womöglich nur für Germanisten wichtig, nicht aber für Historiker? Von den neun Schwesternbüchern aus oberdeutschen Dominikanerinnenklöstern [13] finden sich nur drei in den Geschichtsquellen. Wieso fehlen die Briefe Wigos von Feuchtwangen aus dem Ende des 10. Jahrhunderts? Wieso wurde der “Traum” des Wolf von Hermannsgrün, eine “politische Denkschrift” von 1495, übergangen?
Fragwürdig sind auch viele Entscheidungen, aus dem Gesamtwerk von Autoren einseitig das zu bevorzugen, was dem engen, um nicht zu sagen engstirnigen Begriff einer historischen Quelle entspricht. Mit welchem Recht greift man aus dem Oeuvre des sogenannten Konrad von Hirsau nur seine Literaturgeschichte als historisch bedeutsam heraus? Bei dem Konstanzer Konrad Grünenberg wird sein Reisebericht und eine - eher belanglose - Chronikbearbeitung berücksichtigt, nicht aber das berühmte Wappenbuch - während das kaum bekannte Wappenbuch Edlibachs in den Geschichtsquellen vertreten ist! Bei dem Oeuvre des Ulrich Molitoris hätte man mindestens auch das “Somnium”, das sich auf den Konstanzer Bistumsstreit bezieht, berücksichtigen müssen.
Wer weitere Belege für die Willkür der Auswahl bei den nicht-erzählenden Quellen braucht, kann sich der Suchfunktion (Filter “Gattung”) bedienen. Was unter “Wirtschaft/Verwaltung” zusammengewürfelt wurde, ist mehr als peinlich: ein Sammelsurium, dessen Nutzen nicht erkennbar ist. Was fängt man mit einigen Lehenbüchern, mit einer Handvoll Rechnungsaufzeichnungen an? Wieso ist das Runtingerbuch wichtiger als das Habsburgische Urbar? (Güterverzeichnisse sind so gut wie nicht vertreten.)
Eine Literaturgeschichte darf sich auf eine gut durchdachte Auswahl stützen. Von einer Quellenkunde zur mittelalterlichen Geschichte darf man zwar nicht Lückenlosigkeit verlangen, wohl aber, dass sie den Ratsuchenden nicht mit einer ganz und gar veralteten Auffassung dessen, was für den Historiker als Quelle wichtig ist, bevormundet.
2. Der Aufbau der Einträge
Während NaSo Datierung (Jahrhundert), Gattung, Sprache und Incipit/Explicit in einem auffälligen roten Feld auf der rechten Seite platziert, verzichten die Geschichtsquellen und der Handschriftencensus ganz auf grafische Elemente.
Da der Census ein Handschriftenrepertorium ist, sind hinsichtlich des Aufbaus der Einträge nur NaSo und die Geschichtsquellen direkt vergleichbar. Der Handschriftencensus verzichtet ganz auf jegliche Angaben zu den überlieferten Werken selbst. Man erfährt also noch nicht einmal ihre Datierung. Da durchaus nicht alle Werke im Verfasserlexikon enthalten sind, sind solche Daten durchaus nicht entbehrlich.
Der Kopfteil von NaSo beginnt mit knappen Angaben zum jeweiligen Autor, gefolgt von Grunddaten des Textes (Lokalisierung, Datierung, Widmung), einer Umfangsangabe, Angaben zum Kontext (selten ausgefüllt) und einer kurzen Charakteristik des Textes. Der Hauptteil besteht aus folgenden Kategorien (englische Version): Sources, Influence (also Rezeption), Manuscripts, Translations, Editions, Literature und Links. Dagegen ist der Aufbau der Geschichtsquellen-Artikel wesentlich weniger formalisiert. Autoren- und Werkseiten werden hier getrennt. Auf eine Kurzinformation zum Werk folgen Angaben zu den Handschriften, den Ausgaben/Übersetzungen und zur Literatur. Häufig unbefriedigend ist die Trennung zwischen der allgemeinen Literatur (Comm. Gen.) und der Spezialliteratur zum Werk.
