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Ein weit verbreitetes Sagenmotiv erzählt vom Betrug an einer blinden Schwester, die mit einem umgedrehten Getreidemaß übervorteilt wird.

Ein Schlossbesitzer von Beinstein (im Remstal), "ein sehr reicher Herr, hinterließ nach seinem Tode 3 Töchter, wovon eine blind war. Wie es nun zur Theilung kam, maaßen die Schwestern ihr Geld in einem Simrimaß. Ihrer blinden Schwester aber stürzten sie das Maaß um, hießen sie es betasten, um sie zu überzeugen, daß sie ihren rechtmäßigen Antheil bekommen habe. Dieweil nun die beiden Schwestern ihre blinden Schwestern so betrogen hatten, so lief nach ihrem Tode der Geist der älteren, welche mehr Schuld hatte, in einem Wiesenthale der Rems". So eine Aufzeichnung von H. Wagner vom August 1846 für seinen Lehrer Albert Schott in Stuttgart, von mir aus der ungedruckten Sagensammlung Schotts 1995 in meinen "Sagen rund um Stuttgart" (1995) Nr. 90 veröffentlicht.

http://books.google.de/books?hl=de&id=DCbaAAAAMAAJ&pg=PA89

Die Vorlage ist inzwischen online:

http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/bsz383599229/page/85

In der Anmerkung verwies ich auf Parallelen in einer Owener Sage bei Ernst Meier 1852

https://books.google.de/books?id=nnUAAAAAcAAJ&pg=PA33
[vgl. Graf: Sagen der Schwäbischen Alb (2008), Nr. 177]

und einer Schlierbacher Sage bei Jürgen Kettenmann. Aus dem Schwäbischen könnte man beispielsweise auch die Ertinger Sage bei Birlinger/Buck 1861 nennen:

http://www.zeno.org/nid/20004561805

Eine badische Sage bei Baader 1851:

https://books.google.de/books?id=f6k7AAAAcAAJ&pg=PA173

Dem "Scheffelmaß" ist ein Artikel in der Enzyklopädie des Märchens gewidmet

https://books.google.de/books?id=_OLWr394Mw8C&pg=RA1-PA323 (nur der Anfang frei)

Hier und in Uthers KHM-Handbuch (²2013)

https://books.google.de/books?id=U9jmBQAAQBAJ&pg=PA286

wird das Betrugs-Motiv mit dem seit dem 11. Jahrhundert belegten Motiv vom geliehenen Scheffelmaß, mit dem Geld gezählt wird, zusammengebracht. Das Scheffelmaß ist aber nur ein Erzählrequisit, das in unterschiedlichen Motiven und Stoffen erscheinen kann. Von "dem" Scheffelmaß-Motiv zu sprechen erscheint mir irreführend. Das Motiv vom geliehenen Scheffelmaß und das Motiv der betrogenen blinden Schwester sollte man als zwei unterschiedliche Motive behandeln, wenngleich beiden gemeinsam ist, dass Geld mit einem Getreidemaß (das je nach Region anders heißen konnte, oben etwa Simri) gemessen wird.

Die maßgebliche Darstellung zum Motiv hat Hans-Jörg Uther 1981 vorgelegt (Behinderte in populären Erzählungen, S. 123-127). Er geht von der Rheinsage von den feindlichen Brüdern, die sich an die Burgen Liebenstein und Sternberg knüpft, aus. Schon Hedwig Jacke hatte 1932 diese Sage detailliert untersucht (Die Sage von den feindlichen Brüdern [...]). Sowohl in der Reisebeschreibung des Utrechters Arnold Buchel 1587

https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Datei:Annalen_des_Historischen_Vereins_f%C3%BCr_den_Niederrhein_84_(1907).djvu&page=30

als auch in Dielhelms Rheinischem Antiquarius (Ausgabe 1744, S. 635)

https://books.google.de/books?id=XPsOAAAAQAAJ&pg=PA637

wird den feindlichen Brüdern eine Schwester beigegeben, die eine Kapelle errichtet habe. Bei Dielhelm heißt es, die blinde Schwester habe mit ihrem Erbteil drei Andachten (also Gotteshäuser) angelegt.

