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Wolfgang Dobras: Willigis und das Mainzer Rad. Eine Sage und ihre Funktion im Wandel der Geschichte. In: Mainzer Zeitschrift 106/107 (2011/12), S. 197–216
http://www.gaestefuehrungen-mainz.de/material/download/dobras.pdf

Der gründliche Aufsatz beschäftigt sich mit der Traditionsbildung um die Herkunft des im Jahr 1011 gestorbenen Mainzer Bischofs Willigis, der vom Spätmittelalter ab bis ins 19. Jahrhunderts als Sohn eines Wagners galt. (Online-Nachweise zu Willigis und der Sage habe ich in Wikisource zusammengetragen, worauf wegen genauerer Zitate verwiesen sei.)

Dobras geht von der Sagenversion der Brüder Grimm aus, die den Stoff im zweiten Band der "Deutschen Sagen" (1818, Nr. 468, jüngere Zählung Nr. 474) präsentierten. Ihre Hauptquelle war die Thüringische Chronik banges (1600), nur der letzte Satz stammt aus der Gmünder Kaiserchronik (zweiter Teil der 1485 erstmals gedruckten Schwäbischen Chronik Thomas Lirers), in der es heißt:

"Vnder dem kaiser do was ains armen wagners sun Bischoff zuo Mentz. der hieß Willigis. der het von demüetigkeit wegen ain pfluogßrad bey seiner bettstat hangen. vnd het dar ein mit grossen güldin buochstaben geschriben. Willigis Willigis gedenck von wannen du kumen seiest. Vnd darumb so habent die von Mentz noch heüt deß tags ain pfluogßrad in irem baner vnd auch das bistumb von Mentz von deß wagners wegen. vnd ist allso da mit betzaichnet vnd bestetiget " (o über u = uo).

Die Version mit den hochmütigen Domherrn, die von Bange zu den Brüdern Grimm gelangte und von diesen zu August Kopisch, dessen hübsches Gedicht Dobras nicht erwähnt, findet Dobras zuerst bei Johannes Rothe. In der mainzischen Bistumschronistik dominiert jedoch eine kürzere Fassung, die vom Spott der Kanoniker nichts weiß. Der älteste Beleg überhaupt stammt aus der Erfurter Chronica minor (um 1260). Wichtig für die Verbreitung waren die "Flores temporum" und später die Schedelsche Weltchronik (1493, lateinisch und deutsch).

Die Willigis-Tradition ist zugleich eine ätiologische Erzählung für das Mainzer Rad. Dobras kann zeigen, dass die Erwähnung von zwei Rädern in der Chronica minor auf zeitgenössische heraldische Belege verweist, die ebenfalls zwei Räder kennen. Seit dem 14. Jahrhundert ist ein einziges Rad das Wappen des Erzstifts Mainz.

Einige kleine Ergänzungen zum Aufsatz von Dobras: Bei Google Books findet man eine ganze Reihe von Zeugnissen für die frühneuzeitliche Verbreitung der Tradition (für die Zeit vor 1800 vermeide ich ja den Begriff Sage). Ich greife Predigten von Cyrillus Riga 1759 und Nachweise über viele Erwähnungen in gelehrten Werken im lateinischen wappenrechtlichen Werk von Hoepingk 1642 heraus. Hans-Jörg Uthers Ausgabe "Deutsche Sagen" Bd. 2, 1993 ist aufgrund der Nachweise aus der Erzählforschung stets neben Röllekes Ausgabe von 1994 heranzuziehen. Er verweist bei Nr. 474 auf Lutz Röhrich, Sage und Märchen (1976), S. 115f.; Rehermann, Das Predigtexempel bei protestantischen Theologen (1977), S. 506 Nr. 18 und Dömötörs Katalog der ungarischen protestantischen Exempel (1992), Nr. 356.

Die Chronik des Adam Ursinus ist mit um 1500 immer noch zu früh angesetzt (Dobras Anm. 4), da dessen sonst bekannte Publikationen erst 1565 einsetzen (Werkliste).

Erwähnung hätte verdient, dass in der Kirche des Mainzer Stifts St. Stephan, einer Willigis-Gründung, eine Bildtafel mit lateinischer Inschrift die Tradition wachhielt (siehe von der Gönne 2007 nach den Deutschen Inschriften). Der knieende Willigis hatte ein Radschild zu Seite und schaute auf ein Schriftband "Willigise, unde veneris, nosce" (von dem Jesuiten Gamans im 17. Jahrhundert notiert).

Eine wohl am Anfang des 15. Jahrhunderts entstandene deutschsprachige Version der Willigis-Erzählung blieb Dobras unbekannt. Sie entstammt der ungedruckten Langfassung der "Gmünder Kaiserchronik" und ist bequem durch das Digitalisat des Heidelberger Cpg 5, Bl. 58v zugänglich (Transkription auf Wikisource). Zur Gmünder Kaiserchronik habe ich mich ausführlich in meiner Dissertation 1987 geäußert. Der Cpg 5 ist wohl die älteste Handschrift, der neue Heidelberger Katalog setzt ihn vorsichtiger als ich in das erste Viertel des 15. Jahrhunderts (ich berief mich auf eine Auskunft von Richard Weber, der damals eine Edition der Chronik vorbereitete, zu den Wasserzeichen: um 1406/14). Vielleicht darf man das zweite Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts annehmen. Zwischen 1376 und der Datierung der Heidelberger Handschrift muss die Gmünder Kaiserchronik entstanden sein.