Zwar entspricht die Berücksichtigung von Quellen und Rezeption in NaSo der Konzeption des erwähnten MGH-Direktoriums, doch ist verständlich, dass die Geschichtsquellen den erheblichen Problemen der Operationalisierung dieser Forderung ausgewichen sind.
Lhotskys Quellenkunde gab 1963 den Textbeginn der behandelten Werke an. In über 300 Einträgen der Geschichtsquellen findet sich die Zeichenfolge inc, also die Angabe eines Incipits, häufig bei Versdichtungen und dort oft mit einem Nachweis aus Walthers Initia verbunden. Dagegen finden sich Incipit-Angaben nur vereinzelt im Handschriftencensus. Dringend wünschenswert wäre, dass die Textanfänge auch als separate Liste auf einer einzelnen Seite zur Durchsicht bereitgestellt und in eine Open-Access-Initien-Datenbank eingespeist würden.[14].
Dass die Textüberlieferung einen zentralen Aspekt der mittelalterlichen Literatur darstellt, ist eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Einsicht der überlieferungsgeschichtlichen Methode der Altgermanistik, der im Verfasserlexikon und im Handschriftencensus Rechnung getragen wurde. Auch in meinem Versuch einer überlieferungsgeschichtlichen Quellenkunde der Burgunderkriege [15] habe ich viel Wert auf den Nachweis der Handschriften gelegt. Die Geschichtsquellen haben versucht, Handschriften stärker zu berücksichtigen als in älteren Quellenkunden üblich - sei es durch die explizite Nennung von Handschriften (eher selten), sei es durch Hinweise auf Literatur zur handschriftlichen Überlieferung. Es sollte aber angestrebt werden, konsequent zu jedem Werk die gesamte handschriftliche Überlieferung anzugeben, wie dies offensichtlich die Konzeption von NaSo ist. Nur der Handschriftencensus gibt an, wenn die bekannte Gesamtüberlieferung erfasst ist. Die Geschichtsquellen bemerken, wenn nur eine einzige Handschrift das Werk überliefert. Welchen Umfang die Überlieferung hat, wäre durchaus eine wichtige Information.
NaSo hat zu jeder Handschrift eine eigene Seite, auf der rechts im roten Kasten die Datierung angegeben werden soll. Aufgeführt werden sollen die überlieferten Werke (aus dem NaSo-Bestand) mit Blattangaben, doch meistens fehlen diese (und auch die Datierung). Anders als beim Handschriftencensus, der ja die Handschriften in den Mittelpunkt stellt, vermisst man Links zu Handschriftenkatalogen und anderen Beschreibungen. Es wäre an der Zeit, ein als Wiki konzipiertes internationales Äquivalent zum Handschriftencensus für die lateinischen Handschriften ins Leben zu rufen. Dadurch könnten auch die vielen Handschriftenbeschreibungen in den Editionen, Schriftenreihen und Zeitschriften der MGH, zu denen es keinen Gesamtindex gibt, erschlossen werden. Vergleichsweise nutzlos ist dagegen das seit 2007 offenbar nicht mehr gepflegte “Repertorium Chronicarum” im Internet, eine Kompilation zur handschriftlichen Überlieferung lateinischer mittelalterlicher Chroniken ohne jegliche Quellenangaben [16].
Ärgerlicherweise bietet der Handschriftencensus bei vielen Handschriften nicht einmal die Grunddaten der Schlagzeile eines modernen Handschriftenkatalogs. Mitunter erfährt man nur die Signatur der Handschrift und eine Literaturangabe. Schreibernamen, Schreiborte und Provenienzen werden von den Verantwortlichen des Census viel zu oft unterschlagen.
Bei den Formalien sind die Literaturangaben des Census dagegen vorbildlich. Die Literaturangaben enthalten die Vornamen der Autoren, und die Anzahl der Abkürzungen (4) kann vernachlässigt werden. Während NaSo anscheinend auf Abkürzungen verzichtet, haben die Geschichtsquellen leider noch nicht begriffen, dass Abkürzungen im Internet nicht nur unnötig sind, sondern auch der Auffindbarkeit in Suchmaschinen schaden. Wie übereilt der Datenbestand ins Internet gestellt wurde, zeigt sich auch am Fehlen eines Abkürzungsverzeichnisses. Es gibt zwar ein solches für das Repertorium fontium auf der Kommissions-Website [17], aber in diesem fehlen die Abkürzungen jüngerer Werke wie “Encycl. Chron.” .oder “CALMA”.
