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Kommunalarchive

" .... Der Einsturz des Kölner Stadtarchivs hat auch die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) getroffen. Mehr als 300 Plakate und kistenweise andere Unterlagen waren dort als Dauerleihgabe zu Forschungszwecken gelagert. .....
„Unser Archiv umfasste Dokumente aus 40 Jahren sozialer Kämpfe in unserer Stadt“, so SSM-Vorstand Rainer Kippe. Zu den vermissten Stücken gehörten unter anderem Kurt Holls seltenes Buch „68 am Rhein“, Plakate zu diversen Affären und Skandalen in der Kölner Lokalpolitik oder Unterlagen zur Vereinsgeschichte. „Darunter befanden sich auch Papiere der 1969 gegründeten Sozialistischen Selbsthilfe Köln, von der wir uns 1986 abspalteten, sowie befreundeter Initiativen aus Dortmund, Wuppertal, Bensberg und anderen Städten“, berichtet Mitarbeiter Heinz Weinhausen, der die Ausstellung organisiert.
Kippe gewinnt der kulturellen Katastrophe an der Severinstraße aber auch etwas Positives ab: „So ein Einsturz kann natürlich auch etwas Gutes haben - die Menschen merkten dadurch, wie wertvoll historische Dokumente sind.“ ...."

Quelle:
http://www.ksta.de/html/artikel/1238966813540.shtml

Link:
http://www.ssm-koeln.org

" .... Das Museum Folkwang greift dem Kölner Stadtarchiv unter die Arme: 10.000 Plakate, die aus den Trümmern geborgen wurden, werden in Essen eingelagert. Für einige Exponate kommt wahrscheinlich jede Hilfe zu spät.
Der Anblick schmerzt die Archivare: Eingeschweißt in Plastik rollen die Kunstwerke - oder das was davon übrig ist - auf 15 Paletten an. In den Räumen des Plakatmuseums im Folkwang finden sie eine vorübergehende Heimat.
René Grohnert, Leiter des Deutschen Plakat Museums: "Wir haben den Kollegen in Köln sofort nach dem Unglück unsere Hilfe angeboten. Die Plakate werden in unseren Depoträumen, die den klimatischen und sicherheitstechnischen Anforderungen entsprechen, Platz finden."
Alle Plakate wurden noch in Köln gereinigt, getrocknet, grob vorsortiert und verpackt. Einige Plakate sind unversehrt, andere nur noch als Fragmente zu erkennen. Ebenfalls aufgenommen wurden großformatige Fotografien und Baupläne. Unter den geborgenen Werken sind unter anderem Plakate aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, Plakate zu Regional- und Landtagswahlen sowie zu kulturellen Veranstaltungen im Kölner Raum bis in die 1990er-Jahre. ....."

Quelle:
http://www.derwesten.de/nachrichten/kultur/2009/4/15/news-117183864/detail.html

Zum 1. Tagesbericht: http://archiv.twoday.net/stories/5643191/

http://www.taz.de/1/leben/buch/artikel/1/koeln-contra-koeln/

Auszüge:

13.20 Uhr. Im Shuttlebus erzählt eine Archivarin, der Busfahrer sei heute zu früh von der Unterkunft losgefahren. Einige müssen nun per S-Bahn und Linienbus nachkommen. [...]

Dasselbe im Kleinen: Mindestens der Kulturdezernent hätte die vielen Nachlassgeber vertrösten müssen, die noch immer nicht wissen, was aus ihren Schenkungen, Leihgaben oder Verkäufen an das Stadtarchiv geworden ist. Schon zwei Wochen nach dem Einsturz, als der Unmut sich zu regen begann, hätte die Stadt zur großen Krisensitzung laden müssen, um öffentlich zu erklären, warum sie noch nichts erklären kann. Dann eine Fragestunde, in der die Betroffenen ihr Herz ausschütten. So wäre Zeit gewonnen gewesen. Doch die Stadt schwieg.

Erst in vier Wochen soll nun eine Konferenz mit den Gebern stattfinden. Offenbar von den geplagten Stadtarchivaren ausgerichtet, nicht von der Stadtspitze. Da ist sie wieder, diese Unverantwortlichkeit. Ob der OB hinkommt? Kein Wunder, dass auch auf den KVB-Bus kein Verlass ist.

