Harald Tersch: Schreibkalender und Schreibkultur. Zur Rezeptionsgeschichte eines frühen Massenmediums (= Schriften der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare 3), Wolfgang Neugebauer Verlag GesmbH: Graz-Feldkirch 2008, 120 S.
ISBN 978-3-85376-283-7. EUR 24,80 ; EUR 18,60 für Mitglieder der VÖB.
Weder die ungewöhnliche Drohung des Verlags, die dem heute erhaltenen Rezensionsexemplar beilag - "falls bis 30.9. 2009 keine Besprechung veröffentlicht wurde (Erhalt Belegex.), wird Ihnen das obige Buch in Rechnung gestellt (EUR 24,80)" - noch der an Wucher angesichts des Umfangs grenzende Preis soll davon abhalten, eine wichtige Neuerscheinung zu einem Thema zu würdigen, mit dem wir uns hier bereits des öfteren befasst haben:
http://archiv.twoday.net/search?q=schreibkalend
Harald Tersch, einer der besten Kenner frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse, untersucht in seiner Wiener Master-Thesis eine faszinierende Quellengattung: die Schreibkalender, also Kalenderdrucke, die dafür bestimmt waren oder dazu genutzt wurden, tagebuchartige Aufzeichnungen aufzunehmen. Tersch hat in zahlreichen österreichischen Archiven und Bibliotheken zahlreiche solche Schreibkalender ermittelt. Darüber hinaus hat er die außerordentlich verstreute Sekundärliteratur sowie die vereinzelten Ausgaben von Schreibkalender-Aufzeichnungen ausgewertet.
Kalenderdrucke waren ein Massenmedium, das bereits wiederholt buchgeschichtliches Interesse gefunden hat, während die in ihnen erhaltenen handschriftlichen Aufzeichnungen von den Bibliographen meist ignoriert wurden. Der erste bekannte Kalender, der für solche Einträge genutzt wurde, war ein 1499 gedruckter Almanach. Eines der ältesten Exemplare, Aventins "Haus-Kalender" blieb nur durch einen glücklichen Zufall in München erhalten, denn man hatte in der Staatsbibliothek den Urheber der handschriftlichen Einträge nicht erkannt, den Druck gegenüber den "unbefleckten" Exemplaren wohl auch als minderwertig angesehen und ihn zu den (für den Verkauf vorgesehenen) "Dubletten" gestellt:
http://mdz10.bib-bvb.de/~db/0001/bsb00010238/images/index.html?seite=14
Diese Ignoranz wiederholt sich unter digitalen Vorzeichen. Im Oktober 2008 stieß ich unter den Münchner Digitalisaten auf einen in Bautzen gedruckten Schreibkalender auf das Jahr 1575. Ich konnte ermitteln, dass die Aufzeichnungen nach Leipzig gehören:
http://archiv.twoday.net/stories/5289664/
Es ist nicht damit zu rechnen, dass das angefragte Stadtarchiv Leipzig, das bei seiner Antwort vor allem an seine Gebührenordnung dachte, diesen kleinen Internet-Fund der lokalen Geschichtsforschung zugänglich macht. Selbstverständlich habe ich ihn auch der Bayerischen Staatsbibliothek mitgeteilt, und aus wissenschaftlicher Sicht wäre nichts naheliegender als die Existenz Leipziger Aufzeichnungen in den Metadaten des Digitalisats zu vermerken. Selbstverständlich dürfen wir darauf nicht hoffen, da die Metadaten zu dem ganz und gar nicht provenienzorientierten Digitalisierungsprojekt VD 16-2 gehören und für eine exemplarspezifische Erschließung von Drucken der Bayerischen Staatsbibliothek vermutlich erst in den nächsten Jahrzehnten Richtlinien erarbeitet werden. So kann man nur hoffen, dass Interessenten auf meinen Archivalia-Eintrag aufmerksam werden.
Tersch stellt Familiennotizen und Kinderverzeichnisse vor, die ja bereits in spätmittelalterlichen Handschriften begegnen, aber auch das Angebot der reformatischen "Historienkalender" wie Ebers "Calendarium historicum". Er macht deutlich, dass "Schreibdisziplin" ein wichtiges Motiv für die Führung der Kalender war und dass sie Teil der zeitgenössischen Geschenkkultur waren. Er würdigt Schreibkalender überzeugend als Einheit von Druck, Schrift und Einband und stellt ihren Bedeutungsverlust seit der Aufklärungszeit dar.
Kurzum: Es liegt nichts weniger als ein aus souveräner Quellenkenntnis entstandenes Standardwerk vor, auf das man bei jeder ernsthaften Beschäftigung mit Schreibkalendern wird zurückgreifen müssen.
Leider ist die Abbildungsqualität unbefriedigend. Es wäre zu wünschen, Terschs schmale Monographie würde Erschließungsaktivitäten in den Archiven und Bibliotheken auslösen. Wir brauchen dringend ein Verzeichnis der "gebrauchten" Schreibkalender, und diese sollten auch digitalisiert der Forschung zur Verfügung gestellt werden.