Diese drei Gotteshäuser begegnen auch in einer rheinhessischen Sage, die sich an die Bergkirche zu Udenheim knüpft. Die übervorteilte Schwester spricht die Prophezeiung aus, dass die von den beiden betrügerischen Schwestern gestifteten Kirchen keinen Bestand haben würden. Die Sage begegnet in der Wikipedia, aber auch auf den Seiten des Mommenheimer Geschichtsvereins

http://www.historia-mommenheim.de/wussten-sie-schon/die-sage-von-den-drei-schwestern.html

Ich finde sie schon bei Wagner 1865:

https://books.google.de/books?id=AI8AAAAAcAAJ&pg=RA1-PA124

Dass dort noch nicht die Art des Betrugs mit dem umgedrehten Scheffelmaß steht, erscheint mir unschädlich. Realschullehrer Grimm hat in seiner Mommenheimer Chronik die komplette Sage 1912/13

http://www.historia-mommenheim.de/fileadmin/Rheinhessenportal/Orte/Mommenheim/grimm_chronik_mommenheimTeil2.pdf

mit der Angabe, Greim habe sie als erstes veröffentlicht, was auf das Jahr 1884 weist (Quartalblätter [...]):

https://www.google.de/search?q=%22sage+aus+mommenheim%22&tbm=bks

Jünger ist sicher die Publikation von Lehrer Eß, auf die in den Hessischen Blättern für Volkskunde 1911 aufmerksam gemacht wird:

http://hdl.handle.net/2027/inu.30000108649041?urlappend=%3Bseq=47 (US)

Es erscheint mir nicht plausibel, einen direkten Einfluss der bei Bornhofen lokalisierten Burgen-Überlieferung auf die rheinhessische Sage anzunehmen. In beiden Fällen stiften drei Geschwister jeweils ein Gotteshaus, in beiden Fällen gibt es eine blinde Schwester und eine Erbteilung. Das Betrugsmotiv fehlt in den beiden ältesten Zeugnissen der Burgen-Überlieferung, ist aber schon in der ältesten mir bekannten Version (1865) der rheinhessischen Sage präsent. Daraus den Schluss zu ziehen, dass schon vor 1587 im Rheingebiet eine Kombination der beiden Motive (Stiftung von drei Kirchen, Betrug an der blinden Schwester mit umgedrehtem Scheffel) vorhanden war, erscheint mir nicht zu gewagt. Die beiden frühneuzeitlichen Zeugnisse der Burgen-Sage geben diese Erzählung nur fragmentarisch wieder.

(Auf Spekulationen zur Dreizahl - Fortleben von Matronenkulten in Form der Verehrung von drei weiblichen Heiligen bzw. drei waldschenkende Stifterinnen bei Hans Jänichen: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des schwäbischen Dorfes (1970), S. 211-213 - gehe ich nicht ein.)

Die weitergehende Annahme, dass es schon im 16. Jahrhundert bei Bornhofen und bei Mommenheim diese Überlieferung gegeben habe, ist dadurch keineswegs impliziert. Die Kontinuität betrifft das Schema und die gemeinsame Region, nicht die lokalen Instanzen des Erzähltyps. Es ist also durchaus möglich, dass sich erst im 19. Jahrhundert die Sage an die Udenheimer Bergkirche angelagert hat. Und es ist möglich, dass erst im 19. Jahrhundert die Rheinsage anhand der verbreiteten Überlieferung vom Betrug an der blinden Schwester gleichsam "rekonstruiert" wurde. Offensichtlich waren die in der frühneuzeitlichen Reise-Literatur kolportierten Fragmente nicht sinnlos, sondern hinreichend bedeutsam, um tradiert zu werden.