15.30 Uhr. Vor mir liegt eine Akte mit der Signatur KcK, "Köln contra Köln." Unter diesem Titel haben Archivare aus allen möglichen Aktenbeständen Schriftstücke herausgelöst, die die Streitigkeiten zwischen Stadt und Erzbischof darstellten. KcK gehört zu den berüchtigten Kölner "Pertinenzbeständen".

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bildeten Archivare aus altem Schriftgut neue Sachgruppen. Wo etwas zu zwei oder drei neuen Themen passte, wurde es abgeschrieben und eine Kopie zum neuen Betreff gelegt. Nur notierten die Archivare nicht, woher sie ihre Texte nahmen. Auch "Köln contra Köln" ist deswegen ein gewaltiges Durcheinander. Deswegen sorgen Archivare heutzutage dafür, dass Schriftgut gleicher Herkunft zusammenbleibt.

Hier zeigt sich die skurrilste Folge des Einsturzes: Zahllose Aktenordner sind nun in einzelne Blätter zerlegt. Diesen Massen werden wir nicht anders beikommen, als aus ihnen Themengruppen zu bilden. In der Katastrophe feiert das Pertinenzprinzip seinen letzten Triumph.

Um eine erforderliche Kontinuität herzustellen, beabsichtigt die Stadt Köln die mehrmonatigen Einsatz geeigneter 1-€-Kräften bei der Erstversorgung des Archivguts.
Quelle:
http://www.express.de/nachrichten/region/koeln/jetzt-muessen-ein-euro-jobber-am-stadtarchiv-ran_artikel_1235811516623.html

"Eine Tagung erfahrener Experten wird sich am 24. Juni 2009 in Köln mit den Konsequenzen aus dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs befassen. Nordrhein-Westfalen wird damit zu einer Diskussion um die Sicherung von Archiven als internationale Aufgabe beitragen. Rüttgers: „Die Archivalien von Köln sind europäische, sind internationale Kulturgüter. Die Dokumente aus dem Mittelalter etwa haben als abendländische universale Quellen einen unermesslichen Wert für Forscher aus aller Welt. Ein weiteres Beispiel ist der Nachlass unseres Nobelpreisträgers Heinrich Böll: Der Nachlass gehört allen Menschen, die sich mit Literatur auseinandersetzen.“ Solche Kulturgüter dürften nie wieder gefährdet werden, so Jürgen Rüttgers. Daher müssten Wissenschaft, Staat und gesellschaftliche Organisationen sich zentral mit der Frage beschäftigen, wie Archive gesichert werden können. Wie dringend diese Frage der Sicherung kultureller Überlieferung ist, hat erneut die Erdbebenkatastrophe in Mittelitalien, in alten Orten mit wertvoller historischer Substanz, gezeigt.
Die Expertenanhörung wird mit einer Rede von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers eröffnet. Die Fachleute werden sich im Plenum und drei Arbeitsgruppen mit den Themen der besonderen Sicherheitsanforderungen an Archive, möglichen Prä­ventionsmaßnahmen sowie der Sicherung der Quellen durch Verfilmung und Digitalisierung beschäftigen. Im Ergebnis sollen Mindestanforderungen erarbeitet werden, die jedem Archivträger zur Verfügung gestellt werden können.
Die Landesregierung befasst sich seit dem Unglück in Köln intensiv da­mit, die verschiedenen Hilfsaktivitäten zur Bergung und Restaurierung der Archivalien zu koordinieren sowie Maßnahmen zur Sicherung und künftige Konsequenzen zu prüfen.
Sofort nach dem Unglück hat sich eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich vorwiegend mit der Organisation von Bergung und Restaurierung des Archivguts befasst. Ihr gehören Mitarbeiter des Landesarchivs, der beiden Landschaftsverbände des Kölner Stadtarchivs und weiterer regionaler Archivverbände an. Diese Gruppe tagt regelmäßig auch mit Vertretern der Staatskanzlei.
Eine weitere Gruppe beschäftigt sich mit den Konsequenzen, die aus dem Einsturz zu ziehen sind. Diese Gruppe bereitet auch die Experten­anhörung am 24. Juni 2009 vor.
Ministerpräsident Jürgen Rüttgers wertet es als einen ersten Erfolg, dass bereits jetzt mehr als die Hälfte der verschütteten Archivalien ge­borgen werden konnten. Das sei nicht zuletzt den vielen Helfern aus allen Teilen Deutschland zu verdanken. Ihnen gilt der Dank nicht nur des Landes, sondern aller, denen unser kulturelles Gedächtnis, das in den vielen Archiven bewahrt wird, am Herzen liegt. Ein Großteil der Rettungsarbeiten liegt aber noch vor uns. Deshalb bittet der Minister­präsident alle an der Rettungsaktion Beteiligten, sich weiter zu enga­gieren.
Ministerpräsident Rüttgers bedankt sich gleichzeitig für die Bewilligung einer Soforthilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Mit 600.000 Euro unterstützt sie die Digitalisierung von Findmitteln. Bei diesen Findmitteln handelt es sich um detailgetreue Verzeichnisse von Archivalien aus verschiedenen Jahrhunderten. Sie sind die Schlüssel zu den umfangreichen Beständen des eingestürzten Archivs.."

