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Bevor ich zu meinem Scoop komme, muss ich mich etwas länger dem am gestrigen Montag in der Süddeutschen Zeitung (19. November 2012, Seite 11) erschienenen Artikel zur Causa Stralsund (siehe Beiträge in Archivalia) zuwenden, da hier einige bemerkenswerte neue Details mitgeteilt werden.

Der Autor, Till Briegleb, ist eine der SZ-Edelfedern, aber offenkundig kein Spezialist für Archiv- und Bibliotheksfragen. Er wählt einen süffisanten Ton, der sich gut liest. Doch ist fraglich, ob die Einordnung als "Provinzposse" der Affäre gerecht wird.

Bücher, so nass, dass man sie auswringen kann

Die Stadt Stralsund kennt ihre Bibliotheksschätze nicht, verkaufte sie aber an einen Antiquar und will sie jetzt wiederhaben

Wenn der Pressesprecher eines Bürgermeisters
auf alle Fragen nur noch „Kein
Kommentar“ stottert, ein Antiquar Opfer
eines „shitstorms“ wird und meterhoch gestapelte
nasse Bücher als kultureller Sündenfall
beklagt werden, handelt es sich vermutlich um ein
vollendetes Kommunikationsdesaster.
Das produziert gerade das nette
Backsteinstädtchen Stralsund an der
Ostsee, weil es mit dem Verkauf von 2500
Titeln in 5600 Bänden aus seinem Archivbestand
an einen bayerischen Händler ein
Geschrei geweckt hat, dem es nicht mehr
Herr wird. Zugetragen hat sich eigentlich
nur eine Provinzposse. Aber sie hat nationale
Folgen.


Vermutlich gehen die Angaben des Artikels zu den angeblich nassen Büchern im wesentlichen auf den Antiquar zurück. Dieser hat ein vitales Interesse daran, den Zustand der Bücher schlechtzureden. Alles, was zu ihrem Zustand und dem Schimmelbefall geäußert wird, ist angesichts der fortdauernden Blockadehaltung der Stadt nicht überprüfbar. Ob und mit wem der Antiquar redet, kann er allein entscheiden. Die bisherigen Angebote im Internet und bei Reiss lassen nicht im mindesten einen schlechten Zustand der Bücher erkennen.

Die Zahl von 5600 Bänden ist nicht aktuell, es sollen 6210 Bände sein.

Bei der Suche nach neuen Geldquellen
ist irgendwer – wer genau, das will einem
niemand mehr sagen, denn in Stralsund ist
Maulkorb-Zeit – auf alte Bücher in einem
Raum gestoßen, die so muffig rochen, dass
es eine gute Idee zu sein schien, sie an einen
Altbuchhändler zu verkaufen. Zu diesen
Büchern fanden sich keine rechten Inventarlisten.

Zudem zeigte die flüchtige
Durchsicht, dass viele Bände bis zu fünfzehnfach
vorhanden waren. Also ging das
Konvolut auf den Markt, und der Dinkelscherbener
Internethändler Peter Hassold
erbarmte sich für ein paar Tausend Euro
der schimmeligen Doubletten-Sammlung.


Dass es zwei Verkäufe gab, ist neu und wichtig. Uns liegen Informationen vor, dass Stralsunder Bücher von Hassold bzw. dem Augusta-Antiquariat schon vor der Ausschusssitzung im Juni im Internet angeboten wurden, was so seine Erklärung findet.

Natürlich ist der Dublettenverkauf - unabhängig in welchem Zustand die Bände sind - genauso rechtswidrig wie der Verkauf anderer Bände, da die Archivsatzung von 2002 keine Ausnahmen für Dubletten vorsieht. Vor 1850 gibt es im übrigen nach den Standards der Kulturerbe-Allianz keine Dubletten. Es mag gängige Praxis sein, dass Archivbibliotheken Dubletten verkaufen, aber ich vermute, dass in vielen Fällen schützenswerte Ensembles oder provenienztragende Einzelstücke angetastet werden.