Die chronologische Anordnung der Literaturangaben in den beiden deutschsprachigen Angeboten ist nur zu begrüßen, da sie die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung spiegelt. NaSo ordnet leider alphabetisch.
3. Zuverlässigkeit
Fehlerlosigkeit wird man bei solchen quellenkundlichen Verzeichnissen nicht erwarten dürfen. Es gab den einen oder anderen groben Schnitzer im Handschriftencensus, und außerhalb der ohne Zweifel sich auf die mittelhochdeutsche Klassik beziehende Kernkompetenz findet man unzählige Lücken sowohl hinsichtlich der Erfassung der Überlieferung als auch bei den Literaturangaben. Während mir für ein Urteil über NaSo die Kenntnis der behandelten Werke und der Überblick über den Gesamtbestand fehlt, lassen mich meine Beobachtungen zu den Geschichtsquellen zu einem weitgehend negativen Resultat kommen. Meine Sondierungen ergaben einen hohen Anteil von fehler- und lückenhaften Artikeln.[18]. Um nur ein Beispiel aus dem Hochmittelalter herauszugreifen: Bei den Reiserechnungen des Passauer Bischofs Wolfger steht die maßgebliche Ausgabe von Heger nur unter der Literatur, nicht unter den Ausgaben. Die Seitenzahl bei Haider ist falsch (richtig: 45), die Stelle in Lhotskys Quellenkunde S. 122 fehlt. Anzugeben gewesen wäre auch der im Wikipedia-Artikel zum Bischof genannte Sammelband “Der achthundertjährige Pelzrock” (2005), dessen Titel auf den berühmtesten Eintrag dieser Quelle, das Lebenszeugnis Walthers von der Vogelweide, anspielt.
Die Geschichtsquellen sind eine ganz und gar uneinheitliche Kompilation mit im wesentlichen drei Bearbeitungsschichten: aus dem gedruckten Repertorium fontium übernommene Artikel (nicht selten von zweifelhafter Qualität), für die PDFs neu bearbeitete Artikel und jüngste Ergänzungen für die digitale Version. Ärgerlicherweise wird der jeweilige Bearbeitungsstand nicht angegeben.
Ein Akademieprojekt, das ja höchsten Ansprüchen genügen muss, hat zwingend systematisch und konsequent zu arbeiten. Ein zitiertes Nachschlagewerk oder eine angeführte Arbeit der Sekundärliteratur muss für alle in Betracht kommenden Artikel erschöpfend ausgewertet werden.
Der Handschriftencensus versucht zwar, diese methodische Maxime zu verwirklichen, hat aber in dieser Beziehung durchaus Defizite. So darf man etwa keineswegs damit rechnen, dass alle Überlieferungsangaben des Verfasserlexikons ausgewertet wurden. Im Vergleich zu den Geschichtsquellen ist aber der Handschriftencensus ein Muster an Konsequenz, denn allzu oft muss man bei den Geschichtsquellen feststellen, dass Vorlagen nur punktuell ausgewertet wurden. Das betrifft auch die Berücksichtigung von NaSo und Handschriftencensus. Selbst das Verfasserlexikon ist nicht konsequent erfasst (während die eher schlechte The Encyclopedia of the Medieval Chronicle fast lückenlos vertreten ist). Auch bei anderen Nachschlagewerken wie dem Lexikon des Mittelalters, dem Bautzschen Kirchenlexikon oder dem Lexikon für Theologie und Kirche ergibt sich das gleiche Bild. Killys Literaturlexikon wird zu genau einem Artikel zitiert. Die Arbeit von Brigitte Schürmann zur Rezeption Ottos von Freising behandelt 23 Autoren, zitiert ist sie nur bei sieben. Die Studie von Schweers über Albrecht von Bonstetten ist in 15 Artikeln präsent, unverständlicherweise aber nicht bei Konrad Wenger, bei dem ein peinlich veralteter Kenntnisstand vorliegt. Zu Bernhard von Uissigheim gibt es einen Artikel im “Historischen Lexikon Bayerns” (ein Online-Angebot aus dem dem gleichen Haus), der nicht berücksichtigt wird. Man könnte endlos weiterlamentieren!