Quelle:
http://www.nrw.de/Presseservice/meldungen/04_2009/090415STK.php

" ..... Katharina Corsepius sorgt dafür, dass dieser Strom nicht abreißt. Die Kunsthistorikerin und Doktorin an der Uni Bonn schätzt, dass erst zehn Prozent der verschütteten und teils durchnässten Akten gerettet werden konnten. "Es ist wirklich ganz schön, dass die Rekrutierung neuer Helfer bisher so gut nach dem Schneeballsystem funktioniert", sagt Corsepius. Sie werde auch weiter für Helfer aus der Uni trommeln. ....."
Quelle:
http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,618518,00.html#ref=rss

" ..... Dass wir sorgfältiger mit uns und unserer Geschichte umgehen müssen. Es geht nicht um irgendein Gebäude in Köln, das zusammengefallen ist, sondern um unser historisches Gedächtnis. Dieser Einsturz ist daher ein gesellschaftliches Problem, da muss sich auch die Politik mehr engagieren. Das Know-how ist da, die Konzepte auch, es muss lediglich finanziert werden. Wir brauchen generell ein größeres Bewusstsein für unsere Archive, denn sie bewahren unsere Geschichte und machen sie erforschbar......"
Jochen Hermel (29), Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn, schreibt an Dissertation mit der Integration von Zuwanderern in der Stadt Köln im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert.
Quelle:
http://www.welt.de/die-welt/article3551415/Resignation-kann-und-will-ich-mir-nicht-leisten.html

http://www.taz.de/1/leben/buch/artikel/1/%5Cwir-lesen-nicht%5C/

Streng abgeschirmt in einer Halle werden die Urkunden und Akten aus dem eingestürzten Kölner Stadtarchiv erstversorgt. Unser Autor arbeitete vier Tage mit. Heute: Tag eins seines Protokolls. VON DIETMAR BARTZ

[...] 18 Uhr. Die Johanniter servieren Abendessen. Es gibt Wurst, Käse, Graubrot und Vollkornbrot, das nach Aromastoffen riecht. Kein Obst, kein Salat. Kalte Bockwürstchen ohne Senf. Plastikgeschirr und -besteck. Ein Behälter mit kaltem Kaffee. Kein Tee.

Am Tisch: ein Restaurator aus Uppsala, eine Uni-Archivarin aus Basel, eine Stadtarchivarin aus Arnheim, drei Tschechen aus einem sudetenländischen Regionalarchiv, drei Konservatorinnen aus Antwerpen, einige Deutsche. Vor den Ausländern schäme ich mich für dieses Essen. Eine Antwerpenerin höflich: "Its kind of basic." Der Stadtarchivar von B.: "Die Tendenz zur Kälte ist offensichtlich." Eine Professorin aus S.: "Sonst heißt es noch, wir wären wegen des guten Essens gekommen." Wir befinden uns in Woche fünf nach dem Einsturz.


[Kommentar KG: Das Essen war bei uns OK, es gab auch immer genug mehrere Getränke zur Auswahl. Einmal gabs Gulaschsuppe ohne Brötchen - so what? Der Kaffee, den ich trank, war immer heiß.]

Spekulationen über das, was auf das EVZ noch zukommt. Haben sie nicht 60 Mischerladungen Beton im Boden versenkt, um ihn zu stabilisieren? Lag da Archivgut? Und wo steht eigentlich das Grundwasser? Niemand am Tisch weiß Bescheid, alle sind schlecht informiert. Wozu hat die Stadt Köln eine Pressestelle? Warum keine brauchbare städtische Webseite, keine Onlineauskunft?