Aktuell kann sich jeder vom Irrsinn vergangener bibliothekarischer Dublettenverkäufe überzeugen, wenn er die Pressemitteilung zu den letzten Reiss-Auktionen liest: "Bibliothek Carl Friedrich Gauss. Sensationell verlief der Absatz der in Auktion 154 inkorporierten gut 100 Titel aus der Bibliothek des großen Mathematikers." Zur Herkunft heißt es bei Nr. 1488: "Die folgenden, unter der Einlieferer-Nr. 201 katalogisierten Titel stammen aus der Bibliothek von Carl Friedrich Gauss. Sie wurden im Oktober 1951 aus den Beständen der Niedersächs. Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen als Dubletten ausgeschieden und gelangten in Privatbesitz. Sämtliche Titel tragen den datierten und signierten Ausgeschieden-Stempel der Bibliothek auf dem Titel, dem vorderen Deckel oder dem Umschlag, außerdem den ovalen Stempel "Bibliothek der königl. Sternwarte Göttingen" und/oder den rechteckigen Stempel "Gauss-Bibliothek" sowie eine Bibliotheks-Sigle; zusätzlich sind einige Tafeln auf der Rückseite gestempelt. In einigen Bänden finden sich zudem eigenhändige Besitzvermerke oder Einträge von Gauss, auf diese wird jeweils separat hingewiesen." Nun ist auch diese kleine Sammlung in alle Wunde zerstreut.

Zur "schimmeligen Doubletten-Sammlung" erinnern wir uns: Am 17. Oktober gab der Stralsunder Oberbürgermeister bekannt: "Grund für die Maßnahme ist ein Gutachten des Leipziger Zentrums für Bucherhaltung (ZfB), das von der Stadt in Auftrag gegeben wurde, nachdem es nach Veräußerung eines Teilbestandes der ehemaligen Gymnasialbibliothek an einen Antiquar Hinweise gegeben hatte, dass der Bücherbestand in schlechtem Zustand sei. Oberbürgermeister Dr. Alexander Badrow: "Der Antiquar hat mich über den schlechten Zustand der erworbenen Bücher informiert und seine Sorge um den gesamten Bestand im Stadtarchiv zum Ausdruck gebracht, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Ich habe daraufhin unverzüglich die Überprüfung des Archivbestandes veranlasst."

Entweder diese Darstellung ist falsch oder Brieglebs Aussage, dass der Antiquar eine muffige, schimmelige Dublettensammlung erworben habe. Wenn beide Seiten - Stadt und Antiquar - den schlechten Zustand von Teilen der Archivbibliothek kannten, was sollte dann der "treusorgende" Hinweis des Antiquars (der damit wohl Gewährleistungsansprüche geltend machen wollte)?

Bald darauf erhielt er aus Stralsund das Angebot,
einen weiteren Bestand mit „ausgesonderten
und nicht inventarisierten Büchern“
(wie es später auch im Vertrag
stand) zu erwerben, den er in einem Bieterverfahren im Juni
2012 dann für 95000 Euro erstand. Auch diese Bücher, die er nur
stichprobenartig prüfen konnte, und bei
denen sich aus manchen Bänden Wassertropfen
drücken ließen, so erbärmlich waren
diese aufbewahrt, kaufte er als Lot, also
als Masse ohne Einzelnachweis.


Dass sich aus manchen Büchern Wassertropfen pressen ließen mag zwar ein hübsches Bild sein, aber irgendeinen Beweis für diese Behauptung gibt es derzeit nicht.

Unterschrieben hat diesen Vertrag Stralsunds
Oberbürgermeister Alexander Badrow
(CDU), allerdings versicherte er sich
vorher der einstimmigen Unterstützung
des Stralsunder Hauptausschusses, eines
Gemeindegremiums, das zuständig ist „in
Dringenden Angelegenheiten, deren Erledigung
nicht bis zu einer Dringlichkeitssitzung
der Bürgerschaft aufgeschoben werden
kann“, wie es auf Amtsdeutsch heißt.


Auch das spricht dafür, dass kommunales Recht gebrochen wurde. Ein Hauruckverfahren bei wertvollem Kulturgut ist unter allen Umständen zu vermeiden.

Als dieser Handel Klaus Graf bekannt wurde,
den man nach Kenntnisnahme seiner
Webseite „archiv.twoday.net“ sicherlich
als Archiv-Aktivisten bezeichnen darf, entfesselte
dieser einen Sturm der Empörung
mit Briefen, Blog-Einträgen und Protestnoten,
dem sich Fachverbände und Sachverständige
anschlossen. Die hier veräußerte
Sammlung sei die Stralsunder Gymnasial-
Bibliothek, die mit wichtigen Schenkungen
bis zurück in den Barock nicht nur ein
unschätzbares Kulturgut, sondern als Teil
des Stralsunder Stadtarchivs vor jeder Veräußerung
gesetzlich geschützt sei. Dass eine
Stadt ihre Archivbestände verkaufe, so
Klaus Graf, im Hauptberuf wissenschaftlicher
Archivar der TU Aachen, sei „einer der
größten Kulturgut-Skandale der letzten
Jahrzehnte“. Dass ein Antiquar sich daran
beteilige, zeige, was für ein „halbseidenes
Gewerbe“ das sei.


Briegleb schreibt wohl von Nikolaus Bernau ab, wenn er die RWTH Aachen, die man auch als Edelfeder kennen sollte, ebenfalls unkorrekt als TU Aachen bezeichnet.