Ein mir von der Wikipedia wohlbekanntes Phänomen ist das Ergänzen von Literaturangaben, ohne die Implikationen für den Rest des Artikels zu beachten. Während der Handschriftencensus hier in der Regel sauber arbeitet, begegnet diese den Leser irreführende Arbeitsweise in den Geschichtsquellen auf Schritt und Tritt. Zum “Chronicon Schlierseense” wird die Neubearbeitung des Verfasserlexikons zitiert, dem man hätte entnehmen müssen, dass die lateinische Fassung des Werks sehr wohl ediert ist (von Obernberg 1804 [19]). Bei der deutschsprachigen ‘Aachener Chronik’ wird zwar der Handschriftencensus angeführt, der dort angegebene Verfasserlexikonsartikel von 1978 aber ignoriert. Die dort aufgeführten Aufsätze von Pauls 1913 (mit Ergänzungen zur Ausgabe) und Meuthen 1965 (eine Übersicht zur Aachener Historiographie und von daher besonders relevant) sind unverzichtbar. Sie fehlen in den Geschichtsquellen (während die enttäuschende Quellenkunde Dotzauers, die hier ganz nutzlos ist, zitiert wird; wie die Volltextsuche zeigt, glücklicherweise aber nur dieses eine Mal). Zur Hofordnung Markgraf Johanns von Brandenburg ist nun maßgeblich die Stellungnahme in der Edition Thumsers, die aber unter der allgemeinen Literatur zu Ludwig von Eyb dem Älteren fehlt (sie ist nur bei den einzelnen Werken vermerkt). Es hätte demnach auch notiert werden müssen, dass die Verfasserschaft Eybs nach Thumser eher zweifelhaft ist. Wenn man die zum Hexenhammer zitierte neuere Sekundärliteratur auch nur ansatzweise gesichtet hätte, hätte auffallen müssen, dass es neben der alten schlechten Übersetzung von Schmidt eine neue von Behringer/Jerouschek/Tschacher (ebenfalls bei dtv) gibt und das schon seit zwölf Jahren.
Bei nicht wenigen Autoren kann man NaSo und die Geschichtsquellen direkt vergleichen. Bei “Albert von Aachen” stellt man fest, dass beide Projekte Mängel bei der bibliographischen Erfassung aufweisen. NaSo hat Titel, die den Geschichtsquellen fehlen und umgekehrt, wobei zu beachten ist, dass NaSo generell dazu neigt, auch eher unerhebliche Erwähnungen in Lexika oder Sekundärliteratur aufzunehmen. Die Sprachgrenze ist zugleich auch eine Wissenschaftsgrenze: NaSo übersieht deutschsprachige Literatur, die Geschichtsquellen fremdsprachige Arbeiten. Befremdlich ist, dass NaSo den “Essai critique sur la chronique d'Albert d'Aix” (von den Geschichtsquellen wird der Titel falsch zitiert) nicht aufführt. Und es gibt offenkundig einschlägige Literatur, die beiden Angeboten fehlt, etwa Carrier 2008 [20] und einen in der englischsprachigen Wikipedia verzeichneten Titel von Edgington 1998. Unvermeidlich sind anscheinend Entstellungen von deutschen Autorennamen (Khün bei NaSo) und Falschzitierungen. Bei den Seitenangaben von Menzel 1992 hat NaSo “ 44197" statt “1-21". Kühn 1887 zitieren beide nicht korrekt. NaSo hat nur die Anfangsseite 543, während die Geschichtsquellen die Titelseite 543 unterschlägt.