Über unsere Einsatzplanung wird am Tisch nur geseufzt. Einige Schichten waren offenbar deutlich unterbesetzt. Und auf die Mails mit Hilfsangeboten reagierte die Stadt wochenlang nicht. Dann kam die Anforderung ganz kurzfristig. Warum gibt es keinen wöchentlichen Newsletter an alle Freiwilligen? Zweitausend Fachleute haben sich gemeldet. Mit einem Computer wäre die Verwaltung unserer Adressen und unser planvoller Einsatz kein Problem gewesen.

[...] 21 Uhr. Rückfahrt. Viele auswärtige Deutsche wohnen bei Freunden. Der Rest und fast alle Ausländerinnen und Ausländer sind in einer städtischen Notunterkunft einquartiert, "Jugendherberge, aber nicht von heute, sondern wie früher", erzählt eine Schwäbin. Eng, spartanisch, am Wochenende gab es Probleme mit der Verpflegung, ich mag keine Einzelheiten mehr hören. Drei junge Archivarinnen aus W. haben ihre Chefin angerufen und das Übernachten in einer Pension durchgesetzt. Gut, dass ich das gleich so gemacht habe. [...]

Beim Sicherheitsdienst haben wir am Mittag eine Schweigeerklärung unterschrieben, nicht nur wegen des Datenschutzes: Die Stadt verbietet auch das "Verfassen eigener Presseartikel", das Fotografieren. Und alle Informationen an die Medien müssen ausdrücklich genehmigt werden.

An der Einsturzstelle führt die Feuerwehr jeden Mittag Medienvertreter herum. Das EVZ hingegen ist tabu. Die Rettung darf gezeigt werden, der Zustand des Geretteten nicht. Aus den Augen, aus dem Sinn - anders könnte die Stadtspitze wohl ihre Exkulpation nicht durchhalten,

Auch städtische Öffentlichkeitsarbeit findet praktisch nicht mehr statt. Die Archivare selbst sind blockiert: Bettina Schmitt-Czaia, die bedauernswerte Direktorin des Stadtarchivs, muss der Stadt ein neues Haus abverhandeln und ist auf ihr Wohlwollen angewiesen.

Nur: Die Strafe ist auf Jahre nicht vorbei. Sie steckt in Kartons, Plastikwannen, Gitterboxen. Und es werden immer mehr.

Nach einer kurzen Osterpause haben Feuerwehr und Technisches Hilfswerk die Arbeit an der Einsturzstelle in der Severinstraße wieder aufgenommen. Unterstützt werden die Helfer diese Woche von Kräften der Freiwilligen Feuerwehr Aachen. Der Trümmerberg wird täglich kleiner. „Es könnte sein, dass wir Ende Mai fertig sind“, sagte Feuerwehrsprecher Günter Weber, schränkte aber ein: „Wir wissen nicht genau, wie weit es noch in die Tiefe geht.“

Um die Beschaffenheit des Bodens zu klären, setzten die Arbeiter am Dienstag einen speziellen Bohrer ein, der Gesteinsproben aus 50 Metern Tiefe an die Oberfläche förderte. „So kann man zum Beispiel herausfinden, ob da unten noch Trümmerteile liegen“, berichtete Weber. Unterdessen begannen Bagger auf der Rückseite des ehemaligen Stadtarchivs, Gebäudereste des Lesesaals und des Verwaltungstraktes abzureißen.

Gisela Fleckenstein, die Leiterin der Abteilung Nachlässe und Sammlungen, zeigte sich erfreut: „Ganz ehrlich: Als ich den Trümmerberg zum ersten Mal gesehen hatte, hätte ich nicht gedacht, dass wir so viel retten können. Unser Archiv lebt noch!“

Fast die Hälfte der ehemals 30 Regalkilometer Archivalien sei inzwischen geborgen, allerdings in unterschiedlicher Qualität. „Es sind auch feuchte Akten dabei, die schon Schimmel angesetzt haben“, sagte Fleckenstein. Diese Schriften werden tiefgefroren, die besser erhaltenen in eine Lagerhalle nach Porz transportiert. „Es wird wohl noch Jahre dauern, die Akten zu restaurieren und so sortieren“, sagte Fleckenstein. „Die einzelnen Bestände sind ja völlig durcheinander geraten.“


http://www.ksta.de/html/artikel/1239718856454.shtml

Andreas Rossmann besuchte die Bergungsarbeiten in Köln und berichtet in der F.A.Z., 14.04.2009, Nr. 86, Seite 27:

Zettels Trauma oder Wenn Papier um Hilfe schreit

Fetzen, Brösel, Schutt: Sechs Wochen nach dem Einsturz des Historischen Archivs entsteht außerhalb von Köln eine Notfallambulanz für Archivalien. Ein Besuch im zerstörten Gedächtnis der Stadt.

[...] In der Lagerhalle, einem monströsen Containerbau armseligster Zweckarchitektur, wurde das "Erstversorgungszentrum" eingerichtet: Hierher werden alle Schätze, die aus der Unglücksstelle geborgen werden und sich nicht mit Baumaterial oder Möbeln verklumpt haben, gebracht, um gesichtet, grob gereinigt, registriert und erstbegutachtet zu werden. Eine riesige Notfallambulanz für Archivalien, in der, was dringender Hilfe bedarf, sofort versorgt oder zum Spezialisten überwiesen wird.

Zwischenstation Niemandsland. Die Lagerhalle liegt im Kölner Süden, wo die Stadt ausfranst und sich Auto- und Möbelhäuser, Büroparks und bescheidene Siedlungen zwischen landwirtschaftlich genutzte Felder fressen. Nicht einmal die Domtürme sind noch zu erblicken, Köln sieht hier aus wie überall. "Bitte berücksichtigen Sie in Ihrer Berichterstattung, dass das Gebäude für die Öffentlichkeit weiterhin nicht auffindbar sein darf und insoweit Ihre Beschreibung des Ortes hinreichend unscharf sein muss", hatte der Pressesprecher des Kulturdezernats mit auf den Weg gegeben, an dessen Ziel "der Sicherheitsdienst Sie in Empfang nehmen" wird. Der wartet, dunkelblau uniformiert, in einem Kabuff im ersten Stock, in das eine frei stehende Metalltreppe steigt. "Absolutes Foto-Verbot!" und "Ab sofort ist aus Sicherheitsgründen mit Taschenkontrollen zu rechnen!" rufen Plakate von den Wänden. Jeder Besucher muss sich ein- und wieder austragen sowie eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. "Für Journalisten gilt das natürlich nicht", doch dürfen freiwillige Helfer nur in Anwesenheit des "Archivars im Dienst" befragt werden. Ein Security-Mitarbeiter weicht der Gruppe nicht von den Fersen.

Szenenwechsel. Der Unfallort am Waidmarkt, knapp sechs Wochen danach. Über der Stelle, wo bis zum 3. März das Archiv stand, und auf dem Straßenstück spannen sich, von einem Stahlgerüst getragen, zwei große Zeltdächer mit flachen Giebeln, um den Regen abzuhalten. In Nord-Süd-Richtung fällt das, was von dem Gebäude und seinem Inhalt übrig geblieben ist, von etwa vier Meter über dem Straßenniveau hinunter auf sechs Meter Tiefe: ein Steilhang aus Stahlbetonträgern, Zementbrocken, Ziegeln, Schutt, Erde, Sand, Rohren, Kabeln, Metallschränken, Kartons, Regalbrettern, Heizkörpern, Teppichresten und eben auch Archivalien in ganz unterschiedlichem Zustand. Archäologie der Gegenwart.

Nur Feuerwehrleute, zu ihrem eigenen Schutz angeseilt, falls der Geröllberg nachgeben sollte, dürfen Archivalien sichern. Je sechs bis acht von ihnen stehen an der obersten und untersten Stelle, wo Bagger die größten Brocken zerkleinern. Was sie mit den Händen herausholen können, legen sie in graue Pappkartons, die ihnen zugereicht werden. Diese werden beladen und nach oben getragen, wo Archivmitarbeiter sie in Empfang nehmen. Unter dem aufgeständerten Quertrakt des Friedrich- Wilhelm-Gymnasiums haben sie eine provisorische Aufnahme eingerichtet: Eine Untersuchung zur "Beförderung der Obstbauzucht" aus dem Jahr 1838 landet hier neben einer frühneuzeitlichen Urkunde, ein Leitzordner des Bundes der Vertriebenen neben Reichstagsprotokollen. Karton auf Karton wird gefüllt und auf Lastwagen gehoben, die täglich zehn, elf Ladungen ins Erstversorgungszentrum bringen.