Klaus Grafs Furor zeigte schnell Reaktion,
liebsame und unliebsame. Während
sich Peter Hassold mit Hassmails und Anrufen
bombardiert sah, die ihn als Hehler
und gewissenlosen Menschen beschimpften,
ging Stralsunds Oberbürgermeister in
Deckung und ließ nur eine dürre Pressemeldung
verbreiten, dass externe Gutachter
die Causa klären sollen.


Wenn Hassold sich über Hassmails und Anrufe beklagt, heißt das nicht, dass es diese in nennenswertem Umfang tatsächlich gab. Ich will das nicht bestreiten, aber auch diese Aussage ist potentiell tendenziös.

Doch die müssen sich jetzt beeilen. Denn Hassolds
Münchner Anwalt Jürgen Blume hat der
Stadt–um weiteren wirtschaftlichen Schaden
von seinem Mandanten abzuwenden,
der den Verkauf seines Eigentums gestoppt
hat – jetzt eine Frist von 14 Tage gesetzt,
sich zu dem Vertrag zu erklären.


Die Stadt bekommt Druck von zwei Fronten: von dem Antiquar und der Kommunalaufsaicht.

Gleichzeitig wurde der Stadt signalisiert,
dass man sich einer Rückabwicklung über
die noch nicht weiter verkauften Bestände
(rund 95 Prozent der Sammlung) nicht verweigern
würde, wenn die Stadt auch für die viermonatige Restaurierung und Katalogisierung der feuchten Kulturgüter mit
bis zu acht Millimetern Schimmelschicht
aufkomme. An einer gütlichen Einigung
wird jetzt gearbeitet.


Feuchte Kulturgüter und Schimmelschicht: erneut nicht überprüfbare Behauptungen, die die Position des Antiquars stützen sollen. Der hat vermutlich schon ordentlich Reibach bei Reiss gemacht, wie gleich auszuführen ist.

Doch da kommt bereits die nächste Meldung
aus der Stralsunder Bibliothekspflege.
Die Stadtarchivarin hat nämlich in der
Zwischenzeit festgestellt, dass beim Verkauf
der Gymnasial-Bibliothek nur noch
rund die Hälfte der Bücher überhaupt vorhanden war,
wie sie Klaus Hassold jetzt mitteilte.
Der Rest sei unbekannt verloren.
Ganz offensichtlich sind die Stralsunder
Bestände beim Antiquar wie Tiere im Zoo
wenigstens vor dem Aussterben geschützt.
In der Weltkulturerbestadt Stralsund hält
man sein schriftliches Erbe jedenfalls eher
für Pilzbiotope, Altpapier oder reif für die
Grabbelkiste. Sollte der grundsätzlich wünschenswerte
Rückkauf also dieser Tage
über die Bühne gehen, sollte Alexander Badrow vielleicht
zunächst ein trockenes, beheiztes
Zimmer nachweisen, wo die Heimkehrer
vor der örtlichen Bibliothek sicher
sind.


Peter Hassold, nicht Klaus Hassold!

Briegleb entblödet sich nicht, die von Antiquarskreisen wieder und wieder gestreute Mär, dass bei Antiquariaten die Bücher oft besser aufgehoben sind als bei öffentlichen Sammlungen, zu kolportieren. Er lässt sich vom Antiquar instrumentalisieren, dessen Interesse es sein muss, den Zustand der Bücher möglichst dramatisch darzustellen, um bei einer Rückabwicklung möglichst viel für die "Betreuung" der Sammlung herauszuholen.

In welchem Umfang Restaurierungen nötig waren, kann Hassold sicher durch entsprechende Rechnungen nachweisen. Die Qualität seiner Katalogisate ist jedenfalls - wie der Vergleich mit Reiss zeigt - außerordentlich mäßig.

Höchst dubios ist ebenfalls die referierte Aussage der Archivarin, dass beim Verkauf nur die Hälfte der Bücher noch vorhanden war. Die Hälfte bezogen auf welche Zählung? Und aufgrund welcher Quelle? Die Bücher sind ja weg. Die 6210 Bücher der Gymnasialbibliothek sollen etwa 2500 Titel sein, 1995 hat Frau Klostermann 2630 Titel ermittelt, was in etwa zur Aussage der Stadt stimmt, nur wenige Bände regionalgeschichtlichen Inhalts seien zurückbehalten worden.

Dass derzeit erst im Stadtarchiv inventarisiert wird, was verkauft wurde (offenbar anhand der alten Bandkataloge), stimmt zur Aussage Brieglebs, dass beide Verkäufe an Hassold ohne Angebotsliste abgewickelt wurden.