Oft regiert das leidige Prinzip “Regionalia non leguntur” (Franz Staab) die bibliographischen Angaben der Geschichtsquellen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Geschichtsquellen übergehen die Reutlinger Lokalliteratur zu Hugo Spechtshart (anders als der Handschriftencensus [21]). Aber auch überregionale Literatur älteren Datums wird häufig nicht berücksichtigt, obwohl sie nach wie vor von großer Bedeutung für die Forschung ist. Ausgesprochen schlecht ist die Information über “Jacobus de Moguntia” in den Geschichtsquellen. Man sollte in jedem Fall erfahren, dass er hauptsächlich aufgrund der Naukler-Exzerpte im 19. Jahrhundert viel diskutiert wurde, und eine Auflistung der einschlägigen Studien ist keinesfalls entbehrlich. Unter keinen Umständen hätte die Monographie von Wichert fehlen dürfen. Da es zur MGH-Ausgabe des Matthias von Neuenburg keine Einleitung gibt, ist es inakzeptabel, nur eine Auswahl der älteren Literatur anzuführen. Die gleiche Beobachtung lässt sich auch bei Eberhard Windeck (so das Verfasserlexikon, der Handschriftencensus und die Ansetzungsform der PND - die Geschichtsquellen haben: Windecke) machen. Es ist wohl kein Zufall, dass dies spätmittelalterliche Autoren sind; bei dem vorhin genannten Albert von Aachen konnte ich keine solche Lücken ausmachen.
4. Suchfunktion
Die beste Suchfunktion bieten die Geschichtsquellen. Neben der Volltextsuche gibt es Suchfelder, die kombiniert werden können. Vorgegebene Filter - Schlagwörter, Gattungen, Regionen (unterschieden werden solche vor und nach 1200) - sind ausgesprochen nützlich. So kann man sich etwa die in Bayern 1300-1500 entstandenen Quellen aus dem Zisterzienserorden ausgeben lassen. Allerdings ist die Verschlagwortung wenig zuverlässig, so dass man sicherheitshalber immer ergänzend die Volltextsuche nutzen sollte. Weshalb man die Annales Hirsaugienses des Trithemius unter dem Quellenort Hirsau findet, nicht aber das vorangegangene Chronicon Hirsaugiense des gleichen Autors, leuchtet nicht ein. Ebenso befremdlich: Die Theoger-Vita wird Hirsau zugewiesen, die Werke Konrads von Hirsau aber nicht.
Ähnliche Suchmöglichkeiten finden sich in NaSo vor. Technisch inakzeptabel ist freilich die Optimierung zugunsten des Internet Explorers, was unter anderem zur Folge hat, dass bei der Nutzung von Chrome herbe Einschränkungen bei der Suche bestehen.
Am wenigsten befriedigend sind die Suchmöglichkeiten im Handschriftencensus. Da Google nicht alle Beschreibungen erfasst und es noch nicht einmal eine übergreifende Volltextsuche gibt, sind beispielsweise manche Provenienzangaben nicht auffindbar. Differenzierte Suchen wurden nur für die Teilrepertorien bis 1400 realisiert, aber auch hier vermisst man eine Volltextsuche.
5. Vernetzung
Die Zukunft der Quellenkunde ist digital. Das Hyperlink-Prinzip ermöglicht dem Benutzer den sofortigen Zugriff auf andere Teile des gleichen Angebots (interne Verlinkung) und auf die nachgewiesenen Handschriften, Drucke, Ausgaben und Sekundärliteratur (externe Verlinkung), wobei bereits heute ein nicht unbeträchtlicher Teil vor allem der älteren Ressourcen online und Open Access zur Verfügung steht.
Hinsichtlich interner Links ist NaSo das Schlusslicht: Querverweise sind, soweit ersichtlich, nie als Links realisiert. Kaum interne Links weist der Handschriftencensus aus, obwohl es dringend wünschenswert wäre, vom einzelnen Handschrifteneintrag mit einem Klick zu den Einträgen mit den überlieferten Texten zu kommen. Am weitesten fortgeschritten ist die interne Verlinkung bei den Geschichtsquellen. Bei den Autorenartikeln weist eine Sektion “Erwähnungen” Nennungen in anderen Artikeln nach. Personen und Werke, auf die Bezug genommen wird, sind über Links zur entsprechenden Suchfunktion verlinkt. Dies betrifft auch Werke, zu denen kein eigener Eintrag vorhanden ist (z.B. “Regula Benedicti”).