Szenenwechsel. Was im Erstversorgungszentrum ankommt, tritt den mehr oder weniger langen Weg der Rekonvaleszenz an. Doch nicht alle Archivalien finden direkt hierher. Einzelne Stücke bleiben im Bauschutt hängen und sind zunächst so verborgen, dass sie in die Schuttsortierhalle geraten. Zwei Fußballfelder groß erstreckt sich in Grau und Braun eine Brache, auf der Materialien getrennt werden: Steine, Erde, Metall, Kunststoff, Holz werden zu Haufen geschichtet und von Archivresten befreit. Oft sind es nur einzelne Seiten, Ausschnitte, Kladden, Fotos, Fetzen, die mühsam herausgelöst werden. Staub hängt in der Luft, es riecht modrig. Die zehn, zwölf Menschen, die hier schuften, in der Mehrzahl Ein-Euro-Jobber, tragen Atemmasken und möchten nicht fotografiert werden - ein Wühlen in Trümmern und Dreck, bei dem sie wie Schatzsucher auf kleine Trouvaillen stoßen. "Nomina Discipulorum Gymnasii trium coronarum anno MDCXXXIII" heißt es auf dem Titelblatt eines kleinen Buchs, das in zierlicher Handschrift die Namen von Schülern des Dreiköniggymnasiums auflistet.

Zurück im Erstversorgungszentrum. "Warenausgabe" steht über den Laderampen der fensterlosen Halle: Wo Möbel gelagert wurden, wird nun Archivgut angeliefert. Ein Aufzug hebt die Kisten ins erste Obergeschoss, wo sie ausgepackt werden. Auf einer Teilfläche sind mehrere Tische aneinandergereiht, an denen bis zu dreißig Helfer stehen und zunächst alles, was nass geworden und akut von Schimmelfraß bedroht ist, aussortieren, in Stretchfolie hüllen und in Gitterboxen legen. Ein-, zweimal am Tag geht eine Fuhre nach Münster, wo sie in Kühlhäusern eingefroren und gefriergetrocknet werden: "Die Stretchfolie hat den Sinn, dass beim Auftauen einzelne Akten herausgenommen werden können. Ohne Folie müsste man den ganzen Block auf einmal auftauen, und solch große Gefriertrocknungsanlagen gibt es nicht", erklärt Max Plassmann, der als Schichtleiter im Erstversorgungszentrum arbeitet und bis zu fünfzig Freiwillige koordiniert. Die Helfer tragen weiße Overalls, Latex-Handschuhe und Mundschutz, der "Archivar im Dienst" ein rotes, der Restaurator ein grünes, die Mitarbeiter des Archivs blaue T-Shirts. Die meisten Dokumente haben keine oder so geringe Feuchtigkeitsschäden, dass sie am Ort getrocknet werden können. An der Wand sind, von Hand geschrieben, die Handlungsanweisungen angeschlagen: Der Oberflächenstaub wird abgefegt, die Dokumente werden in blaue Plastikwannen gelegt oder, wenn sie stärker zerstört sind, eingewickelt oder in Mappen gesteckt, numeriert und elektronisch erfasst.

"Wir schmeißen grundsätzlich nichts weg", versichert Plassmann, der zuvor das Universitätsarchiv Düsseldorf leitete und erst zwei Wochen vor dem Einsturz nach Köln gewechselt ist: "Die Frage ,Lohnt sich das überhaupt?' stellen wir nicht, das wäre in Ruhe zu überlegen, dafür haben wir keine Zeit." Nur beschädigte Kartonagen wandern in den Abfall. "Auch die Frage, was früher und was später restauriert wird, kann erst entschieden werden, wenn die erste Bergungsphase abgeschlossen ist, wir wirklich den Überblick haben und die Schadensbilder kennen: Erst dann können wir eine systematische Restaurierungsstrategie entfalten." Noch aber ist die Severinstraße nicht komplett abgegraben, bis Ende Mai dürften sich die Arbeiten dort hinziehen, und noch ist nicht bekannt, ob und wie viele Archivalien ins Grundwasser gerutscht sind.