Neben den Lirer-Inkunabeln (ab 1485, zunächst in Ulm gedruckt) waren mir 14 von der Druckfassung unabhängige Handschriften bekannt. Ein kurzes Bruchstück in den Deichsler'schen Sammlungen im Staatsarchiv Nürnberg identifizierte später Joachim Schneider. Vier Handschriften, darunter der Cpg 5, überliefern eine Langfassung B.

Peter Johanek und Richard Weber sprachen damals der Langfassung B die Priorität gegenüber der mit einer Erwähnung von Schwäbisch Gmünd im Prolog versehenen Kurzfassung A (durch den Dinckmut-Druck und die späteren Drucke bekannt) zu. Ich habe für das umgekehrte Verhältnis plädiert (1987, S. 162-168). Die Hauptquelle der Gmünder Kaiserchronik, die lateinische Glosse zum Geschichtswerk des Hugo von Reutlingen, hatte ich zu spät ermittelt, um mich noch hinsichtlich der Frage nach der Abhängigkeit der beiden Fassungen darauf stützen zu können. Was B hat, sind, blickt man auf die Quelle, tatsächlich Erweiterungen. Wäre es anders, hätte der Redaktor von A anhand der lateinischen Vorlage die Langfassung B wieder auf die Angaben der Vorlage zurechtstutzen müssen, was man kaum annehmen darf. Bei Willigis vermeidet B die Nennung des Namens Willigis, während A ihn hat. Wäre die Fassung von B ursprünglich, hätte A aus einem anderen Geschichtswerk den Namen ergänzen müssen.

Ignoriert hatte ich die Hinweise Johaneks (in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtzsein im späten Mittelalter, 1987, S. 322) auf eine mittelrheinische Provenienz der Langfassung B, die auch zum Mainzer Bischof Hatto Sondergut hat. Man kann sich leicht anhand des Digitalisats einer zweiten B-Handschrift, des Münchner Cgm 331, davon überzeugen, dass Johanek diese Zusätze fälschlich der von ihm irrig an den Mittelrhein gesetzten Heidelberger Handschrift (Schreibsprache: bairisch) zuwies. Sie gehören der Fassung B als Ganzes an. Diese dürfte nach der Langfassung A am Ende des 14. oder Anfang des 15. Jahrhunderts am Mittelrhein (eventuell in Mainz?) zusammengestellt worden sein.

Die eigenständige Willigis-Tradition der im Cpg 5 überlieferten Langfassung B der Gmünder Kaiserchronik besteht aus zwei Erzählungen: aus einer ätiologischen Erzählung über den Ursprung des Mainzer Wappens und einer Erzählung über das Verhalten des Erzbischofs gegenüber seinem Vater, dem Wagner. Zunächst wird berichtet, dass sich Bürger des Mainzer Stadtrats und die Domherren, die weder Wappen noch Banner bis dahin geführt haben, zu dem Bischof begeben, um ihn zu bitten, er möge vom Kaiser für das Bistum, das Stift und die Stadt Mainz ein Wappen erwirken, damit sie in Feldzügen kenntlich seien. Der Bischof lehnt dies unter Hinweis auf seine bäuerliche Herkunft ab. Als Bischof will er ein Pflugrad im Banner führen, die Stadt Mainz soll zwei Pflugräder und der Dom (also das Domkapitel) den Patron St. Martin führen. Die zweite Erzählung: Bei einer festlichen Veranstaltung lädt der Bischof auch seinen Vater ein, der von den Domherren kostbar eingekleidet wird, da er als schlichter Wagner erschienen war. Aber der Bischof verleugnet seinen Vater und lässt ihn erst dann am Tisch - vor der Ritterschaft - Platz nehmen, als dieser wieder sein Fell angezogen hat.

Dobras meinte, dass der Text aus dem Cpg 5 "möglicherweise Bestrebungen des Domkapitels widerspiegelt, das um 1475 auch über das Wappen die Abhängigkeit der Stadt vom Erzstift nachzuweisen versuchte" (Mail vom 9.1.2013) und verwies auf ein Schreiben von 1475 (vgl. Dobras S. 212 mit Anm. 73), mit dem das Domkapitel die Herrschaft über die Stadt Mainz auch mit dem Wappen begründen wollte. Ich weiß nicht, ob man so weit gehen sollte, denn eine Abwertung der Stadt Mainz zugunsten des Domkapitels ist nicht erkennbar, sieht man davon ab, dass dieses den Dom- und Stiftspatron St. Martin führen darf.

Die ganze Passage unterstreicht die Demut des Erzbischofs, aber auch die ständische Ordnung. Es ist ein Exemplum nicht nur für humilitas, sondern auch für die Gültigkeit der Standesschranken. Willigis soll stets seiner Herkunft eingedenk sein, sein auf diese Herkunft bezügliches Rad hat als Unterscheidungszeichen keinerlei unehrlichen Beigeschmack und ist vollauf ausreichend, und der Vater muss auch in der Kleidung seinem bäuerlichen Stand verbunden bleiben. Dass es ein Wagnerssohn so weit gebracht hat, ist nur auf den ersten Blick ein Beispiel für soziale Mobilität. Die Erweiterungen der Langfassung B schärfen jedoch ein, dass die soziale Ordnung dadurch nicht gesprengt werden darf: Schuster bleib bei deinen Leisten!

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