Erfreulicherweise setzen die Geschichtsquellen (anders als der Handschriftencensus und NaSo) auf die Personennamendatei PND. Leider bleiben sie aber auf halber Strecke stehen: Weder werden andere Informationsgebote außer der Deutschen Nationalbibliothek, die abgesehen von Wikipedia-Verweisen eine “Sackgasse” darstellt, verlinkt [22] noch existiert zu den Geschichtsquellen eine nachnutzbare BEACON-Datei, was insofern verwundert, als die Bayerische Akademie der Wissenschaften führend bei der Bereitstellung von BEACON-Dateien ist.
Eine solche BEACON-Datei wäre allerdings ziemlich nutzlos, da die Geschichtsquellen den Grundsatz, dass akademische Internetressourcen dauerhafte und stabile Internetadressen haben sollten, ignorieren. Ohne dass dies irgendwie deutlich gemacht wird, gilt: Einträge der Geschichtsquellen sind nicht verlinkbar, da sich die Internetadressen mit jedem Datenbankupdate ändern. Im Februar 2012 abgespeicherte Links funktionieren inzwischen alle nicht mehr! Ich halte dieses Vorgehen der Bayerischen Staatsbibliothek, die für das Angebot der Geschichtsquellen verantwortlich zeichnet, für einen Skandal.
Sehr nützlich ist die vom Handschriftencensus gebotene Möglichkeit, sich bei jedem Titel der Forschungsliteratur ausgeben zu lassen, bei welchen Handschriften sie zitiert wird.
Die Retrodigitalisierung verbessert die Arbeitsbedingungen der Forschung in geradezu dramatischem Ausmaß. Nicht nur weil der Nachweis von Digitalisaten vielfach alles andere als trivial ist, muss die Devise für quellenkundliche Online-Projekte lauten: Alle Digitalisate verlinken! Während NaSo in dieser Beziehung offenbar nichts leistet, ist der Handschriftencensus hier führend. Auch wenn es immer noch Lücken gibt, versucht er konsequent Online-Nachweise zu geben. Um so enttäuschender ist es, dass die Geschichtsquellen nicht einmal diese Nachweise ausgewertet haben, sondern sich bisher im wesentlichen auf Verlinkungen zu Ausgaben und Zeitschriften der MGH sowie auf Inkunabelbibliographien und ADB/NDB-Links beschränken. Abgesehen von diesen “offiziellen” Links werden weitere Internetquellen mit nicht anklickbarer URL zitiert, was völlig inakzeptabel ist.
Dass es an der entsprechenden Verlinkungskompetenz bei den Geschichtsquellen erheblich hapert, beweist der Artikel “Schwäbische Chronik”. Rätselhaft ist, wieso die editio princeps nach dem Wolfenbütteler Digitalisat zitiert wird, nicht aber nach dem Münchener. Zu Hain 10117 wird ein nicht-persistenter Link angegeben:
http://www.digitale-sammlungen.de/~db/0002/bsb00029770/images/
Entweder man zitiert mit Resolver den URN:
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00029770-0
oder man verwendet den persistenten Link der Startseite:
http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00029770/image_1
Das sollte man einem Angebot, für das die Bayerische Staatsbibliothek verantwortlich zeichnet, wirklich nicht erklären müssen.
Bei Hain 4993 steht einfach nur lapidar ohne Link (und daher überhaupt nicht hilfreich): “digital BSB”, eine Angabe, die man sich im korrespondierenden Artikel “Cronica von allen Künig und Kaiseren von Anfang Rom. Auch von viel Geschichten bisz zu unsern Zeiten die geschehen seint” ganz gespart hat - ebenso wie den GW- und BSB-Ink-Link, was einmal mehr die ganz und gar unerfreuliche Uneinheitlichkeit des Datenbestands belegt.