Bis in die dritte Etage rattert der Lastenaufzug, zu einem neonbeleuchteten Raum - ein Ort weitläufiger Unwirtlichkeit, in dessen Tiefen sich Stahlregale und Gitterwagen reihen, Kartons stapeln oder nur dunkle Leere gähnt. Gleich neben dem Aufzug ist ein Zelt abgehängt, in dem ein halbes Dutzend Bautrockner rattern: Die Koletten, wie die fahrbaren Paletten heißen, sind mit Einlegebögen nachgerüstet, auf denen aufgeblätterte Bücher, deren Feuchtigkeitsschäden so gering sind, dass sie nicht in den Gefriertrockner müssen. Die Luft wird angesaugt und mit einer Feuchtigkeit von nur dreißig Prozent wieder ausgeblasen: So ist das Papier innerhalb von vierundzwanzig Stunden trocken, die Dokumente können herausgeschoben und weiterbearbeitet werden. Eine Akte des Metropolitan Water Board der City of London vom 3. April 1955, wahrscheinlich aus einem Nachlass, liegt hier neben Teilen der Sammlung Alfter, Zeitschriften, genealogischen Schriften und Katalogen.

Robert Fuchs, der an der Fachhochschule Köln das Institut für Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft leitet, schaut immer wieder nach dem Fortgang der Arbeiten. "Im Moment", so schätzt er, "dürften die Kosten der Restaurierung den Wert der Materialien noch übersteigen." Doch derlei Überlegungen möchte er - "es gibt ja auch intrinsische Werte, die man nicht beziffern kann" - erst gar nicht vertiefen: "Der Restaurator denkt anders: Wenn ein Objekt um Hilfe schreit, nimmt er es sich als erstes vor; da ist es ganz egal, ob es sich um eine mittelalterliche Bibel oder eine Akte von 1945 handelt. Er sieht nur: Wenn ich warte, geht das kaputt." Abwägungsfragen dazu, was als Nächstes und womöglich zu wessen Lasten wiederhergestellt werden soll, müssen in den nächsten Jahren vieltausendmal beantwortet werden: Zu entscheiden sind sie von Archivaren und Restauratoren gemeinsam, und für Max Plassmann könnte es "ein Anknüpfungspunkt der Katastrophe sein, dass eine engere Verzahnung beider Bereiche stattfindet".

[...]

Der Weg der Archivalien durch das Erstversorgungszentrum endet in der Packstation, wo sie aus den blauen Plastikwannen geholt, noch einmal auf Feuchtigkeit überprüft und, sofern möglich, zu Einheiten zusammengestellt werden. Nur ganz wertvolle Schätze, Handschriften aus der Sammlung Wallraf, Schreinsbücher oder Pergamenturkunden, bleiben in Köln und werden dem Archiv des Erzbistums anvertraut. Alles andere wird in Kartons der richtigen Größe gepackt, die numeriert, im Computer erfasst, auf Paletten gesetzt, zum Transport freigegeben und in Archive gebracht werden, die freie Magazine zur Zwischenlagerung angeboten haben: ins Bundesarchiv nach Koblenz und St. Augustin, zur Friedrich-Ebert-Stiftung nach Bonn, ins Archivamt nach Brauweiler, in die Landesarchive in Münster und Detmold, aber auch weiter weg, bis nach Freiburg und Potsdam.

Wann was zurückkehrt und restauriert wird, wann die Bestände wieder unter einem gemeinsamen Dach sein werden und für den Bürger zugänglich sind, weiß niemand. Der Einsturz hat die Bestände durcheinandergequirlt und jede Ordnung aufgehoben. "Seriös kann noch niemand sagen, dass dieser oder jener Bestand komplett erhalten ist, bisher sind es nur einzelne Stücke oder Teile, aber wir freuen uns über jedes Exemplar, das auftaucht." So erteilt Max Plassmann voreiligen Rettungsmeldungen eine Absage. Zwanzig, womöglich dreißig Jahre, schätzt er, wird es dauern, bis das Archiv, auch wenn es viele Verluste hinnehmen musste, wieder so weit wiederhergestellt ist, dass es an die Zeit vor dem Einsturz anknüpfen kann. Erst dann wird der Kopf wieder auf dem Körper sitzen.


Text: http://tinyurl.com/c3qcgg

 

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