Insgesamt ist Brieglebs Stück das schlechteste der in den großen Zeitungen erschienenen Beiträge zur Causa Stralsund.

Wenn ich heute wichtige Neuigkeiten über das Schicksal der Bücher der Gymnasialbibliothek und des Stadtarchivs Stralsund mitteilen kann, so verdanke ich das einem anonymen Hinweis, der mir am Sonntag per Mail von einer sich Rosa Luxemburg nennenden Gewährsperson zuging. Diese, offenbar ein Sammler (sie sei kein Händler, versicherte sie), hatte etliche Bände der Einlieferung 152 der Reiss-Auktionen 154-157 (30. Oktober bis 2. November 2012) erworben und erst nachträglich festgestellt, dass sie aus der Gymnasialbibliothek Stralsund stammten. "Rosa" mailte mir auch ein altes Exlibris der Gymnasialbibliothek und einen Ausgeschieden-Vermerk des Stadtarchivs.

Gemeinsam mit anderen ging ich den Online-Katalog von Reiss durch, dessen Herbstauktion just am gleichen Tag begann, an dem ich in Archivalia den Skandal öffentlich machte. Reiss ist mir schon durch seine Beteiligung an der Zerschlagung des Druckschriftenbestands der Hofbibliothek Donaueschingen als Kulturgutschänder vertraut. Zwei Antiquare haben den Kontakt zu mir gesucht und ihr Unverständnis über die Stralsunder Vorgänge geäußert. Aber wenn die skrupulösen Antiquare die Finger von Kulturgut, das in öffentlicher Hand bleiben sollte, lassen, gibt es genügend andere, die unsentimental dem Ruf des Geldes folgen. Dass sie Geschichtsquellen zerstören, ist ihnen egal. Neue Sammlungen entstehen nur durch das Auflösen alter Sammlungen, und bei privaten Besitzern sind die Bücher besser aufgehoben - um nur zwei Lieblingsargumente zu nennen.

Um keinen juristischen Ärger zu bekommen, ist das folgende als Verdachtsberichterstattung zu verstehen. Alle Behauptungen sind Arbeitshypothesen, die mir erheblich wahrscheinlicher erscheinen als alternative Deutungen.

Im strikten Sinn beweisen kann ich die folgenden zwei Behauptungen nicht:

(i) Die Einlieferungen der Reiss-Auktionen mit den Nummern 41, 95, 152, 177 und 169 setzen sich ausschließlich aus Stücken zusammen, die aus dem Stadtarchiv Stralsund stammen

Ich habe daran aber keinen Zweifel, dass dies im wesentlichen zutrifft und werde dies anhand von Provenienzmerkmalen zu belegen versuchen.

(ii) Die genannten Einlieferungen gehen indirekt oder direkt auf den Käufer Hassold zurück.


Die von Reiss vermerkten Ausgeschiedenstempel sind offenbar alle - was bereits ein Unding ist - weder datiert noch mit einer Paraphe versehen. Es waren solche Stempel ja auch auf Bildern zu Angeboten bei Abebooks oder Ebay etc. der Stücke zu sehen, und nie war ein Datum oder Handzeichen erkennbar. Wann fand eine solche massenhafte Aussonderung statt? Doch nicht unter Herbert Ewe und in der DDR-Zeit, der die Buchbestände auch nach Aussage von Frau Klostermann beschützt und wertgeschätzt hat. Nach der Erfassung im Handbuch 1995 und vor Erlass der Archivsatzung 2002, die Veräußerungen verbot? Kaum anzunehmen, dass man davon nichts erfahren haben sollte. Und wenn man die dubiose Angabe der Archivarin, beim Verkauf sei die Hälfte der Gymnasialbibliothek verschwunden gewesen, beiseitelässt, so muss man sich an die oben referierte Rechnung halten, dass nämlich von den 1995 gezählten 2630 Titel 95 %, nämlich 2500 Titel im Juni 2012 verkauft wurden und der kleine Regionalia-Rest nach wie vor im Stadtarchiv Stralsund ruht.

Der nahezu zwingende Schluss: Die vielen bei Reiss angebotenen Bände, die wohl überwiegend aus der Gymnasialbibliothek stammten, sind von Hassold bei Reiss eingeliefert worden (oder einem Zwischenhändler, was aber eher unwahrscheinlich ist). Und er durfte sich über ein erkleckliches Sümmchen freuen, das die Stadt Stralsund eher alt aussehen lässt.

Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass bei Abebooks ein Euler-Druck für 7800 Euro angeboten wurde. Schon bei den bisherigen Online-Angeboten wurden hochpreisige bibliophile Kostbarkeiten und Stücke registriert, die als kulturgeschichtliche Dokumente nie das Stadtarchiv Stralsund hätten verlassen dürfen, von vielen wertvollen Pomeranica ganz abgesehen.