Das hypothetische Ergebnis, dass es das Motiv mit der blinden Schwester wohl schon im 16. Jahrhundert gegeben hat, steht im Widerspruch zur kanonischen Deutung der Rheinsage bei Uther, der in Georg Christian Braun den eigentlichen "Erfinder" der "Volkssage" sah (S. 126). Uther betont den großen Einfluss des Germanisten Karl Simrock, der 1838/40 auf die Version Brauns zurückging und diese in der dritten Auflagen seiner vielgelesenen (poetischen) Rheinsagen weiter popularisierte. Simrock wollte der "eigentlichen Volkssage" wieder zu ihrem Recht verhelfen, nachdem die romantische Version der Brüder-Sage bisher die literarischen Fassungen dominiert hatte.

https://books.google.de/books?id=IoNOAAAAcAAJ&pg=PA572

Auch Alexander Kaufmann brachte in seinen "Quellenangaben" zu Simrocks Rheinsagen die Brüdersage mit dem vor allem aus Panzers bayerischen Sagen bekannten Motiv von der betrogenen Schwester zusammen.

https://books.google.de/books?id=K5k6AAAAcAAJ&pg=PA84

Zu der von Niklas Vogt erfundenen romantischen Brüder-Sage vgl. jüngst Matthias Schmandt: Sagenhafte Reiseziele. In: Befestigungen und Burgen am Rhein (2011), S. 123-150, hier S. 129-134. Zur rheinischen Sagen-Romantik ist zusammenfassend der Artikel "Rheinromantik" von Helmut Fischer in der Enzyklopädie des Märchens zu vergleichen sowie die Materialien auf meiner ehemals Freiburger Website, archiviert unter

http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:929:01-3930 (leider kein deep link möglich)

und jüngst ein Aufsatz von mir über Alfred von Reumont als Sagen-Autor in einem Sammelband über diesen Autor hrsg. von Frank Pohle (im Druck).

Uther führte die weite Verbreitung des Motivs von der betrogenen Schwester in Sagensammlungen, die für das Göttinger Peuckert-Archiv und das HDA-Archiv ausgewertet wurden (über 45 Varianten aus der Rheingegend, Oberpfalz, Schweiz, Schwaben, Bayern, Böhmen und Österreich), auf die "reiche Tradition" (S. 126) der gedruckten Rheinsagen-Sammlungen auseinander.

Uther bezog sich auf die Verse Brauns in dessen "Rheintal" (Mainz 1828). Weder er noch Jacke zitierten die von Braun im Anhang mitgeteilte Prosaversion, die dieser im Mai 1826 von einem alten Schiffer gehört haben wollte.

https://books.google.de/books?id=SnI6AAAAcAAJ&pg=PA277

die beiden Brüder, welche dort auf den Burgen wohnten, hatten eine blinde Schwester, welche die Erbschaft mit ihnen theilte. Sie massen das Geld mit Scheffeln und jedesmal, wenn es für die Schwester war, kehrten sie den Scheffel um und belegten ihn nur mit Geldstücken, so daß diese also zu kurz kam. Aber mit dem Gelde der Betrognen war Gottesseegen; sie stiftete 3 Andachten damit, die Brüder hingegen geriethen in Zwist und das Ihrige war wie gewonnen, so zerronnen.

Braun müsste diese Quellenangabe fingiert haben, wäre er im Sinne Uthers der "eigentliche Erfinder" der Sage von der betrogenen Schwester gewesen. So sehr mir die Abhängigkeit der Schwesternsage von einer schriftlichen Vorlage auch sympathisch war - zu meinen Sagen-Studien siehe

http://archiv.twoday.net/stories/4990762/ - bei der Lektüre von Uthers Argumentation kamen mir Zweifel. Ich sprach Uther vor vielen Jahren darauf an. Die Sage müsse sich ab 1828 geradezu explosionsartig in ganz Deutschland ausgebreitet haben, da ich andere Lokalisierungen ab den 1840er Jahren kannte, gab ich zu bedenken. Dergleichen sei ja kein Einzelfall, erwiderte Uther, ohne konkrete Parallelen zu nennen.

Solange ich keinen von der Rheinsage unabhängigen Beleg für das Motiv von der betrogenen blinden Schwester vor 1828 vorweisen konnte, war es mir nicht möglich, Uther schlüssig zu widerlegen. Obwohl ich viele Sagensammlungen sichtete, fand ich keine frühere Version. Aber vor wenigen Tagen half mir Google Books.