Wünschenswert wäre es, wenn auch die Geschichtsquellen und NaSo Handschriftendigitalisate nachweisen würden, wie es der Handschriftencensus vorbildlich praktiziert. Die entsprechende Liste “Handschriftenabbildungen” dürfte kaum große Lücken haben [23]. Allerdings möchte ich anregen, dass dort zwischen Volldigitalisaten und bloßen Einzelabbildungen unterschieden wird und dass auch bei den Werkübersichten Handschriften mit Teil- bzw. Volldigitalisaten gekennzeichnet werden.
Es ist an der Zeit, dass die mit mittelalterlichen deutschen Quellen befassten Websites, die Digitalisate nachweisen (außer den Geschichtsquellen und dem Handschriftencensus die Regesta Imperii mit ihrem OPAC, die MGH-Bibliothek und das Deutsche Rechtswörterbuch) sich endlich zusammenschließen, um solche Nachweise in einem gemeinsamen, als Open Linked Data zur Verfügung stehenden und auch für Literaturverwaltungsprogramme nachnutzbaren Datenpool zu verwalten. Noch besser wäre es, ein solches Angebot auch für Beiträge aus der Allgemeinheit zu öffnen und mit entsprechenden Bibliotheksangeboten bzw. freien Projekten (Wikipedia, Wikisource) zu verknüpfen.
Der Zitierstil der Geschichtsquellen, der dem schlechten Beispiel des Repertorium fontium folgt, mutet gelinde gesagt etwas hermetisch an und ist alles andere als zukunftstauglich. “A. Grafton , Johannes Trithemius: Magie, Geschichte und Phantasie, Erzählende Vernunft, cur. G. Frank u.a., Berlin 2006, 77-90" ist sonst völlig ungebräuchlich (das “cur” statt des sonst üblichen “ed” ist anscheinend den italienischen Zitiergepflogenheiten geschuldet). Der fehlende Vorname behindert eine künftig wünschenswerte Erstreckung der PND auch auf die Namen von Autoren von Sekundärliteratur. Weder eine bibliographische Webscraping-Anwendung noch ein Nutzer ohne hinreichende Vorkentnnisse kann entscheiden, ob der Titel des Sammelbands nun “Geschichte und Phantasie, Erzählende Vernunft” oder “Erzählende Vernunft” lautet. Bei unselbständiger Literatur sollte man generell mit in/In arbeiten, das in den Geschichtsquellen befremdlicherweise für die Reihenangabe verwendet wird, eine Praxis, die viele Dozenten bei Studierenden als fehlerhaft anstreichen würden.
Abschließend noch ein Hinweis zur Nutzung von RSS: Dass keines der drei Angebote es ermöglicht, alle nicht ganz belanglosen Änderungen via RSS zu beobachten (in der Wikipedia ist ein vergleichbares Feature als “Letzte Änderungen” bekannt), behindert die Forschung, da neue Erkenntnisse/Literatur oder verbesserte Einträge nur dann bekannt werden, wenn man gezielt auf sie zugreift.
6. Fazit
Im digitalen Zeitalter angekommen ist keines der drei Angebote. Es versteht sich von selbst, dass diese so eng wie möglich kooperieren sollten, was bisher noch nicht der Fall ist. Aber bei den höchst bedenklichen inhaltlichen Mängeln der Geschichtsquellen wird dies nicht ausreichen, um mittelfristig wenigstens ein “ausreichend” (um es in Schulnoten zu sagen) zu erzielen. Dass es zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gelingen wird, die angesprochenen erheblichen Schwächen in den nächsten Jahren auszubügeln, halte ich für ausgeschlossen.
Meine These: Ein enzyklopädisches Projekt, das nicht auf namentlich verantwortliche Autoren zurückgreifen kann, muss heute auf Crowdsourcing, also auf das viel geschmähte Mitmach-Web 2.0 setzen, will es nicht ins Hintertreffen geraten. Oder auch kurz: Von der Wikipedia möglichst viel lernen! Im Fall der Geschichtsquellen gilt es ja nicht nur, die unüberschaubaren Neuerscheinungen aus der ganzen Welt kritisch zu sichten, es müssen auch unzählige schlechte Artikel aus dem Repertorium fontium tiefgreifend überarbeitet werden.