Das Entsetzen verstärkt sich bei genauer Sichtung der vor etwa 20 Tagen stattgefundenen Auktionen bei Reiss.

Etliche Stücke stehen noch im Nachverkauf. Die Stadt Stralsund oder die Kommunalaufsicht wird sich unverzüglich mit dem Auktionshaus in Verbindung zu setzen haben, damit diese nicht weiter verkauft werden - bis zur Klärung, die hoffentlich in einer Rückführung der Bestände besteht.

Die allermeisten Stücke sind aber durch öffentliche Versteigerung unwiderruflich in das Eigentums des jeweiligen Erwerbers übergegangen und können daher nicht mehr zurückgefordert werden!

Jeder, der solche Stücke aus Stralsund bzw. aus den genannten Einlieferungen bei Reiss erworben hat, wird gebeten, mit mir Kontakt aufzunehmen.

95 % der Kaufmasse mögen noch bei Hassold sein, aber einer der wertvollsten Teile der unersetzlichen Gymnasialsammlung ist unwiederbringlich verloren, da in alle Winde zerstreut!

Eine lückenlose Aufarbeitung der Provenienzen war mir bzw. uns in der Kürze der Zeit nicht möglich. Wenn man mit dem Online-Katalog von Reiss arbeitet, wird man durch die Tatsache, dass die Einlieferernummer als Imagefile abgespeichert ist, man also nicht nach ihr suchen kann, erheblich behindert. Ergibt sich ein Verdacht zu einem relativ späten Zeitpunkt, muss der Gesamtbestand von über 4000 Titeln erneut von vorne einzeln durchgegangen werden. Daher kann ich für die Einlieferernummer 95 keine Zahlen angeben und bei der Einlieferung 177 denke ich zwar, dass es nur eine einzige Katalognummer gibt, aber das muss nicht so sein.

Reiss hat es in der Regel peinlich genau vermieden, Stralsunder Stempel abzubilden. Es gibt keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte, dass Reiss die Titelblätter mit Bildbearbeitung gereinigt hat, obwohl das zur üblichen Provenienz-Verschleierung passen würde.

Um sich einen ersten Eindruck vom Stralsunder Bestand zu verschaffen, kann man in der Volltextsuche bei Reiss nach ausgeschieden suchen. Von den 138 Treffern beziehen sich nur ganz wenige eindeutig auf andere Provenienzen. Schon von daher schließen sich die Einlieferungen 95, 152 (49 Titel, Angaben jeweils ohne Gewähr), 169 (59 Titel) und 177 (nur 1 Titel?) zusammen.

Um einen groben Anhaltspunkt für die Zahl der Stücke der Einlieferung 95 zu erhalten, addiere ich die Zahlen für 152, 169, 177 und rechne mit nicht weniger als 130 Treffern Stralsunder Herkunft bei den 138 Treffern mit Erwähnung von Ausgeschieden-Stempeln. (Die Einlieferung 41 - 58 Titel, die ich mit erlösten Preisen in einem Google-Doc aufgelistet habe - enthält in der Regel keine solche Stempel.) Bleiben etwa 20 Bände für die Einlieferung 95.

Wenn ich keinen Rechenfehler gemacht habe, erzielte die Einlieferung 41 (vor allem Pomeranica) 64150 Euro.

Gern wird Wissenschaftsgeschichte von Sammlern gekauft, also wundert es nicht, dass das teuerste Stück der Stralsund-Erlöse ein lateinischer Kepler-Druck (mit Beibänden) aus dem Jahr 1621 ist, der für nicht weniger als 44.000 Euro wegging.

Den Titel dieses Beitrags kann ich beweisen, da die Lupenfunktion bei Reiss deutlich den Stempel der Stralsunder Gymnasialbibliothek erkennen lässt.

Nicht nur Stralsunder Bürger, sondern auch die Fachwelt kann aus diesem Befund entnehmen, dass die Darstellung der Stadt Stralsund, es habe sich um entbehrliche oder gar wertlose Werke gehandelt, die Öffentlichkeit eklatant in die Irre führt.