Im Pinzgau (Land Salzburg) ist eine Sage vom Ritter Lamprecht populär, die sich an die dortige Lamprechtshöhle knüpft und den Betrug mit dem Scheffel an der blinden Schwester kennt.

http://www.lamprechtshoehle.at/sagen-lamprechtshoehle-legenden-ritter

Sie erscheint bereits in der "Aurora" von 1828

https://books.google.de/books?id=DMBDAAAAcAAJ&pg=PT211

und zuvor schon in Raisers Zeitschrift für Bayern 1817 in kürzerer Form.

https://books.google.de/books?id=S4ETAAAAYAAJ&pg=PA117

Damit ist das Betrugs-Motiv im Alpenraum für 1817 (also vor Braun 1828) belegt. Braun kann diesen Stoff also nicht erfunden haben.

Bislang sind weder frühneuzeitliche noch internationale Varianten des Motivs bekannt. Dass es solche nicht gegeben hat, lässt sich daraus nicht folgern. Bis 1993 dachte man, der Erstbeleg für das Wort "Raubritter" stamme aus dem Jahr 1847. Dann fand ich einen Beleg 1810, später auch einen für 1799. 2005 publizierte ich das Jahr 1798 als Erstbezeugung, in Archivalia dann 2007 1781, gefunden mit Google Books. 2011 machte dann Kurt Andermann durch einen Fund zu 1672 meine Ergebnisse zu Makulatur.

http://archiv.twoday.net/stories/18118553/

Es ist durchaus denkbar, dass künftig (z.B. in Digitalisaten) noch ältere Belege für die Erzählung von der blinden Schwester gefunden werden.

Natürlich wäre es Unsinn, nun von einer uralten volkstümlichen Überlieferung womöglich mit mythologischem Hintergrund zu faseln, wie man es im 19. Jahrhundert getan hat. Und dass die populäre Rheinsage ab den 1840er Jahren in gedruckter Form wichtige Impulse für die Verbreitung des Stoffs gegeben hat, erscheint mir mit Uther als sehr wahrscheinlich. Aber die Zurückführung auf Braun 1828 muss gestrichen werden, es gab schon früher - und vermutlich nicht nur im Salzburgischen - solche Überlieferungen.

Dieses Ergebnis erscheint mir methodisch um so haltbarer, als es unabhängig voneinander mit zwei verschiedenen Argumentationen erzielt wurde. Zunächst einmal habe ich die beiden frühneuzeitlichen Bezeugungen der Burgen-Überlieferung bei Bornhofen und eine rheinhessische Sage des 19. Jahrhunderts auf ein gemeinsames Schema zurückgeführt, zu dem das Motiv von der betrogenen blinden Schwester gehörte. Dieses Schema gab es anscheinend im Rheinland schon vor 1587.

Im zweiten Schritt wies ich das Motiv für den Alpenraum schon 1817 nach und widerlegte damit die zu weitgehende Deutung Uthers, der Braun 1828 als Erfinder der Volkssage ansah. Es ist durchaus möglich, dass der alte Schiffer 1826 Braun eine alte Lokaltradition mitteilte, die von der romantischen Brüdersage überlagert wurde. Notwendig ist diese Annahme keineswegs. Die 1587 und bei Dielhelm im 18. Jahrhundert fassbaren "Fragmente" konnten anhand des andernorts greifbaren mündlichen Motivs "rekonstruiert" werden. Es ist also überhaupt nicht vonnöten, für den Raum Bornhofen eine längere Kontinuität des voll ausgebildeten Motivs vor 1826 zu postulieren, wie dies romantisches Wunschdenken möchte.

Lokale Überlieferungen konnten stark fluktuieren, sie konnten abbrechen und später etwa anhand gedruckter Quellen kanonischen Schemata angepasst werden. Dem Schema/Motiv kommt Kontinuität zu, nicht notwendigerweise der Lokaltradition. Das Sagenmotiv "Blinde Schwester wird mit umgekehrtem Scheffelmaß betrogen" scheint es jedenfalls schon im Rheinland des 16. Jahrhunderts gegeben zu haben.

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