Der Handschriftencensus hat sich durchgerungen, aus meiner Sicht vorbildliche “Grundlagen der guten wissenschaftlichen Praxis” in Kraft zu setzen, die nach meiner Einschätzung in der Praxis auch gut funktionieren [24]. Die Geschichtsquellen appellieren zwar an die Wissenschaftler, Ergänzungen und Korrekturen beizusteuern, doch fehlt der Anreiz der Namensnennung.
Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterzeichnete “Berliner Erklärung” für Open Access sieht eindeutig sogenannten “libre Open Access” vor, also frei nachnutzbare Inhalte. Indem alle drei Projekte sich diesem Ziel verweigern, schaden sie dem wissenschaftlichen Fortschritt. Ihre - teils erheblichen - Defizite könnten womöglich rasch überwunden werden, würden sie ihre Daten in jeweils ein Wiki unter freier Lizenz einbringen.
ANMERKUNGEN
[1] Digitalisat: http://books.google.de/books?id=wi8RAAAAYAAJ. Zu späteren Auflagen: http://archiv.twoday.net/stories/16549085/
[2] http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/pageview/3193089. Nachweise von Digitalisaten: http://de.wikisource.org/wiki/Wilhelm_Wattenbach.
[3] Zur Frühgeschichte des Unternehmens vgl. die Anzeige in der Zeitschrift für deutsches Altertum 2001: http://www.zfda.de/beitrag.php?id=8&mode=maphilinet
[4] Zur Geschichte vgl. auch den Artikel von Véronique Lambert: Potthast, Pirenne en de anderen:Historici repertoriëren historici. Online:
http://web.archive.org/web/200012120820/http://allserv.rug.ac.be/~jdploige/sources/6.html
[5] Materialien dazu auf der Website: http://www.repfont.badw.de/
[6] Nachweise von Digitalisaten: http://de.wikisource.org/wiki/August_Potthast
[7] Holder-Egger, NA 29 (1903), S. 516
http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN345858530_0029. Weitere Hinweise zum Direktorium: http://www.mgh-bibliothek.de/cgi-bin/nada/na42.pl?seite=131;
http://books.google.de/books?id=OyNMAAAAcAAJ&&pg=PA392;
[8] http://www.archive.org/stream/2deutschlandsges00wattuoft#page/n13/mode/2up
[9] So Markus Wesche 2004: http://www.repfont.badw.de/AKA05343.pdf
[10] Darauf verweisen auch die wiederholte auftretenden Doppeleinträge in der Literatur-Sektion.
[11]
http://de.wikisource.org/wiki/Geschichtsauffassung_und_Geschichtsschreibung_in_Deutschland_unter_dem_Einfluss_des_Humanismus
[12] http://de.wikisource.org/wiki/Hans_B%C3%B6hm
[13] http://de.wikisource.org/wiki/Schwesternb%C3%BCcher
[14] Vgl. http://archiv.twoday.net/stories/6420201/
[15] http://de.wikisource.org/wiki/Burgunderkriege
[16] http://nt.library.msstate.edu/chronica/
[17] http://www.repfont.badw.de/compendia.pdf
[18] Siehe http://archiv.twoday.net/stories/64979228/, http://archiv.twoday.net/stories/64978917/, http://archiv.twoday.net/stories/64978470/
[19] Online: http://books.google.de/books?id=XUJBAAAAcAAJ&pg=PA130
[20] Siehe den OPAC der Regesta Imperii:
http://opac.regesta-imperii.de/lang_de/suche.php?thes=Albericus+%3CAquensis%3E+%281060-1120%29
[21] http://www.handschriftencensus.de/18578
[22] Zu Johannes Trithemius siehe etwa
http://beacon.findbuch.de/seealso/pnd-aks?format=sources&id=118642960
[23] http://www.handschriftencensus.de/abbildungen
[24] http://www.handschriftencensus.de/regeln
Besprochene Websites:
Repertorium "Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters"
http://www.geschichtsquellen.de
Handschriftencensus. Eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters
http://www.handschriftencensus.de
The Narrative Sources from the Medieval Low Countries
http://www.narrative-sources.be
#forschung
KlausGraf - am Freitag, 6. April 2012, 21:00 - Rubrik: Hilfswissenschaften