Um eine Schätzung des Erlöses, den die Einlieferer der Stralsund-Einlieferungen (mutmaßlich Hassold) auf den Auktionen erzielt haben, vornehmen zu können, muss ich eine Milchmädchenrechnung aufmachen, da mir eine genaue Aufstellung nur für die Einlieferung 41 vorliegt. Streicht man das Spitzenstück, so sind die 57 verbleibenden Bücher (einschließlich der unverkauften) für durchschnittlich rund 353 Euro zugeschlagen worden. Ich rechne also mit einem durchschnittlichen Erlös von 300 Euro und ziehe jeweils das Spitzenstück ab, wobei ich hoffe, dass ich bei den teuersten Büchern nichts übersehen habe. Nr. 2834 (der Einlieferung 152) brachte 5000 Euro, die restlichen 48 setze ich mit 300 Euro an, macht 19400 für die Einlieferung 152. Nr. 4828 der Einlieferung 169 wurde sogar für 14.000 verkauft, macht 31.400. Die einzige mir bekannte Nr. 4840 der Einlieferung 177 erlöste nicht weniger als 20.000 Euro. Die geschätzen 20 Titel von Einlieferung 95: 6000 Euro. Summa summarum komme ich auf knapp 141.000 Euro, was, selbst aufwändige Restaurierungen eingerechnet, bei einem Einkaufspreis von 95.000 Euro für maximal 5 Prozent des gekauften Bestandes den Antiquar für manche unflätige Hassmail reichlich entschädigen konnte.

6210 Bände oder 2500 Titel für 95.000 Euro erworben. Macht 38 Euro je Titel. Die schätzungsweise knapp 190 Titel (das sind 7,6 % von 2500) bei Reiss erlösten, wenn ich nicht ganz falsch lag, mit 141.000 Euro durchschnittlich 742 Euro.

Nun sind natürlich nur die wertvollsten Stücke bei Reiss oder Zisska unterzubringen, die Masse der Stücke ist sehr viel weniger wert. Aber vermutlich hatte Hassold sein Pulver nicht ganz verschossen und noch etliche Pretiosen zurückbehalten, um den Markt nicht zu überfluten.

Wenn es ihm nun noch gelingt, mit Hilfe des Schimmel-Alarms die Stadt Stralsund ordentlich abzuzocken, weil er ja die Stücke hat restaurieren und katalogisieren lassen, wird er sicher als einer der erfolgreichsten Geschäftsleute aller Zeiten in die Annalen von Dinkelscherben eingehen.

Hassold geht über Los und kriegt seine 95.000 Euro wieder, den schimmeligen Ramsch nimmt die Stadt Stralsund zurück. Man weiß nicht, wieviel er durch Online-Verkäufe schon verdient hat, aber die erlesenen Stücke bei Reiss liefen - siehe oben - gut. Und vielleicht gab es bei Zisska ja noch mehr als die 2800 Euro, die eine staatliche deutsche Institution (BSB?) latzen musste.

Sind das alles unverantwortliche Spekulationen? Die Stadt Stralsund, Hassold & Co. sowie Reiss, Zisska usw. hüllen sich in Schweigen. Vielleicht wird man nie die volle Wahrheit erfahren.

Halten wir uns daher abschliessend an die Wissenschaft, denn ich muss ja noch die Provenienzmerkmale für die einzelnen Einlieferungen belegen.

An "Rosa Luxemburg" zu zweifeln, sehe ich keinen Anlass. Daher kann 152 getrost für die Provenienz Stadtarchiv Stralsund in Anspruch genommen werden. Aber nur auf der Abbildung zu Nr. 1256 sieht man deutlich den Stempel der Gymnasialbibliothek (Abbildung). Auf dem Bild zu Nr. 973 ist die verräterische Signatur Gy B 2° 31 zu erkennen, die Gymnasialbibliothek unterschied sich nach 1945 durch ein vorangestelltes Gy von den normalen Signaturen des Altbestands. Es handelt sich überwiegend um Drucke des 16./17. Jahrhunderts aus dem Bereich der Philologie.

Einlieferung 169: Bei Nr. 830 sieht man ebenfalls deutlich den Stempel der Gymnasialbibliothek auf dem Titelblatt. Bei Nr. 2993 wird ausdrücklich das Bibliothekszeichen der Stadt Stralsund in der Beschreibung erwähnt.

Keinen ausdrücklichen Bildbeleg gibt es für die Einlieferung 95, aber der Tertullian Nr. 1216 gehörte 1596 noch dem Jesuitenkolleg in Heiligenstadt, was gestrichen und durch den Hinweis auf Stralsund ersetzt wurde (schlecht lesbar). Der Inhalt der Bände und die erkennbaren Signaturschildchen (man vergleiche 957 aus Einl. 152 mit 986 aus Einl. 169 für die Reihe A, 949 aus Einl. 95 mit 960 aus Einl. 152 für die Reihe B) schließen die Einlieferungen 95, 152 und 169 hinreichend eng zusammen. Nr. 1098 (aus Einl. 95) und Nr. 872 (Einl. 152) sind durch einen pommernspezifischen Einband verbunden.