Schreibkalender mit Leipziger Eintragungen
Update: Eine gekürzte und mit meiner Zustimmung zensierte Druckfassung obiger Rezension findet sich unter:
http://www.univie.ac.at/voeb/php/publikationen/vm/voebmitt6220092/
ISBN 978-3-85376-283-7. EUR 24,80 ; EUR 18,60 für Mitglieder der VÖB.
Weder die ungewöhnliche Drohung des Verlags, die dem heute erhaltenen Rezensionsexemplar beilag - "falls bis 30.9. 2009 keine Besprechung veröffentlicht wurde (Erhalt Belegex.), wird Ihnen das obige Buch in Rechnung gestellt (EUR 24,80)" - noch der an Wucher angesichts des Umfangs grenzende Preis soll davon abhalten, eine wichtige Neuerscheinung zu einem Thema zu würdigen, mit dem wir uns hier bereits des öfteren befasst haben:
http://archiv.twoday.net/search?q=schreibkalend
Harald Tersch, einer der besten Kenner frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse, untersucht in seiner Wiener Master-Thesis eine faszinierende Quellengattung: die Schreibkalender, also Kalenderdrucke, die dafür bestimmt waren oder dazu genutzt wurden, tagebuchartige Aufzeichnungen aufzunehmen. Tersch hat in zahlreichen österreichischen Archiven und Bibliotheken zahlreiche solche Schreibkalender ermittelt. Darüber hinaus hat er die außerordentlich verstreute Sekundärliteratur sowie die vereinzelten Ausgaben von Schreibkalender-Aufzeichnungen ausgewertet.
Kalenderdrucke waren ein Massenmedium, das bereits wiederholt buchgeschichtliches Interesse gefunden hat, während die in ihnen erhaltenen handschriftlichen Aufzeichnungen von den Bibliographen meist ignoriert wurden. Der erste bekannte Kalender, der für solche Einträge genutzt wurde, war ein 1499 gedruckter Almanach. Eines der ältesten Exemplare, Aventins "Haus-Kalender" blieb nur durch einen glücklichen Zufall in München erhalten, denn man hatte in der Staatsbibliothek den Urheber der handschriftlichen Einträge nicht erkannt, den Druck gegenüber den "unbefleckten" Exemplaren wohl auch als minderwertig angesehen und ihn zu den (für den Verkauf vorgesehenen) "Dubletten" gestellt:
http://mdz10.bib-bvb.de/~db/0001/bsb00010238/images/index.html?seite=14
Diese Ignoranz wiederholt sich unter digitalen Vorzeichen. Im Oktober 2008 stieß ich unter den Münchner Digitalisaten auf einen in Bautzen gedruckten Schreibkalender auf das Jahr 1575. Ich konnte ermitteln, dass die Aufzeichnungen nach Leipzig gehören:
http://archiv.twoday.net/stories/5289664/
Es ist nicht damit zu rechnen, dass das angefragte Stadtarchiv Leipzig, das bei seiner Antwort vor allem an seine Gebührenordnung dachte, diesen kleinen Internet-Fund der lokalen Geschichtsforschung zugänglich macht. Selbstverständlich habe ich ihn auch der Bayerischen Staatsbibliothek mitgeteilt, und aus wissenschaftlicher Sicht wäre nichts naheliegender als die Existenz Leipziger Aufzeichnungen in den Metadaten des Digitalisats zu vermerken. Selbstverständlich dürfen wir darauf nicht hoffen, da die Metadaten zu dem ganz und gar nicht provenienzorientierten Digitalisierungsprojekt VD 16-2 gehören und für eine exemplarspezifische Erschließung von Drucken der Bayerischen Staatsbibliothek vermutlich erst in den nächsten Jahrzehnten Richtlinien erarbeitet werden. So kann man nur hoffen, dass Interessenten auf meinen Archivalia-Eintrag aufmerksam werden.
Tersch stellt Familiennotizen und Kinderverzeichnisse vor, die ja bereits in spätmittelalterlichen Handschriften begegnen, aber auch das Angebot der reformatischen "Historienkalender" wie Ebers "Calendarium historicum". Er macht deutlich, dass "Schreibdisziplin" ein wichtiges Motiv für die Führung der Kalender war und dass sie Teil der zeitgenössischen Geschenkkultur waren. Er würdigt Schreibkalender überzeugend als Einheit von Druck, Schrift und Einband und stellt ihren Bedeutungsverlust seit der Aufklärungszeit dar.
Kurzum: Es liegt nichts weniger als ein aus souveräner Quellenkenntnis entstandenes Standardwerk vor, auf das man bei jeder ernsthaften Beschäftigung mit Schreibkalendern wird zurückgreifen müssen.
Leider ist die Abbildungsqualität unbefriedigend. Es wäre zu wünschen, Terschs schmale Monographie würde Erschließungsaktivitäten in den Archiven und Bibliotheken auslösen. Wir brauchen dringend ein Verzeichnis der "gebrauchten" Schreibkalender, und diese sollten auch digitalisiert der Forschung zur Verfügung gestellt werden.
Schreibkalender mit Leipziger Eintragungen
Update: Eine gekürzte und mit meiner Zustimmung zensierte Druckfassung obiger Rezension findet sich unter:
http://www.univie.ac.at/voeb/php/publikationen/vm/voebmitt6220092/
KlausGraf - am Montag, 6. April 2009, 23:14 - Rubrik: Hilfswissenschaften