Bei Nr. 41 fällt das Provenienzmerkmal der Erwähnung des Ausgeschiedenstempels durch Reiss weg. Es handelt sich um Pomeranica. Den Stempel auf Nr. 4841 (Kepler - 44.000 Euro) erwähnte ich schon, bei Nr. 4711 und 4718 sind ebenfalls Stempel der Gymnasialbibliothek zu sehen. Nr. 4704 weist einen handschriftlichen Besitzvermerk der Stralsunder Gymnasialbibliothek auf. Nr. 4714 zeigt das Exlibris Zobers, Nr. 4715 wurde ihm handschriftlich gewidmet. Auf Nr. 585 erkennt man den Stempel der Stadtbücherei Stralsund.

Wenige Bände zeigen einen kleinen Stempel "verkauft 1827" (Nr. 814, 1200, beide Einl. 41), dem man in einem von Hassold bei Abebooks angebotenen Buch von 1631 mit dem Exlibris der Stadt Stralsund nochmals begegnet (laut Beschreibung).

Am Rande sei erwähnt, dass Nr. 2408 eine Notenhandschrift aus dem 19. Jahrhundert mit deutlichem regionalen Bezug darstellt. es gibt so viele undokumentierte individuelle Spuren (Besitzvermerke, handschriftliche Einträge, Marginalien) im nun verscherbelten Bestand, dass dieser weitere Tabubruch gar nicht weiter auffällt. Das dumme Dublettenargument wird einmal mehr widerlegt.

Nr. 4840 (Einlieferung 177) ging für 20.000 Euro weg. Um welche kulturhistorische Kostbarkeit es sich handelte, zeigt die Beschreibung bei Reiss:

Hevelius, J. Selenographia: sive lunae descriptio. Addita est, lentes expoliendi nova ratio; ut et telescopia diversa construendi, et experiendi modus. Danzig, A. Hünefeld für den Autor, 1647. Fol. (35:24 cm). Mit gest. Titel, gest. Porträt, 111 Kupfern auf 91 Taf. (inkl. 3 gefalt. u. 1 mit bewegl. Scheibe) u. 26 Textkupfern. 13 (statt 14) Bll., 563 S. - Angebunden: Ders. Epistola de motu lunae libratorio, in certas tabulas redacto. - Epistola de utriusq(ue) luminaris defectu anni 1654. 2 Tle. Danzig, A. J. Müller für den Autor, 1654. Mit 2 gest. Titelvign., 7 (1 doppelblattgr.) Kupfertaf. u. 2 (1 blattgr.) Textkupfern. 1 Bl., 48 S.; 1 Bl., S. 49-72, 1 Doppelbl., 4 Bll. - Zwischengebunden: Ders. Dissertatio de nativa saturni facie, eiusq(ue) variis phasibus, certa periodo redeuntibus. Cui addita est, tam eclipseos solaris anni 1656 observatio, quam diametri solis apparentis accurata dimensio. Danzig, S. Reiniger für den Autor, 1656. Mit 1 gest. Titelvign. u. 4 Kupfertaf. 3 Bll., 40 S. Etwas spät. Prgt., Vorderdeckel mit goldgeprägtem umkränztem Monogramm "M(agister) A(ndreas) M(arquard)" darunter "1675", Rückdeckel mit Monogramm "M. H. / 1701"; Rückdeckel fleckig u. restauriert, Vorsätze erneuert.
(177)

I. VD 17 39:125064G; Dt. Mus., Libri rari 135; Honeyman Coll. 1672; Roller-G. I, 53; Volkoff, Hevelius 1; zu allen Werken: Zinner, Instrumente 381 u. DSB VI, 360 ff. - Erste Ausgabe der für lange Zeit grundlegend gebliebenen Beschreibung des Mondes, die zugleich einen ausführlichen Atlas darstellt. "Eine in siebenjähriger Arbeit gewonnene, bis dahin unerreichte, mit selbstgestochenen Kupfern ausgestattete Beschreibung der Mondoberfläche, der Mondphasen und -libratrionen" (NDB IX, 60). Unter den schönen, akkurat gestochenen Kupfern neben den Mondkarten auch Darstellungen von Fernrohren sowie eines Linsenschleifapparates. Taf. 21 mit der zugehörigen beweglichen Scheibe u. dem Fadenzeiger. - Ohne den Vortitel, Drucktitel mit Bibl.- u. Ausgeschieden-Stempel sowie Bibl.-Sigle.
II. VD 17 12:644420L; Volkoff 4 & 5. - Erste Ausgabe der beiden Schriften, auch separat bzw. mit zwei weiteren Schriften (als "Epistolae IV.") ausgegeben. "A letter in answer to J. P. Riccioli's doubts set forth in his 'Almagestum' concerning Hevelius's theory on the libration of the moon as described in the Selenographia... (The second letter) contains observation methods employed and a description of the solar eclipse of August 12 and of the lunar eclipse of August 27, 1654" (Volkoff). - Tl. 2 mit stärkerem Moderschaden an der unteren Außenecke, Papier dadurch gebräunt u. brüchig.
III. VD 17 39:125093U; Volkoff 6. - Erste Ausgabe. Enthält Hevelius Theorien zu Gestalt des Saturn, den er als Körper mit zwei Henkeln ansah, und zum Durchmesser der Sonne. - Untere Außenecken etwas gebräunt, gegen Ende mit Moderschaden. Ohne das Blatt "Ordo Figurarum", das fast immer fehlt (vgl. VD 17) u. auch von Zinner nicht genannt wird.
Provenienz: Geschenkexemplar für den Stralsunder Theologen, Mathematiker und Astronom Andreas Marquard, mit dessen eigenhändigen Vermerk "M. Andreas Marquardi Stralsund(ensis) Pomeran(us)/ Ex donatione autoris". Marquard ist als Autor mehrerer astronomischer Disputationen nachweisbar, die sich mit auch von Hevelius besonders behandelten Themen beschäftigen ("De stellis fixis", 1659; "De variis lunae phasibus", 1660; "De diametro solis", 1662; "De cometarum sede", 1663). Von 1668 bis 1670 unterrichtete er den Greifswalder Theologen u. Physiker Theodor Pyl in Musik, Mathematik u. Astronomie. Von Marquards Hand stammen auch einige saubere Marginalien u. Anstreichungen in der Selenographia.


Die Zuweisung zur Provenienz erfolgt nicht nur über den Stralsunder inhaltlichen Bezug und die Erwähnung des Ausgeschieden-Stempels. In Biederstedts Beschreibung der Gymnasialbibliothek wird unter den Förderern der Bibliothek "M. Archidiakonus Andreas Marquards (1670 bis 75) Witwe" ausdrücklich erwähnt!

Übrigens erscheint in den Beschreibungen bei Reiss kein einziges Mal das Wort Schimmel ...

Update 21.11.2012 Nach Auskunft der Erwerberin stammt Nr. 859 (Einlieferung 95) aus der Gymnasialbibliothek.

22.11.2012: 2685 aus Einl. 95 mit langem hsl. Eintrag aus der Gymnasialbibliothek erwarb für 1000 Euro die HAB Wolfenbüttel.

Kepler-Druck aus der Gymnasialbibliothek, für 44.000 Euro bei Reiss versteigert.
Dietmar Bartz meinte am 2012/11/20 08:49:
Anmerkungen
Dass Hassold 95.000 Euro für insgesamt nasse Bücher bezahlt habe, ist schlechterdings unglaublich. Eine Besichtigung des Magazins (sollte man besser Depot sagen?) würde zeigen, wie die Feuchtigkeit verteilt war. Wenn etwa nur eine Wand oder eine Ecke nass ist, wird nur ein kleiner Teil der Bestände in einem ganz schlechten Zustand gewesen sein; die Schimmelbildung mag allerdings verbreitet gewesen sein. Es wird bei evtl. Rückgabe auch darauf zu achten sein, ob der Antiquar selbst noch Bücher ausgesondert hat, deren Trocknung und Restauration sich nicht lohnt. Bei größeren Übernahmen passiert das durchaus, und es ist bisher nicht bekannt geworden, dass das Archiv selbst in den letzten Jahren schwer beschädigte Dubletten kassiert hat. Wobei – eine Nachfrage wäre auch dies wert. 
KlausGraf antwortete am 2012/11/20 13:30:
Wieso macht das Zentralorgan für den Schimmel, die taz, nix über Stralsund?
Die könnte dann auch nachfragen (und ebenso wenig derzeit eine Antwort erhalten wie alle anderen). 
FeliNo (Gast) antwortete am 2012/11/20 15:28:
Wenn man in Stralsund ohne Liste abgegeben hat, dann hat Dietmar Bartz recht, genau das wird passieren: die kriegen lauter unidentifizierbares und geschädigtes Zeug zuruck. Nur: wieso überhaupt zurück nach Strralsund? Wenn da jemals etwas zurückkommen sollte, dann wohl doch erst in ein angemessenes Asyl in einer anderen Stadt und nicht zurück in die Hände derer, die's abgegeben haben für ein Scherflein, oder gar in ein angeblich fürs Betreten ungeeignetes Gemäuer. 
wolfi (Gast) meinte am 2012/11/20 11:21:
gaußsche privatbibliothek?
da sollten doch bei jedem/-r die alarmglocken läuten! 
 

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